Wie kann man jemand so krass vermissen?
Im Schneidersitz und mit angewinkelten Armen auf den Knien, auf denen ich meinen Kopf abstützte, saß ich betrübt auf dem Bett und verlor eine weitere Träne aus dem Augenwinkel. Sofort strich ich sie weg, als sie mir die Wange herunterlief und seufzte leise auf.
Seit mittlerweile zwei Stunden saß ich hier und wusste einfach nichts mit mir anzufangen. Ich fühlte mich so leer, erschöpft, verlassen und so, als hätte man mir etwas weggenommen, was mich einst am Leben gehalten hat.
Eigentlich hatte man genau das auch getan. Seit vier Stunden bin ich schon von Lukas getrennt und fühlte mich immer mehr wie das letzte Häufchen Elend. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit mir anfangen sollte und alles, was ich machen wollte, ergab ohne ihn keinen Sinn.
Mit verschwommen Augen sah ich mich im Zimmer um und blieb an der Sporttasche hängen, die ich eigentlich auspacken wollte. Doch aufgrund von Lukas' Shirt, welches vor mir auf dem Bett lag und auf dem schon einige Träne getropft waren, hatte ich sämtliche Motivation verloren.
Nach diesem grauenhaften Fund hatte ich mich nur auf den Boden zusammengekauert und die Heulattacke über mich ergehen lassen, weil Unterdrückung die Sache in den meisten Fällen nur noch schlimmer machte.
Wie ein Ertrinkender hatte mich an dem Shirt festgekrallt, verzweifelt in dieses geschluchzt und mir gewünscht, dass Lukas jetzt hier wäre, um mich in den Arm zu nehmen und mir zu sagen, dass Alles in Ordnung ist.
Dieses Kleidungsstück ist alles, was ich noch von ihm habe. Wenn ich mich an dieses kuschelte und die Augen schloss, fühlte es sich so an, als wäre Lukas direkt bei mir und all die negativen Gedanken drängten sich in den Hintergrund.
Aber kaum öffnete ich die Augen wieder, musste ich der bitteren Realität ins Gesicht sehen. Ich saß alleine in meinem viel zu großen Bett und Lukas, den ich vor einer Sekunde noch so nah bei mir gespürt hatte, ist hunderte Kilometer von mir weg.
Es brach mir jedes einzelne Mal das Herz, diese Erkenntnis zu gewinnen, aber ich konnte nicht anders. Dieser Duft, der von diesem T-Shirt ausging, ist mir einfach so vertraut und ließ mich wenigstens für eine Sekunde alles um mich herum vergessen.
Ich strich mir die Tränen aus dem Gesicht und wollte nicht, dass das Ganze schon wieder in einem schier endlosen Heulkrampf endete. Ich wollte nicht weinen und an was Schlechtes denken, denn eigentlich gab es keinen Grund dafür.
Lukas und ich hatten uns nicht getrennt, wir sind immer noch zusammen. Das einzige Problem, was sich unserer Beziehung gerade in den Weg stellte, war die Tatsache, dass morgen unser Alltag wieder losgehen würde und wir nicht die Chance dazu hatte, uns ständig zu sehen.
Aber trotzdem würde uns das an nichts hindern. Schließlich hatten wir es vor den Osterferien auch immer wieder geschafft, uns zumindest einmal die Woche zu sehen und standen ständig in Kontakt miteinander.
Ebendiese Worte versuchte ich mir schon seit Stunden einzureden, doch mein Kopf blockte diese gekonnt ab und setzte alles daran, um diese in einen negativen Gedanken zu verwandeln, an denen ich mich total aufhing und alles überdachte.
Ich sollte mir ruhig weiterhin einreden, dass das mit mir und Lukas je nicht klappen und wir uns nie wiedersehen würden. Dass Lukas jetzt schon die Erkenntnis gewonnen hatte, was für ein schrecklicher Typ ich eigentlich bin und er bald Schluss machen würde.
Wenn mein Kopf wollte, dass ich so dachte, würde ich es auch tun, weil er mich voll in der Hand hatte. Leider konnte man seine Gefühle und Gedanken nicht auszusuchen. Man konnte keinen Knopf drücken und 'Stop' sagen, es ging nicht. Die Stimmen würden nie leiser werden...
,,Wenn ihr einmal die Klappe halten würdet, wäre alles so viel besser!'', meckerte ich mit mir selbst und hielt mir die Ohren zu, in der Hoffnung, dass ich sie nicht mehr hören müsste und nichts mehr zu mir durchdringen könnte.
