Kapitel 10 ✔️
Nachdem ich mich aufgefrischt hatte, schlich ich wieder nach unten. Unauffällig mischte ich mich unter die Gäste und schaute mich um. Unmengen an Gorillas mit ihren Frauen, einige sogar mit Kindern. Dann die Leute, die höher in der Rangordnung standen. Matteo gehörte meiner Einschätzung nach entweder zu diesen, oder war aus einem anderen Grund hoch angesehen. Sonst wären nicht so viele zu seiner Geburtstagsfeier gekommen.
Auf einmal bemerkte ich einen prüfenden Blick auf mir. Ich linste in die Richtung und zuckte innerlich zusammen. Matteos und Lucas Vater musterte mich ausführlich und lief nun auf mich zu, die Daumen in den Gürtelschlaufen seiner Hose eingehakt. Das sah mir verdächtig nach einem Gespräch mit dem Consigliere von Sergio Pensatori aus. Scheiße. Mein erster Gedanke war wegzurennen, aber das kam mir dann doch zu kindisch vor. Brav ergab ich mich in mein Schicksal. Aber nur ausnahmsweise.
„Folge mir." Er strahlte eine gewisse Autorität aus. Mehr noch als mein Onkel. Und doch gab seine warme, tiefe Stimme mir ein Gefühl von Sicherheit. Wir liefen zum Besprechungsraum und er gebot mir, einzutreten.
Ich musterte schnell die Einrichtung und nahm alles in mich auf. In meiner Branche war es überlebensnotwendig, auf jedes kleinste Detail zu achten. Der Parkettboden war aus einem dunklen Holz gefertigt und wirkte hochwertig. Die großen Stühle, die um einen riesigen, ovalen Konferenztisch standen, waren aus dunkelbraunem Leder. Auf einer Seite war in die Steinwand ein Bücherregal eingelassen. Dort befand sich ein halbes Dutzend breite Ordner, die ich gern mal durchgeblättert hätte. Ich zog es in Betracht, dass sich in ihnen ein paar nützliche Informationen für die Polizei versteckten. Durch die bodenlangen Fenster überblickte man meilenweit die einzige Zufahrtsstraße.
Ein Räuspern riss mich aus meinen Gedanken und wir ließen uns am Tisch nieder. Der Mafioso setzte sich mir direkt gegenüber, um mich genau im Auge zu behalten. Da kam wohl das nächste Verhör auf mich zu. Meine Schultern sackten etwas ab. Wie friedlich wäre es nun in meinem kleinen Reihenhaus!
„Da mein jüngerer Sohn dich vorhin in seinem Übermut verschreckt hat, wollte ich nun in Ruhe mit dir reden. Ich bin übrigens Lorenzo Calieri."
Verschreckt war gut. Moment, das war die Gelegenheit, es gegen Luca zu verwenden.
„Ich heiße Angela Miller. Und ja, Luca hat mich erschreckt", erwiderte ich stockend mit leiser Stimme. „Ich kenne ihn erst seit Dienstag. Wir sind nicht zusammen. Ich bin nicht so ein Mädchen." Absichtlich legte ich eine negative Betonung auf den letzten Teil des Satzes. Lucas Vater nickte zustimmend. Den hatte ich so gut wie in der Tasche. Innerlich klopfte ich mir anerkennend auf die Schulter.
„Ich möchte darauf hinweisen, dass mein Sohn sich normalerweise gesitteter verhält. Aber darüber wollte ich mich gar nicht mit dir unterhalten." Er betrachtete mich seelenruhig und kratzte sich am Nacken, bevor er fortfuhr. „Wie du vielleicht schon erfahren hast, wurde vor dreizehn Jahren die Cousine von Emiliano und Giulia entführt. Sie war zu dem Zeitpunkt fünf Jahre alt. Sie und Giulia sahen einander verblüffend ähnlich." Ich nickte, denn einen Teil hatte ich schon von meiner Freundin erfahren. Vor dreizehn Jahren, zu der Zeit als ich meine Eltern verlor. Dann hatte ich außer dem Aussehen noch etwas mit dieser Angelina gemeinsam. Zu meiner Familie gehörten nur Menschen, die gegen das personifizierte Böse, die Mafia, kämpften.
