Wir kratzen Wunden auf, die nicht mehr heilen


Mit einem gebrochenem Herz, aber trotzdem lächelnd, winkte ich Lukas zu, der mit dem Auto seiner Mama einmal um die Ecke bog, sodass ich dieses nicht mehr sehen konnte. Ich seufzte leise, strich mir die verlorene Träne aus dem Gesicht und ging zur Haustür.
Lukas und ich hatten die restliche Zeit knutschend und kuschelnd auf der Hollywood-Schaukel verbracht. Wir hatten uns gegenseitig gestreichelt, uns lächelnd in die Augen gesehen und einfach die Nähe des Anderen genossen.
Auch wenn ich anfangs meine Bedenken hatte, hielten die Stimmen in meinem Kopf ihre Klappe. Sie ließen mir die Ruhe, die ich brauchte, sodass ich die Zeit mit Lukas vollständig genießen konnte.

Kein einziges Mal musste ich an die Schule und meine gefährdeten Abschluss denken. Wenn ich kurz davor war, wieder daran denken zu müssen, hatte ein Blick in sein wunderschönes Gesicht gereicht und alle Gedanken waren vergessen.
Es fiel mir schwer, mich von Lukas verabschieden zu müssen. Ich wusste, dass ich irgendwann auch alleine klar kommen musste und nicht immer jemand für mich da sein konnte, aber gerade jetzt brauchte ich ihn mehr denn je.
Lukas hatte alles darangesetzt, seine Mama überreden zu können, noch etwas länger zu bleiben, aber diese wollte dringend nach Hause. Er hatte natürlich gemerkt, dass mir das nicht sonderlich gefiel und sofort versichert, dass wir uns morgen schon wieder sehen könnten.

Der Gedanke daran, Lukas morgen wieder in meinen Armen halten und küssen zu können, machte den Abend etwas Erträglicher. Ich konnte es kaum noch erwarten, ihn endlich wieder bei mir zu haben.
Es ist unglaublich, was dieser Junge aus mir gemacht hatte. Ich hatte keinen Plan, wie Lukas das schaffte und was genau meine Psyche davon abhielt, ausnahmsweise mal nicht komplett am Rad zu drehen.
Nach solch einem wichtigen, aber auch harten Gespräch, befand ich mich meistens am Rande der Verzweiflung  und da reichte nur ein falscher Blick oder ein Wort, das mir nicht passte und alles ging den Bach herunter.

Nicht selten hatte ich mich nach diesen Gesprächen im Zimmer eingeschlossen. Aus Schutz vor mir selbst und vor allen anderen, weil ich niemanden verletzen und mit meinen Handlungen enttäuschen wollte.
Es konnte keiner was dafür, es ist noch immer meine eigene Schuld. Wenn es da jemanden gab, auf den ich sauer sein sollte, reichte nur ein Blick in den Spiegel - soweit dieser dann auch heil blieb.
Ich schüttelte die Gedanken von mir ab und ging in die Küche, um mir einen kleinen Snack zu holen. Ich durchsuchte unsere Süßigkeiten-Schublade, entschied mich aber ungewöhnlicherweise doch für eine Banane aus der prall gefüllten Obstschale.

,,Oh, ist Lukas etwa schon weg?'', kam Mama verwundert in die Küche getreten.
,,Er hat dir doch Tschüss gesagt und einen schönen Abend gewünscht. Hast du das nicht mitbekommen?'', fragte ich mit vollem Mund und musste lachen.
,,Oh Gott, tut mir leid, mein Schatz, ich bin viel zu versunken in diesen Computer gewesen.'', entschuldigte sie sich etwas erschrocken, aber ich winkte gelassen ab.
,,Alles gut.''

,,Aber du weißt, dass das heute nur eine Ausnahme gewesen ist.'', ergriff meine Mama plötzlich belehrend das Wort, als ich die Banane verputzt hatte und gerade zur Nächsten greifen wollte.
,,Was meinst du?'' Hatte sie etwa doch was gegen Lukas? Sollten wir uns nicht so oft treffen?
,,Das mit dem Schwänzen. Das ist heute nur gewesen, weil das Gespräch war. Wir dürfen das nicht wieder zur Gewohnheit werden lassen. Du hast es dir gerade abgewöhnt.'', erklärte sie mir und sah mich etwas ernster an.