Ich fühlte mich wie irgendein kranker Psycho in einem abgefahrenen Horrorfilm, der kurz davor stand, einfach durchzudrehen. Aber genau so fühlte es sich auch an. Ich hatte Angst davor, dass in der nächsten Sekunde irgendwas in mir durchbrennen und ich komplett ausrasten würde.
Ständig hatte ich Angst vor mir selbst und davor, was als Nächstest kommen würde. Vielleicht mag man es mir nicht ansehen, aber innerlich war ich eine tickende Zeitbombe, die mit einer einzigen Berührung, oder einem falschen Wort in die Luft gehen würde.
Mittlerweile hatte ich mich und meine Gefühle sehr gut unter Kontrolle, aber als meine Eltern sich gerade frisch getrennt hatten, da gab es eine Zeit, da standen tägliche Ausraster, in denen ich alles kurz und klein gehauen hatte, an der Tagesordnung.
Nach der Trennung meiner Eltern hatte ich so viel Wut, Trauer und Frust in mir, dass manchmal nur ein falscher Blick meiner Mama gereicht hatte, sodass ich nach ihrer Kaffeetasse gegriffen und diese gegen die Wand geworfen und sie grundlos angeschrien hatte.
Ungerne erinnerte ich mich an diese Zeit zurück, denn ich wusste, dass meine Mama oft Angst vor mir hatte und oftmals auch zugesehen hat, dass sie aus der Wohnung kommt, bevor ich nach Hause kommen würde.
Es ließ mein Herz in tausend Teile zerspringen, wenn ich daran erinnert wurde, wie ich die Frau, die sich für mich vor eine Kugel schmeißen würde, einst behandelt hatte. Dass ich sie oft einfach so gepackt, gegen die Wand gedrückt und angeschrien hatte.
Mama hatte mir schon hunderte Male versichert, dass sie mir all das, was ich dort getan hatte, verziehen hätte, aber bis heute wollte ich mir selbst eine in die Fresse dafür hauen, sie so behandelt zu haben.
Natürlich ist die Trennung nicht leicht für mich gewesen und es hatte sich viel angesammelt. Aber was für ein Monster musste man sein, seiner eigenen Mutter, die sich gerade von ihrem gewalttätigen Partner getrennt hatte, genau dasselbe nochmal anzutun?
Ich hatte sie nie geschlagen oder verprügelt, aber auch das tägliche Anschreien und dass sie Teller und Tassen nur einzige Zentimeter vom Kopf entfernt getroffen hatten, hatte gereicht, um sie psychisch fertigzumachen.
Dass sie es genau deswegen nicht mehr mit mir ausgehalten und das Jugendamt oft vor der Tür stand, hatte ich erst einige Jahre später begriffen, als sie mich erfolgreich aus der Pflegefamilie geholt hatte.
Immer wieder fragte ich mich, wieso sie das eigentlich getan hatte und warum sie mich nicht hasste. Sie hätte mich schon längst loswerden können, aber sie hatte mich niemals aufgeben, immer für mich gekämpft und dafür bin ich ihr unendlich dankbar.
Trotz all dem erinnerte ich mich ungerne an diese Zeit zurück, unter denen nicht nur meine Mama, sondern auch der Rest meiner Verwandten und Freunde gelitten hatte, weil ich mich einfach nicht mehr unter Kontrolle hatte.
Mittlerweile hatte ich mich im Griff, aber ich hatte wirklich Angst davor, dass die Fassade, die ich über Jahre hinweg aufgebaut hatte, in den nächsten Minuten zu bröckeln anfangen und mein wahres Gesicht zum Vorschein kommen würde.
Schon immer bin ich ein recht impulsiver Mensch gewesen und meine ständigen Stimmungsschwankungen machten es mir nicht gerade einfach, diese ruhige Fassade aufrecht zu erhalten. Ich versuchte alles, aber manchmal kochte es in mir über und sie stürzte ein.
Ich konnte von Glück reden, dass ich es die zwei Wochen bei Lukas so ausgehalten hatte, obwohl dieser mich auf Themen angesprochen hat, bei denen ich vor einigen Jahren komplett an die Decke gegangen wäre und mit Geschirr nach ihm geworfen hätte.
Aber mit Lukas zusammen ist sowieso alles so viel anders. Lukas hatte etwas an sich, was mich unheimlich beruhigte und was mich nicht zum Überkochen brachte, wenn dieser mir Fragen stellte, die viel von meinem verletzlichen Inneren preisgeben würden.