Ich war eine Hudson, keine Pensatori. Und das würde ich diesem Lorenzo mit meiner erfundenen Familiengeschichte beweisen. Ich gehörte nicht zu ihnen, sondern zu der hellen Seite der Macht. Wenn ich dafür auf Lügen zurückgriff, war das in meinen Augen völlig gerechtfertigt. Die Geschichte hatte Onkel Sam sich für die Mission ausgedacht. Und ich hatte sie mit Sicherheit wenigstens einhundert Mal im stillen Kämmerlein runtergebetet. Jedes noch so kleine Detail war mir so vertraut, als ob es zu meinem Leben gehörte.
„Mein Name ist Angela Miller. Ich bin achtzehn Jahre alt und wurde in Brunswick, Ohio geboren." Eine mickrige Stadt südlich von Cleveland mit knapp vierunddreißigtausend Einwohnern, in der ich aufgewachsen war. Fast sieben Stunden Autofahrt von Philly entfernt.
„Meine Eltern waren Sophie und Adam Miller. Sie starben vor einem Jahr bei einem Autounfall. Ein Unbekannter hatte ihren Wagen gerammt." Ich hielt kurz inne und zwang eine Träne aus meinem Auge. Verdammt war ich gut. Das umfangreiche Training zahlte sich aus. „Weil ich die mitleidigen Blicke der Nachbarn nicht mehr ertragen habe, bin ich vor zwei Wochen nach Philadelphia gezogen, um dort die High-School zu beenden."
Lorenzo hatte mir regungslos zugehört. Seine Miene war mitfühlend, aber nicht überrascht. Ich schloss daraus, dass die Pensatori in den vergangenen Tagen umfangreiche Recherchen betrieben hatten. Nur weil ich Giulia ähnlich sah. Ich seufzte leise.
„Weißt du schon, was du nach der High-School machen wirst?", fragte der Consigliere mich nun mit seiner tiefen beruhigenden Stimme.
„Vermutlich irgendwas studieren." Ich zuckte absichtlich mit den Schultern und kaute auf meiner Unterlippe.
Dabei kam nur eins für mich in Frage, Kriminologie oder Forensik. Auf jeden Fall etwas, womit man Verbrecher bekämpfte. Moment, das war es. DAS konnte ich Luca erzählen, damit er mich in Ruhe ließ. Da er in mich verknallt war, würde er es den anderen mit Sicherheit verheimlichen. Es gab zwar ein kleines Restrisiko, aber das nahm ich in Kauf.
„Wenn du Wirtschaft oder Informatik nimmst, kannst du für die Familie arbeiten." Ein erwartungsvoller Blick, der mich innerlich erschaudern ließ. Erwarteten die Mafiosi ernsthaft, mich auf ihre Seite zu ziehen?
„Ich werde darüber nachdenken. Danke für das Angebot." Haha, auf gar keinen Fall. Ich war doch nicht bescheuert.
„Dann hätten wir das besprochen. Gehen wir zurück zu den anderen." Wir standen auf und liefen zur Tür, die Lucas Vater galant für mich öffnete. Zuvorkommend waren die Italiener ja. Dennoch hämmerte ich mir ein, dass es alles nur verabscheuungswürdige Verbrecher waren.
Ich bedankte mich höflich für das Gespräch und überlegte, wohin ich mich am besten zurückzog. Luca zu begegnen, stand vorläufig nicht auf meiner Wunschliste. Stirnrunzelnd sah ich mich um. In Haus und Garten wimmelte es nur so von Mafiosi. Einem Einfall folgend lief ich die Treppe hoch und öffnete die Tür zur Bibliothek. Absolute Stille. Perfekt.
Als Alibi holte ich mir Die Schatzinsel aus dem Regal und kuschelte mich in eine Ecke des Ledersofas, das einladend in der Mitte des Raumes stand und buchstäblich auf einen Leser gewartet hatte. Das Buch legte ich fürs Erste auf meinen Schoß.
Wie würde ich Luca am einfachsten los? Hier auf der Feier erzählte ich es lieber nicht. Das war zu gefährlich, falls jemand mithörte. Aber es sprach nichts dagegen, es ihm zu sagen, nachdem er mich wieder zuhause abgeliefert hatte. Da hatte er dann die perfekte Möglichkeit sich zu verziehen und mich in Ruhe zu lassen. Das gefiel mir. Zufrieden grinsend tauchte ich in die Welt von Jim Hawkins ein und fieberte bei seinen Abenteuern mit.