,,Ah, gut, dass du's sagst, ich wollte mir morgen nämlich die ersten beiden Stunden freinehmen.'', erwiderte ich ironisch und zickiger, als es eigentlich klingen sollte. Ich wusste, dass sie es nicht böse meinte, aber es ist nicht so, dass ich mich nicht schon längst gebessert hatte.
,,Ich wollte es nur nochmal gesagt haben. Du weißt, dass man schnell in alte Gewohnheiten zurückfallen kann, wenn man erstmal wieder in den Genuss gekommen ist. Das ist nicht in Ordnung.'', sagte sie vielsagend und warf einen Blick auf meine Arme.
,,Soll das etwa eine Anspielung auf etwas sein, oder wie darf ich das bitte verstehen?!'' In meiner Magengegend grummelte es unangenehm und ich musste mich davor beherrschen, nichts überkochen zu lassen.

 ,,Oh Gott, nein! Aber du hast gehört, was dein Lehrer heute alles gesagt hat. Wenn du jetzt wieder mit dem Schwänzen anfängst, bist du schneller von der Schule, als du das Wort überhaupt buchstabieren kannst. Du musst da wirklich aufpassen.''
,,Oh wow, das zeigt ja mal wieder, wie viel Vertrauen du in mir hast! Willst du mich am Besten gleich an den Stuhl ketten und mir 'nen Bodyguard besorgen, damit ich nicht abhaue?! GPS einpflanzen?!'', wurde ich etwas lauter und Mama zuckte erschrocken zusammen.
,,Timi Schatz, so habe ich das nicht gemeint. Ich wollte dir das nur nochmal gesagt haben, mehr nicht. Ich wollte nichts Böses.'', verteidigte Mama sich etwas ängstlicher und drückte sich näher an die Küchentheke heran.

,,Denkst du, ich habe es nicht selbst begriffen?! Ich habe verstanden, was für mich auf dem Spiel steht! Du musst mir nicht ständig hinterherrennen und mir sagen, was richtig für mich ist und was nicht. Ich bin kein kleines Kind mehr!''
,,Das weiß ich, mein Schatz. Ich meinte das auch nicht böse und wollte dich damit auch nicht verletzen.'', versuchte Mama beruhigend auf mich einzureden und trat auf mich zu, um mir zärtlich über die Schulter zu streicheln.
,,Lass' mich in Ruhe, man! Spar' dir deine Kommentare, ich weiß ganz genau, wie du das gemeint hast! Hör' auf mit den Ausreden!'' Ich schlug ihre Hand weg, sah sie mit funkelnden Augen an und Mama zuckte verunsichert zusammen.

,,Was willst du von mir, verdammte Scheiße? Wieso musst du mir auch noch Zuhause unter die Nase reiben, dass meine Zukunft keinen Sinn hat? Sei doch froh, wenn ich von der Schule fliege, dann bist du mich endlich los!'', meckerte ich sie hasserfüllt an.
,,Insgeheim hast du dir doch eh ins Fäustchen gelacht, als du all die Sachen gehört hast. Wahrscheinlich hast du doch auch noch geschämt, sowas Dämliches in die Welt zu setzen! Aber komm', schmeiß' mich schon raus, ich habe eh nichts zu verlieren!''
,,Tim, ich...''
,,Nein, halt deine Schnauze, ich will deine Ausreden nicht mehr hören! Gib' ruhig zu, dass du mich hasst und mich lieber in die Babyklappe gesteckt hättest! Was ein Pech, dass das nicht mehr geht, da bist du 18 Jahre zu spät auf die Idee gekommen!'' Ich trat näher auf Mama zu und sie begann leicht zu zittern.

,,Ich werd' den Schulabschluss nicht schaffen und dann bist du mich endlich los. Das, was du schon immer wolltest! Es tut mir leid, dass ich dein Leben zerstört habe!'', schrie ich ihr mitten ins Gesicht.
Sie zittere stärker, sah mich mit schockierten Augen an und eine Träne rollte ihr über die Wange. Ich stieß sie zur Seite und rannte die Treppen rauf, weil ich nichts und niemanden mehr sehen wollte.
Ich wollte raus hier. Ich wollte am liebsten für immer weg von hier. Irgendwohin, wo mich niemand kannte und ich ein ganz neues Leben anfangen könnte, ganz ohne Vorurteile, Probleme und Sorgen. Ein glückliches Leben...

Ich öffnete die Tür meines Zimmers, sah mich in diesem um und griff nach meinem Rucksack. Ich holte alle Schulbücher, die ich die letzten Wochen mit mir mitgeschleppt hatte, aus diesem heraus.
Völlig hasserfüllt und mit Tränen in den Augen, sah ich mir diese an. In diesen Büchern stand so viel Wissen und Dinge, die ich für später brauchte, die ich für meine Zukunft brauchte. Informationen, die ich sowieso nicht in meinen verdammten Kopf kriegen würde.
,,Fickt euch!'', schrie ich und knallte das erste Buch gegen die Wand, während ich das Andere in Einzelteile zerriss. Wie ein Verrückter schlug ich auf den Buchrücken ein und holte auch meine Hefter heraus, die ich mir extra angelegt hatte.