Normalerweise hätte mein Kopf schon längst 'Stop' gesagt, aber bei Lukas kam keine Warnung. Mein Kopf hielt die Klappe und ließ mir die freie Entscheidung, was ich ihm mitteilen wollte und alles, was er darauf erwiderte, wirkte für mich in Ordnung.
Ab und zu gab Moment, wo meine Fassade leicht zu bröckeln begonnen hatte und es heraus stach, dass ich ungerne über dieses Thema sprach, aber Lukas konnte mich sofort ruhig stellen.
Bei anderen hätte ich schon längst gefragt, was diesen denn bitte einfallen würde, mir so eine Frage zu stellen oder dieses Thema in den Mund zu nehmen, aber bei Lukas hatte ich es nicht als einen Angriff empfunden.
Mit Lukas fühlte es sich so an, als würde er nichts Böses von mir wollen, wenn er mich fragte, woher die Narben stammen, die meinen Körper zierten. Sofort schaltete mein Kopf um und ich hatte das dringende Bedürfnis, ihm die Geschichten hinter diesen zu erzählen.
Ich seufzte leise und ließ den Kopf hängen, als ich an meinen Lukas dachte. Lukas, der wohl tollste Mensch der Welt, der so wunderschöne Gefühle in mir auslöste und einfach so viel anders, als alle anderen ist.
Schon die ganze Zeit über stellte ich mir die Frage, was mein Baby wohl gerade machte und wie es ihm ohne mich erging. Ich hatte ihm vor einigen Stunden geschrieben, aber bis jetzt immer noch keine Antwort erhalten.
Dass mich das rasend machte und zu einem großen Teil zu meiner miesen Stimmung beitrug, musste wohl gar nicht erst erwähnt werden. In mir baute sich immer mehr die Angst auf, dass Lukas jetzt, wo ich nicht mehr da bin, erkannt haben könnte, wie schrecklich ich bin.
Ich schüttelte mit dem Kopf und versuchte diese Gedanken direkt beiseite zu schieben. Lukas würde so etwas niemals von mir denken. Wahrscheinlich ist mein Freund einfach nur beschäftigt und hatte bis jetzt nicht auf sein Handy geguckt.
Er antwortete mir immer. Selbst auf die belanglosesten Nachrichten, auf denen man sich eigentlich keine Reaktion erhoffte, schrieb Lukas mir mit einem Emoji zurück. Er würde mich niemals ignorieren!
Erneut seufzte ich leise und zog mein Handy unter dem Kopfkissen hervor, um den Knopf an der Seite zu drücken und zu gucken, ob er sich nicht doch gemeldet hatte. Und als hätte es der Teufel gehört, traf plötzlich eine neue Nachricht ein, die mein Herz bis zum Mond schlagen ließ.
Lukas, 23:45 Uhr:,,Oh Gott, Entschuldigung, dass ich mich jetzt erst melde! 😢 Ich hatte noch etwas mit Oma telefoniert, Abendbrot gegessen und mich fertiggemacht. Ich hoffe, dass es dir schon etwas besser geht und du dich beruhigt hast. Du musst nicht traurig sein, es wird alles gut. ♥''
Lukas, 23:45 Uhr:,,Bild.''
Lukas, 23:45 Uhr:,,Guck' mal, wer jetzt deinen Platz eingenommen hat, ist etwas haariger als du. 😝''
Timi, 23:49 Uhr:,,Alles gut, mein Schatz. Ich hatte mir sowas schon gedacht. ♥ Hmmm, ich weiß nicht, ob man das als besser gehen bezeichnen kann, aber immerhin weine ich nicht mehr. 😓''
Timi, 23:49 Uhr:,,Oh mein Gott, wie süß!!! 😍 Aber ich wäre jetzt viel lieber an Sunnys Stelle. 😭''
Lukas, 23:50 Uhr:,,Es ist wirklich alles gut? Wollen wir telefonieren? ♥ Du weißt, dass das für mich vollkommen okay wäre.''