Gerade als der blinde Pew über den Haufen geritten wurde, hörte ich Schritte, die sich mir näherten. Ich richtete meinen Oberkörper auf, doch bevor ich die Chance hatte, mich umzudrehen, saß der Störenfried schon hinter mir. Ein bronzefarbener Männerarm schlang sich um meine Taille und zog mich an eine durchtrainierte Brust. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Da saß doch nicht etwa, nein, das bildete ich mir nur ein!
„Lies ruhig weiter", sagte eine mir bekannte tiefe und angenehme Stimme.
Oh mein Gott. Er war es doch. Durfte seine Tarnung überhaupt auffliegen? Egal. Ich versuchte, seine Nähe zu ignorieren, und konzentrierte mich wieder auf die Geschichte.
Keiner von uns sagte ein Wort. Doch die Stille war mir nicht unangenehm. Sie hatte etwas Beruhigendes. Genauso wie die gleichmäßige Atmung des Mannes hinter mir. Die Situation wirkte so vertraut, obwohl ich nie etwas dergleichen erlebt hatte. Mein Puls kehrte zu seinem Ausgangspunkt zurück und ich träumte mich wieder weg auf die Schatzinsel.
Einige Zeit später hörte ich erneut Schritte auf dem Holz hallen. Hatte man hier nie seine Ruhe? Bedauernd senkte ich das Buch. Der neue Störenfried räusperte sich.
„Kannst du bitte mal mitkommen? Und Angie, du solltest dich langsam aber sicher unten blicken lassen. Luca ist kaum noch zu bändigen."
„Sag ihm, ich hab ein Rendezvous mit Long John Silver, der mit mir über die sieben Weltmeere segeln will", erwiderte ich, ohne mich umzudrehen. Ich wollte nicht wahrhaben, wer mich im Arm hielt und mir dieses Gefühl von Geborgenheit gab, während ich an seiner Brust lag. Die nun wohlbemerkt vor Lachen vibrierte. Mario stimmte mit ein.
„Ich kann Luca auch gern zu dir schicken. Dann könnt ihr etwas Zeit allein verbringen."
„Sadist", zischte ich, wobei ich mir vorstellte, wie ich ihm einen Kinnhaken verpasste.
Das Vibrieren nahm zu, doch dann wurde mir meine Wärmequelle, meine Rückenstütze entzogen. Erst als seine Schritte verklangen, drehte ich mich zu Mario um.
„Kannst du nicht einfach sagen, dass du mich nicht gefunden hast?"
„Du magst den Trubel wirklich nicht, oder?" Mario seufzte. „Na gut, weil du es bist. Aber heute Abend schuldest du mir einen Tanz."
„Wenn du keine Angst um deine Füße hast", erwiderte ich zuckersüß lächelnd. Ich konnte tanzen. Das hatte mir mein Onkel aufgebrummt, aber ich hasste es abgrundtief wegen der Nähe, die damit einherging.
„Ich werde es überleben, Signorina." Er grinste und ließ mich allein zurück.
Ich atmete tief durch. Mein Onkel würde mich zurechtstutzen, wenn er das hier erfuhr. Ich benahm mich wie ein kleines trotziges Kind, das sich versteckte, anstatt mich um die Mission zu kümmern. Ich würde sie alle verraten müssen. Der Gedanke versetzte mir einen Stich in den Magen. Nicht einmal eine Woche kannte ich Giulia und die Jungs. Trotzdem waren die meisten mir schon ans Herz gewachsen. Das konnte nicht gut ausgehen.
Ich schüttelte betrübt den Kopf. Dann starrte ich auf das Buch, das ich umklammert hielt, als ob mein Leben davon abhinge. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, die Hispaniola war gerade vor Anker gegangen. Ich suchte die Stelle und las vergnügt weiter. Alles besser, als über meine trostlose Lage nachzudenken.
Jim hatte sich just in dem Moment die kleine Nussschale von Ben Gunn geliehen, um zur Hispaniola zu paddeln, da wurde ich abermals unterbrochen. Ich schaute fragend hoch. Dieses Mal tauchte das vorwurfsvolle Gesicht von Luca vor mir auf. Ich schluckte leer. Jetzt hatte er mich doch gefunden.