Ich hatte mir diese zusammen mit Lukas gekauft. Mama hatte mir etwas Geld gegeben und zusammen hatten wir uns nach der Schule im Schreibwarenladen umgesehen, um alles zu kaufen, was ich benötigte.
Bei mir Zuhause hatten wir sie dann sorgsam angelegt und alle Blätter, die ich im Laufe der Zeit nur in einem zerfetzten Block gesammelt hatte, ordnungsgemäß eingeheftet, gelocht und zusammengetackert.
Sogar ein Hausaufgabenheft hatten wir mir gekauft, damit ich nichts mehr vergessen konnte und einen Überblick über alles hatte, was in nächster Zeit anstehen würde. Keine faulen Ausreden mehr, dass ich es nicht hätte wissen können.

Aber das würde alles nichts bringen. Ich werde meinen Schulabschluss nicht schaffen, niemals. Wozu sollte ich mir auch die Mühe machen? Am Endes des Tages würde es eh nicht reichen und mal wieder stand ich mit leeren Händen da.
Ich würde alle enttäuschen und mein Papa würde nur lachend daneben stehen, um allen zu zeigen, dass er es schon immer vorausgesehen hatte. Hätte Mama auf ihn gehört, würde es ihr nicht so schlecht gehen.
Ich griff nachdem Chemiehefter, öffneten diesen und riss alle Blätter heraus, die sich in diesem befanden. Ich zerknüllte diese, trampelte auf den Boden und zerstörte sie so sehr, dass ich sie als Konfetti in die Luft werfen konnte.

Ich wollte von dieser ganzen Scheiße nichts mehr hören. Der heutige Tag hatte mir bewiesen, wie meine Zukunft aussehen würde - Mit 40 immer noch Zuhause bei Mutti wohnend und Hartz IV beziehend.
Ich bekam nichts geschissen und selbst meine eigene Mutter hatte mir gerade gezeigt, dass sie nicht daran glaubte, dass es etwas werden würde. Hätte sie wirklich Hoffnung in mich, hätte sie mir schließlich nicht so eine Ansage gemacht.
Mittlerweile ist mir bewusst, was für mich auf dem Spiel stand, schließlich bin ich auch bei dem Gespräch dabei gewesen und hatte aufmerksam zugehört. Mir dann so etwas unter die Nase zu reiben, fand ich sehr unangebracht und es verletzte mich, wie sie über mich dachte.

Wenigstens von ihr hatte ich etwas mehr Haltung erwartet. Von mir aus konnte jeder Mensch dieser fucking Welt auf meine Träume scheißen und mich dafür auslachen, aber wenigstens meine Mutter sollte an mich glauben.
Es würde nicht leicht werden, das ist allen Beteiligten klar. Ich hatte einen harten Weg vor mir und musste versuchen mit den Steinen, die mir in diesen gelegt wurden, irgendwas halbwegs vernünftiges zu bauen.
Aber das schaffte ich nur, wenn auch andere an mich glaubten. Wenn meine Mama mir versicherte, dass sie hinter all dem stand und sich auch vorstellen könnte, dass ich das packen würde.

,,Das ist alles scheiße!'', brüllte ich, kickte meinen Rucksack in die nächste Ecke des Zimmers und nahm einen Stapel Blätter, um diesen zu zerreißen, weil ich nicht wusste wohin mit dieser angestauten Wut. Ich könnte alles kaputt hauen!
Eine Träne nach der Anderen lief mir übers Gesicht und ich wusste nicht, wohin mit meinen Gefühlen. Vor einigen Minuten ging es mir noch so gut und ich hätte die Welt umarmen können. Aber jetzt lief alles aus dem Ruder.
Hatte ich es nicht gesagt? Das Gespräch hatte mich durch und durch gefickt und das auf so vielen Ebenen. Gerade erst baute ich mit meiner Mama ein gutes Verhältnis auf und im nächsten Atemzug brachte ich dieses aufgrund meines Kontrollverlustes ins Schwanken.

Ich gab dem Ganzen nicht mehr lange, denn diese Frau hatte all die Jahre viel zu viel für mich getan. Sie hatte mir aus sämtlicher Scheiße geholfen, mich immer verteidigt und alles Erdenkliche versucht, damit ich nicht ganz so tief fiel.
Und womit wurde ihr gedankt? Andauernd wurde sie von mir angeschrien, wenn sie mal nicht das sagte, was ich hören wollte. Ich schmiss mit Geschirr nach ihr oder warf ihr Dinge an den Kopf, die nichts mit der Wahrheit zutun hatten.
Ich bin ein Monster! Sie hatte nicht ohne Grund zu zittern und weinen angefangen. Ich wusste, was innerlich in ihr vorging und dass sie mich gerne angeschrien hätte, um mir zu sagen, dass ich immer mehr zu dem Abbild meines Vaters wurde.