Lukas, 23:51 Uhr:,,Ja, die Maus hat sich ihren alten Platz wieder geschnappt. 😏 Aber ich hätte dich auch gerne lieber hier liegen. Das Bett ist viel zu groß und kalt ohne dich. Wer soll denn seine Füße an mir aufwärmen? 😭''
Timi, 23:52 Uhr:,,Wir müssen nicht telefonieren, es ist alles in Ordnung soweit, wirklich. Falls irgendwas sein sollte, sag' ich Bescheid. ♥ Aber...ach man, ich will einfach wieder bei dir sein. Mir geht es so dreckig. 😭''
Lukas, 23:53 Uhr:,,Okay. Aber wirklich, Timi, wenn jetzt auch die Nacht was sein sollte, kannst du mir ruhig schreiben oder mich anrufen. Du bist auf laut, also alles gut. ♥ Ich hätte dich auch gerne bei mir. Mir geht es so mies und dass es dir nicht gut geht, macht mich fertig. 😢''
Timi, 23:54 Uhr:,,Ich sage Bescheid, keine Angst. ♥ Sei bitte nicht traurig, es ist wirklich alles gut. 😁''
Lukas, 23:55 Uhr:,,Okay, Baby. ♥''
Lukas, 23:56 Uhr:,,Ich werde mich mal ins Bett hauen, morgen geht es schließlich wieder früh raus. #fucklife 😒 Falls irgendwas ist, schreib' ruhig. ♥ Gute Nacht! Schlaf' schön und träum' was Süßes. ♥''
Timi, 23:58 Uhr:,,Ja, Baby. 😁 Dir auch eine Gute Nacht und süße Träume. ♥''
Mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen, sah ich auf den Chat, der meine Laune wenigstens etwas gehoben hatte. Ich scrollte nach oben und klickte auf das Bild, welches Lukas mir gerade geschickt hatte.
Es zeigte ihn und seine pechschwarze Katze Sunny. Sie lagen zusammen im Bett und die Mietze hatte es sich auf seiner Brust bequem gemacht. Der Platz, auf dem ich die letzte Nacht noch seelenruhig geschlafen hatte.
Sofort brach es mir das Herz und wenn ich könnte, würde ich direkt zu ihm ins Dorf fahren, um meinen Engel in den Arm nehmen zu können. Auch wenn Lukas es niemals zu geben würde, konnte ich an seinen Augen erkennen, dass er geweint hatte.
Er sah einfach so fertig aus. Lukas versuchte zu lächeln, aber selbst von tausenden Kilometern konnte man erkennen, dass er sich dieses nur für das Bild erzwungen hatte. In seinen blaugrauen Augen lag so viel Trauer und es fickte mich richtig, ihn so sehen zu müssen.
Ich wollte nicht, dass Lukas weinte und vor allem nicht wegen mir, denn schließlich würden wir uns bald wiedersehen. Wir hatten keinen Abschied für die Ewigkeit geschlossen, sondern nur auf unbestimmte Zeit.
Wir wussten beide, dass es so ist, aber leider machte der Kopf nicht das, was man selbst wollte. Es gab viele Dinge da draußen, die das Herz schon längst begriffen hatte, der Kopf einem aber immer wieder sagte, dass es nicht so ist.
Ich seufzte, legte das Handy zur Seite und nahm die Brille ab, um sie zusammengeklappt auf den Nachttisch zu legen. Ich kuschelte mich tief in die Bettdecke und drehte mich einmal zur Seite, um es mir irgendwie gemütlich in diesem viel zu großen Bett zu machen.
Ich vergrub mein Gesicht tief ins Kopfkissen und eine Träne rollte mir über die Wange, als ich neben oder unter mir niemanden spürte. Zwei Wochen lang hatte ich mir mit Lukas zusammen das Bett geteilt und jetzt bin ich wieder alleine.
Niemand ist mehr da, der mir über den Arm streichelte, bevor ich im Land der Träume versank, an dem ich meine eiskalten Füße aufwärmen konnte und keiner, der mir irgendwas zum Einschlafen erzählte, während er mir durch die Haare kraulte.
,,Oh man...'', frustriert schrie ich ins Kissen, hämmerte leicht mit Fäusten auf dieses und krallte mich schlussendlich schluchzend an dem weichen Stoff fest. Konnte mein Kopf nicht endlich die Klappe halten?!
Ständig musste ich daran erinnert werden, was ich nicht mehr habe. Natürlich vermisste ich Lukas und würde wirklich alles dafür geben, um ihn bei mir zu haben, aber ich musste akzeptieren, dass es nicht anders ging.
Wir würden uns wiedersehen. Wenn seine Eltern Recht behielten und sich das Schicksal nicht zwischen uns stellte, würden wir am Wochenende wieder zusammen sein, um zu knutschen, zu kuscheln und Sex haben zu können.
Obwohl es bis zum Wochenende noch unzählige Tage sind. Ich hatte absolut keinen Plan, wie ich diese Zeit ohne Lukas an meiner Seite schaffen sollte und wann der Zeitpunkt kam, an dem ich komplett durchdrehen würde.