„Gehst du mir etwa aus dem Weg?" Der traurige Klang seiner Stimme versetzte mir einen kleinen Stich.
„Ähm, ja." Ich senkte errötend den Blick. Wieso wurde ich denn schon wieder verlegen? Ach ja, weil ich die Mission vernachlässigte. Lag mit Sicherheit nicht an dem enttäuschten Gesichtsausdruck eines verdammt heißen Mafiosos, der sein übliches Machogehabe abgelegt hatte.
„Würdest du mir bitte verraten warum?" Er griff meine Hand und streichelte sanft darüber. Wieder dieses verflixte Kribbeln. Also doch eine Allergie!
„Können wir das bitte auf morgen vertagen, wenn ich wieder zuhause bin?", fragte ich leise. Dies war nicht der richtige Ort für das Gespräch, das uns beiden bevorstand. Luca sog scharf die Luft ein, dann atmete er tief aus.
„Meinetwegen, aber dann kommst du jetzt mit in den Garten. Ist auch nicht mehr so warm draußen."
Ich nickte und stand auf. Liebevoll legte ich das Buch auf den kleinen Tisch neben dem Sofa.
„Vielleicht bis später Jim", murmelte ich. Luca sah mich an, als ob ich nicht alle Tassen im Schrank hätte. Dann schüttelte der schmunzelnd den Kopf.
„Giulia meinte übrigens, sie hätte ein Kleid für dich in eurem Zimmer bereitgelegt. Falls du es anziehen möchtest, würde ich solange warten."
„Nee, ich trage nicht so gern Kleider. Darin fühle ich mich immer unwohl." Und das war ein Fakt!
„Schade", murmelte er so leise, dass ich es fast nicht hörte. War ja klar, dass er das gern gesehen hätte. Meine Abneigung gegen seine Nähe stieg wieder an.
Wir liefen zusammen in den Garten und Luca verzichtete zu meiner Erleichterung auf Körperkontakt. Gab ihm wohl doch zu denken, dass ich mich vor ihm versteckt hatte. Das klappte besser als erwartet.
„Bist du auch mal wieder da?" Giulia hakte sich mit einem leicht vorwurfsvollen Blick bei mir ein.
„Ja, ich hatte ein heißes Rendezvous mit Jim auf der Schatzinsel. Aber leider wurde ich dabei gestört."
Emiliano stöhnte gespielt auf. „Ich glaube, ich geh besser mal die Bibliothek abschließen."
„Wag es ja nicht", zischte ich ihm zu.
„Genau Emiliano. Der arme Jim kann doch nichts dafür, dass er attraktiver ist als mein kleiner Bruder." Matteo zwinkerte mir frech zu, während Luca empört schnaufte.
„Geht das schon wieder los." Giulia zog mich von den Jungs weg zum Essen. Und das sah köstlich aus. Bei dem Anblick allein fing ich fast an zu sabbern. Die Italienerinnen hatten sich selbst übertroffen.
An Snacks entdeckte ich Tomaten-Bruschetta mit Basilikum, Pizzettas, Tomate-Mozzarella-Spieß umwickelt mit Schinken, Forellentramezzini, Focaccia mit Tomaten, Tomaten-Mozzarella-Salat und einen italienischen Thunfisch-Salat .
An Süßem gab es Toskanische Cantuccini, Tiramisu, Melone mit Ricotta, Panna Cotta und Zabaione. Dazu diverse frische Obstsorten.
Bei den warmen Gerichten fand man, wie zu erwarten Lasagne, Involtini, Ossobuco, Saltimbocca und einige Speisen, die ich nicht kannte.
Drei Stunden später lag ich vollgefuttert auf einer Liege im Garten, obwohl es bereits dunkel war. Giulia hatte sich vor einiger Zeit irgendwohin verzogen. Jetzt zählte ich aus einer Laune heraus die Sterne am klaren Nachthimmel. Man sah sie hier weitaus besser als in der Stadt.
Ich kuschelte mich in die Decke ein, die Mario mir gebracht hatte. Viele Gäste waren mittlerweile im Haus verschwunden, so dass es hier draußen herrlich leise war. Meine Augenlider wurden immer schwerer und fielen irgendwann zu.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top