Der Mann, der sie jahrelang terrorisiert und für jede Kleinigkeit die Hand gehoben hatte. Der sie an den Schultern gepackt, gegen die Wand gedrückt und minutenlang angebrüllt hatte, während ich zusammenkauernd unter der Bettdecke saß und mich nicht aus der Starre lösen konnte.
Immer wieder hatte ich mitbekommen, wie sie nach solch einer Aktion geweint und Pillen geschluckt hatte, um die Gedanken zu ertränken und den Schmerz etwas erträglicher zu machen. Wie sie trotzdem mit einem Lächeln auf den Lippen in mein Zimmer kam und mir versichert hatte, dass nichts vorgefallen wäre.
Dabei hatte ich mit eigenen Augen gesehen, was dieses Arschloch ihr angetan hatte und wenn ich genug Mut gehabt hätte, wäre ich jedes einzelne Mal dazwischen gegangen und hätte alle Schläge für sie eingesteckt. So ging niemand mit einer Frau um...

,,Du bist echt das Allerletzte! Sieh, was du angerichtet hast!'', schrie ich mich mit Tränen in den Augen selbst im Spiegel an und boxte einmal so stark gegen diese, dass er in kleine Einzelteile zersprang.
,,Fuck!'', zog ich scharf die Luft ein und hielt meine schmerzende Hand. Sie brannte höllisch und pochte stark, aber das hatte ich verdient. Hätte ich einmal im Leben richtig gehandelt, hätte es niemals soweit kommen brauchen.
Ich verzog das Gesicht und ließ mich auf dem Bett nieder. Da ich meine Hand zum Glück noch bewegen konnte, ließ ich die Schmerzen einfach über mich ergehen und ließ einige Tränen in die offene Wunde tropfen.

Die Schmerzen, die ich gerade spürte, kamen nicht mal im Ansatz an die heran, die tief in meinem Inneren in mir vorgingen. Ich wollte schreien und alles zusammenschlagen, gleichzeitig wollte ich mich unter der Decke verkriechen und mich so lange ausheulen, bis keine Träne meinen Körper mehr verlassen konnte.
Ich hasste mich. Dafür, dass ich meine Mama mal wieder verletzt und so enttäuscht hatte. Ich hätte wissen müssen, dass sie es gar nicht so böse meinte und wenn mir ihre Worte nicht gefielen, hätte ich das auch in einem ruhigeren Ton sagen können.
Doch leider konnte ich das nicht. Ich konnte nicht einmal ruhig und sachlich an eine Sache herangehen, die für mich sehr empfindlich ist. Ich konnte das nicht in einem normalen Ton zustande bringen, ohne von 0 auf 100 in binnen einiger Sekunden zu gehen.

Und wer konnte das auch nicht? Richtig, mein dreckiger Erzeuger. Der Kerl, der sich nur in Zimmerlautstärke mit uns unterhalten hat, wenn wir irgendwo zu Besuch waren und die heile Familie spielen mussten.
Kaum saßen wir im Auto, gingen die Beleidigungen von vorne los und es wurde uns der Reihe nach an den Kopf geknallt, was wir denn alles falsch gemacht hätten. Wenn wir Glück hatten, blieb es nur bei diesem verbalen Angriff.
Ich zitterte und begann zu schluchzen. Ich wollte nicht wie er werden, auf gar keinen Fall. Was ist, wenn ich irgendwann komplett die Beherrschung verliere und mir auch mal die Hand ausrutscht? Das könnte ich mir niemals verzeihen!

Heulend vergrub ich die Hände im Gesicht und wünschte mir, niemals geboren worden zu sein. Das Leben aller wäre so viel besser, wenn ich einfach nicht mehr da wäre. Niemand müsste sich mehr Sorgen um mich machen und sich um mich kümmern.
Meiner Mama würde es psychisch so viel besser gehen, wenn sie niemals mit mir schwanger geworden wäre. Sie hätte das perfekte Leben führen können, doch ich hatte alles zerstört. Ohne mich, hätte sie sich nicht nochmal auf meinen Vater eingelassen.
Mein Handy klingelte und ich löste die Hände von meinem Gesicht. Lukas rief mich an, doch sofort drückte ich ihn weg, weil ich ihm nicht noch mehr Probleme bereiten wollte. Er probierte es noch einige Male, in denen ich ihn immer wieder wegdrückte und mich schlussendlich unter der Bettdecke verkroch. Ich kann  nicht mehr!

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