Wahrscheinlich würden wir in jeder freien Minute miteinander schreiben, aber es ist einfach nicht dasselbe, als ihn direkt vor mir stehen zu haben und ihn einfach in den Arm nehmen zu können, wenn mir danach war.
Bis zum Wochenende würden es noch fünf, fünf fucking Tage sein. Das entsprach 120 Stunden, 7200 Minuten und 432000 Sekunden, die ich ohne mein Baby aushalten und alleine verbringen musste.
,,Man, jetzt halt deine Fresse!'', schimpfte ich mit mir, drehte mich auf den Rücken und zog mir die Bettdecke über den Kopf, in der Hoffnung, dass sie mich vor meinen schlimmen Gedanken beschützen könnte.
Ich hielt es kaum noch aus! Je mehr Zeit ich alleine verbringen musste, desto lauter wurden die Stimmen in meinen Kopf, vor denen mich Lukas die letzten Wochen so bewahrt hatte und die versuchten, mich komplett in den Wahnsinn zu treiben.
Ich starrte auf den Wecker und als ich die Uhrzeit las, wurde mir immer mehr bewusst, dass ich so nicht weitermachen konnte. Ich musste jetzt dringend irgendeine Art von Ablenkung finden, bevor ich die ganze Nacht wach und völlig übermüdet in der Schule sitzen würde.
Da ich Lukas aber nicht mit meinen Problem belasten und ihn unnötig wachhalten wollte, entschied ich mich, ohne vorher gründlich zu überlegen, dazu, die Decke einmal zur Seite zu schmeißen und die Füße übers Bett zu schwingen.
Ich fuhr mir durch die Haare und machte mir mit etwas Wasser, was direkt neben dem Bett stand, mein Gesicht nass, damit man sich sofort sehen konnte, dass ich geweint hatte. Über den Grund wollte ich sowieso nicht reden und vor allem nicht mit ihr...
Fix zog ich mir ein Shirt über und in die ging Richtung der Tür, wo ich zunächst mit mir selbst haderte, aber schlussendlich die Klinke herunterdrückte, um mit leisen Schritten in den Flur zu tapsen.
,,Ähm...Mama? Bist du noch wach?'', fragte ich schüchtern und mit beebbender Unterlippe, als ich die Schlafzimmertür meiner Eltern langsam öffnete und zu meiner Erleichterung feststellte, dass Mama mit offenen Augen im Bett lag.
,,Was ist denn los, mein Schatz?'', harkte sie besorgt nach, setzte sich aufrecht hin und stellte die Lautstärke des Fernsehers etwas leiser, was mich sofort zum Schmunzeln brachte, weil an dieser Frau nichts spurlos vorbeiging.
,,Ich...ähm...ich...i-ich kann nicht schlafen, irgendwie...'', teilte ich ihr seufzend mein Problem mit, fuhr mir unsicher durch die Haare und ließ mich auf der Bettkante nieder. Nervös zupfte ich an dem untersten Saum meines Shirts und biss mir auf die Unterlippe.
,,Wieso kannst du denn nicht schlafen? Bist du aufgeregt wegen der Schule?'' Mama rückte näher an mich heran, musterte mich weiterhin mit besorgten Augen und legte den Arm einmal um mich, um mir über den Rücken zu streicheln.
,,Ja, auch. Ach...keine Ahnung, das ist irgendwie so ungewohnt alles. Zwei Wochen hatte ich immer einen bei mir und jetzt nicht mehr.'', versuchte ich es es ihr irgendwie möglichst verständlich zu erklären, doch kam mir dabei total dämlich vor.
Es kotzte mich an, meiner Mama nicht die Wahrheit sagen zu können. Ich würde ihr so gerne den wahren Grund für meine Schlaflosigkeit nennen, aber sobald ich das sagen würde, würde ich alles kaputtmachen.
Schon als ich ihr nachdem Abendbrot, als wir zusammen abgewaschen hatten, erzählt hatte, was Lukas und ich so schönes gemacht hatten, hatte es mich gestört, ihr nicht die richtige Version erzählen zu können.
Zu gerne hätte ich ihr irgendwelche Bilder gezeigt, aber das konnte ich nicht, da diese viel zu viel von meiner Beziehung zu Lukas preisgeben würden. Ich konnte bei diesen Bildern nicht behaupten, dass sie vollkommen aus dem Kontext gerissen sind, denn sie sind nun mal eindeutig.
Eigentlich wäre es langsam an der Zeit, die Katze aus dem Sack zu lassen, aber ich konnte es nicht. Ich hatte so viele Chancen verpasst, in denen ich ihr hätte sagen können, was hinter Lukas und mir steckte. Aber immer wieder musste sich meine Angst in den Weg stellen und mir sagen, dass sie mich nachdem Outing hassen, verurteilen und für immer verlassen würde.
,,Oh, nein. Aber verständlich, dass du da nicht zur Ruhe kommst. Ich hatte das auch öfters, wenn ich mal bei Freundinnen geschlafen habe, da ist die erste Nacht immer schwierig.'', erwiderte Mama lächelnd und strich mir beruhigend über die Schulter.
Ich nickte nur stumm, seufzte leise und sah hinunter auf meine Finger, die leicht zitterten, vor der Angst, dass meine Mama irgendwie checken könnte, dass da doch mehr hintersteckte, als ich zu geben wollte.
Aber schnell verwarf ich den Gedanken daran wieder, denn es gab schließlich keinen einzigen Indiz, der darauf schließen könnte, dass Lukas und ich etwas miteinander haben könnten. Bis jetzt hatten wir immer aufgepasst und uns bedeckt gehalten.
,,Möchtest du vielleicht heute Nacht hier schlafen? Frank hat Nachtschicht und würde erst gegen Mittag kommen.'', fragte Mama nach und lächelte mich von der Seite an. Ich zog nur die Augenbrauen zusammen und machte eine abfällige Handbewegung.
,,Na komm', Timi, sonst bist du die ganze Nacht wach und ich darf morgen Früh gucken, wie ich dich aus dem Bett kriege.'', ermutigte sie mich lachend und rutschte einmal auf die Bettseite meines Stiefvaters, um einladend auf ihre Betthälfte zu klopfen.
Ich verdrehte nur grinsend die Augen, legte mich aber schlussendlich zu ihr, weil wir ansonsten noch bis zum Morgengrauen miteinander diskutieren würden. Sie schmiss die Decke über mich und lächelte nur noch viel breiter.
,,Aber sag' kein Wort an deine Geschwister, ansonsten haben wir hier morgen die ganze Bande liegen.'', warnte mich Mama und hob den Zeigefinger.
,,Jaja, keine Sorge, das bleibt unser Geheimnis.'', lachte ich und schloss mit einem imaginären Schlüssel den Mund zu.
,,Du magst Lukas wirklich gerne, kann das sein?'', fragte mich Mama, als wir für eine kurze Zeit miteinander geschwiegen hatten und strich mir eine Träne aus dem Gesicht, während sie mich mit nachdenklichem Blick musterte. Mögen? Ich würde für diesen Jungen sterben!
,,Er ist nett und total lieb. Es hat sehr viel Spaß bei ihm gemacht und...ich hab' mich einfach viel zu sehr an die zwei Wochen mit ihm gewöhnt.'', erwiderte ich lächelnd und mein Herz schlug einige Takte schneller, als ich an Lukas dachte.
So gerne hätte ich ihn jetzt neben mir liegen. Ich würde mich an ihn kuscheln, die Arme fest um ihn schlingen und ihn so viele Küsse aufdrücken, bis seine Lippen ganz wund werden würden. Man, warum musste er nur so weit weg sein?!
,,Aber sei mal ehrlich, Timi Schatz, Lukas ist wirklich nur ein ganz normaler Kumpel?'', fragte sie mich plötzlich wie aus dem Nichts, sah mich mit eindringlichen Augen an und mir stockte mit einem Mal der Atem. Wie kam sie denn jetzt aus sowas?!
,,Ähm...ja...ja, nur ein ganz normaler Kumpel. Wieso fragst du das immer? Was ist an Lukas so anders?'', lachte ich schüchtern und meine Stimme überschlug sich dabei fast. Nervös fuhr ich mir durch die Haare und ein Film von Schweiß legte sich auf meine Stirn. Fuck!
,,Die Sendung läuft immer noch und du verfolgst sie noch? Wird das nicht irgendwann langweilig?'', fragte ich nach hektisch nach, als ich mich von meiner Mama weggedreht hatte und stattdessen auf den Fernseher sah.
,,Timi...'', erwiderte sie nur.
,,Was denn?'', machte ich und klang gereizter als gewollt.
,,Also wirklich nur ein ganz normaler Kumpel wie Marcel?'', harkte sie nochmal nach und ich bereute es, zu ihr gegangen zu sein.
,,Wirklich, Mama. Ich stehe nicht auf Jungs. Lukas und ich verstehen uns gut miteinander, das ist alles. Er ist einfach lieb und sympatisch, da wird aber nie mehr sein.'', versicherte ich ihr und fühlte mich im nächsten Moment schlecht, sie ständig so anzulügen.
,,Okay, alles gut. Aber du weißt, dass wir über alles reden können und du vor nichts Angst haben brauchst.'' Sie musterte mich unsicher und innerlich verrollte ich über diese Aussage die Augen. Natürlich weiß ich das, aber trotzdem würdest du mich für die Wahrheit hassen...
,,Ja, Mama. Falls da irgendwas sein sollte, was aber nie passieren wird, sage ich Bescheid. Können wir das Thema bitte lassen, ich will schlafen.'', erwiderte ich genervt, drehte mich auf die Seite und schüttelte in der nächsten Sekunde über mich mit dem Kopf.
Ich könnte kotzen! Hatte ich es nicht gesagt? Sobald Lukas nicht mehr in der Nähe ist, würde alles in meinem Leben schief gehen. Ich konnte nicht einschlafen und jetzt zettelte ich auch noch einen Streit mit meiner Mutter an.
Ich hasste es, dass ich ihr nicht sagen konnte, dass Lukas sehr wohl mehr als nur irgendein Kumpel ist. So gerne wollte ich ihr davon erzählen, wie gerne ich diesen Jungen hatte und wieso es mir so schlecht ging, seitdem dieser nicht mehr bei mir ist.
Aber die Angst vor ihrer Reaktion und davor, was als Nächstest folgen würde, machten mir einen Strich durch die Rechnung. Ich wollte einfach nicht, dass sie mich aufgrund meiner Sexualität verurteilen und verlassen würde.
Wir hatten zusammen so viele schwere Zeiten durchgemacht, sie hatte mir immer wieder den Rücken gestärkt, mich gerettet und da sollten wir nicht aus so einem Grund auseinandergehen. Das würde ich niemals verkraften...
Auch wenn sie mir immer wieder versicherte, dass ich vor nichts Angst haben brauchte und sie mich immer akzeptieren würde, konnte ich es nicht glauben. Sobald ich ihr beichten würde, dass ich schwul bin, würde ich hochkant aus diesem Haus fliegen.
Aber genau so wenig wollte ich mich ständig mit meiner Mama deswegen streiten, denn sie hatte ein Recht darauf, es zu erfahren. Ich konnte nicht mein Leben lang irgendein Doppelleben führen und ihr weiß machen, dass ich ein glückliches Leben mit Frau und Kind hatte.
Irgendwann musste es raus, denn auf Dauer würde mich diese Heimlichtuerei mit Lukas nicht glücklich machen. Ich stürzte mich damit in mein eigenes Chaos und machte Probleme, wo eigentlich keine sein sollten.
Ich wollte Lukas gerne mal mit nach Hause nehmen und ihm den ein oder anderen Kuss am Esstisch aufdrücken, oder einen verliebten Blick zu werfen. Ich möchte mich nicht in meinem eigenen Zuhause verstecken.
Ich möchte wie bei Lukas offen und ehrlich mit unserer Beziehung umgehen können. Ich möchte nicht ständig Angst davor haben, dass seine Eltern etwas Falsches vor meiner Mama herausrutschen oder uns irgendein Bekannter erwischen könnte.
,,Entschuldigung, das hätte ich nicht machen dürfen...'' Mit glasigen Augen und einer gebrochenen Stimme drehte ich mich zu meiner Mama, rückte näher an sie heran und schlang die Arme einmal fest um sie.
,,Ich wollte dich nicht anschreien, wirklich. Es tut mir so leid, ich bin schrecklich. Du hast das gar nicht verdient.'', weinte ich leise in ihren Schlafanzug hinein und schüttelte über mich selbst erneut mit dem Kopf.
Meine Mama schlang ebenfalls die Arme um mich, streichelte mir beruhigend über den Rücken und drückte mir einen Kuss auf die Haare, der mein Herz in tausende Teile zerspringen ließ. Ich hatte diese Frau nicht verdient...
,,Timi Schatz, du hast mich doch nicht angeschrien. Du bist auch nicht schrecklich, es ist alles gut.'', beruhigte sie mich lächelnd, strich mir die Tränen aus dem Gesicht und würde mich meine Angst nicht zurückhalten, würde ich ihr genau jetzt sagen, was eigentlich Sache ist.
,,Möchtest du über was reden?'', harkte Mama nach, legte den Kopf schief und strich mir einige verirrte Strähnen aus dem Gesicht. Ohne überhaupt nachzudenken, schüttelte ich fest entschlossen mit dem Kopf und sah sie entschuldigt an. Ich wollte reden, aber nicht jetzt.
Ich würde es ihr gerne sagen, aber ich wusste einfach nicht, was der richtige Weg ist, um seinen Eltern so etwas zu erklären. Mama und ich hatten eigentlich immer so ein offenes Verhältnis miteinander, aber ausgerechnet jetzt musste sich mir alles in den Weg stellen.
,,Kannst du...kannst du mich einfach nicht alleine lassen?'', bekam ich gerade so mit gebrochener Stimme heraus. Mit verschwommener Sicht sah ich zu ihr nach oben und die Tränen kullerten mir wie Bäche über die Wangen.
,,Niemals.'', lächelte sie und schlang die Arme wieder fest um mich, während sie mir einen Kuss auf die Schläfe drückte. Beruhigend streichelte sie mir mit ihren Fingerkuppen über den Rücken und flüsterte mir ins Ohr, dass alles gut werden würde.
Ich presste mich näher an sie heran und wünschte mir, dass ich ihren Worten irgendwann Glauben schenken könnte. Ich wollte nicht ständig in Tränen ausbrechen, sondern wollte lernen, mit so etwas klar zu kommen und es zu akzeptieren.
,,Willst du vielleicht versuchen zu schlafen? Falls irgendwas sein sollte, kannst du mir ruhig Bescheid sagen, ich bin bei dir.'' Mit einem aufmunternden Lächeln auf den Lippen, sah sie mich an und fuhr mir einige verirrte Strähnen aus dem verheulten Gesicht.
,,Ich versuche es mal...'', erwiderte ich schüchtern und kuschelte mich daraufhin zurück in die Bettdecke. Ich murmelte mich tief in diese, schloss die Augen und versuchte an nichts zu denken. Kein Lukas, kein Outing, keine Schule - gar nichts.
Ich spürte, wie es sich Mama auf ihrer Betthälfte etwas bequemer machte und ein leichtes Lächeln zog sich auf meine Lippen, als ich hören konnte, wie sie die Lautstärke des Fernsehers noch leiser stellte.
Aber mein Lächeln verging mir augenblicklich wieder, als ich feststellte, dass das mit dem 'An nichts denken' nicht ganz so funktionierte, wie ich mir das eigentlich vorgestellt hatte. So gerne ich es auch wollte, ich bekam Lukas einfach nicht aus dem Kopf...
Es machte mich wahnsinnig, nicht neben ihm liegen und mich an ihn kuscheln zu können. Ich wollte bei ihm sein, seine Nähe spüren, seinen wunderschönen Duft einatmen und mich stundenlang in seinen blaugrauen Augen verlieren.
Ich hatte wirklich keine Ahnung, wie ich das bis zum Wochenende aushalten sollte. Vor allem störte es mich noch viel mehr, dass ich niemanden hatte, mit dem ich über das Ganze reden konnte.
Meine Mama mal wieder so angelogen und nicht offen und ehrlich mit ihr darüber sprechen zu können, verpasste mir einen Stich ins Herz, denn eigentlich hatten wir ein so offenes Verhältnis miteinander.
Egal was ich hatte, ich konnte immer zu ihr kommen und darüber reden. Sie verstand mich so gut, hatte sehr viel Verständnis, für alles, was tat und dachte und hatte immer einen hilfreichen Ratschlag parat.
Aber sobald ich ihr etwas von Lukas erzählen würde, würde nicht von ihr kommen. Sie würde nur wortlos meine Tasche packen, mich nach draußen begleiten und mir sagen, dass ich nie wieder kommen brauchte, weil sie so jemanden wie mich nicht als ihren Sohn wollte
Ich seufzte leise, drückte mein Gesicht tiefer ins Kissen und versuchte diese Gedanken irgendwie aus meinem Kopf zu verbannen. Ich wollte ausnahmsweise heute nicht darüber nachdenken, sondern einfach nur meine Ruhe. Ist das denn zu viel?
Ab morgen würden schon genug Probleme auf mich zu kommen und mein Leben in einen einzigen Trümmerhaufen zerfallen. Irgendwann würde ich noch den Mut dazu finden, Mama die Wahrheit zu sagen, aber nicht heute.
,,Alles wird gut, Timi...'', flüsterte sie mir leise ins Ohr und legte ihre Hand auf meine Schulter, um vorsichtig über diese zu streicheln, während ich mich verzweifelt an der Bettdecke festkrallte und mich in den Schlaf weinte. Irgendwann würde alles besser werden...
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