Vernunft


Nach einer Dosis viel zu wenig Schlaf, wachte ich irgendwann auf und sah mich zunächst verwirrt um. Warum lag ich unter einer Brücke und war nicht in meinem Bett oder gar überhaupt Zuhause? 
Doch dann erinnerte ich mich wieder daran, was vorgefallen war und wieso ich draußen unter einer Brücke schlafen musste, und nicht Zuhause in meinem kuscheligweichen Bett lag. 

Augenblicklich zogen sich meine Mundwinkel nach unten und ich setzte mich aufrecht hin. 
Ich rieb mir über die Augen, streckte mich und zog mir die Jacke über den zugefrorenen Körper. 
Ich sah mich in der Gegend um und versuchte nach und nach immer wacher zu werden. 

Es hatte aufgehört zu regnen und so langsam kamen die ersten Sonnenstrahlen zum Vorschein, weshalb es nicht mehr allzu kalt war und mein Körper nach und nach wieder auftaute. 

Ich holte mein Handy aus dem Rucksack, doch wie zu erwarten, hatte es den Geist aufgegeben und dementsprechend wusste ich nicht, wie spät es war und musste wohl oder übel auf meine innere Uhr vertrauen. 

Ich knallte seufzend das Teil zurück in den Rucksack und legte frustriert den Kopf auf meine angewinkelten Beine ab. 

Eigentlich hatte ich vorgehabt, am frühen Nachmittag nach Hause zugehen, weil dort ganz sicher niemand mehr im Haus war und ich so ungestört in mein Zimmer und mich dort endgültig einsperren konnte. 
Doch wenn ich auf meine innere Uhr hörte, war das Haus sicherlich noch knüppelvoll und meine Familie war gerade erst einmal dabei, aufzustehen und sich fertigzumachen. 

Außerdem bemerkte ich beim Durchstöbern meines Rucksackes noch, dass ich ausgerechnet meinen Schlüssel vergessen hatte und das machte die eh schon schreckliche Situation, auch nicht gerade angenehmer für mich. 
Zwar könnte ich locker Zuhause einbrechen, denn unser Schloss war sicherlich kein schweres Problem für mich, aber wie sah das denn bitte aus? 

Auf meine Familie war noch nie gut in der Nachbarschaft zusprechen gewesen und wenn dann noch der eigene Sohn, der selbstverständlich in diesem Haushalt lebte, in seinem eigenem Zuhause einbrach, würde das nun kein gutes Licht auf uns werfen und es würde den Ruf meiner Familie noch viel weiter nach unten ziehen. 

Zudem durften sich meine Eltern sicherlich danach noch irgendwelche Vorwürfe darüber anhören, wie falsch sie doch ihre Kinder erzogen, denn sowas passierte schließlich in keiner perfekten Familie und die Liste könnte noch endlos so weitergehen, weil die Familie Wolbers schon jahrelang Gesprächsthema Nummer eins in unserer tollen Nachbarschaft war. 
Bei denen war doch sicherlich auch nicht immer alles total super, die sollten sich mal nicht alle als die Vorzeigefamilie darstellen, die sie allesamt eigentlich gar nicht waren. Nur weil es bei uns etwas heftiger zu ging, als in normalen Familien. 

Aber da ich meinen Eltern das nicht antun wollte, ließ ich es lieber und dachte nicht weiter darüber nach, wie ich am besten die Tür aufbrechen konnte, ohne das dabei jegliche sichtbare Spuren entstehen könnten. 

Ich zündete mir die allerletzte Kippe an und beschloss, einfach mal in die Innenstadt zu fahren, welche hier ganz in der Nähe lag. 

Wenn ich sogar Glück hatte, traf ich dort auch schon einige Menschen an, die auf den Weg zur Arbeit waren und mir eventuell sagen könnten, wie spät es denn tatsächlich war.
Und wenn ich noch viel mehr Glück hatte, dann hatte eventuell sogar schon ein Laden auf und ich konnte unauffällig etwas mitgehen lassen, denn so langsam bekam ich echt Hunger. 

Kaum hatte ich das gedacht, meldete sich auch schon mein Magen knurrend zu Wort und ich ging die Treppen runter, schwang mich auf mein Fahrrad und machte mich auf in die Innenstadt, während ich genüsslich meine Zigarette rauchte. 

Tatsächlich traf ich in der Stadt auf eine Gruppe von Studenten, welche mir freundlicherweise mitteilten, dass es kurz nach sechs war und einen kleinen Laden, welcher 24 Stunden geöffnet hatte, hatte ich auch gefunden. Na wenigstens hatte ich jetzt mal etwas richtig gemacht, ohne dabei ein völliges Chaos mit mich mitzureißen. 

Während ich mir interessiert die verschiedenen Waren ansah, überkam mich das miese Gefühl, dass ich tatsächlich gleich etwas stehlen würde. 
Auch wenn ich das schon ziemlich oft getan hatte und es eigentlich nichts neues mehr für mich war, fühlte es sich heute verdammt falsch und anders an, etwas mitgehen zulassen. 

Keine Ahnung, was mit mir los war, aber es fühlte sich plötzlich so fremd für mich an und es lag nicht daran, dass ich ganz alleine in diesem Laden war und mich die alte Frau, welche hinter der Kasse saß, ganz genau im Blickwinkel hatte. Ich stahl schon jahrelang irgendwelche Sachen und da war das hier für mich ein total Kinderspiel - aber heute eher nicht so. 

Ach, ich fühlte mich einfach nicht ganz wohl bei der Sache und konnte es kaum glauben, dass ich überhaupt so etwas dachte. 
Ich hatte schon so oft etwas geklaut und mir danach keine weiteren Gedanken darüber gemacht. Aber heute war es komplett fremd für mich und ich wusste selbst nicht so recht, wieso ich auf einmal so sehr darüber nachdachte, was für Verluste die arme Frau doch machte, wenn ich mir einfach so etwas einsteckte. 

Ich kramte verzweifelt in meinem Rucksack rum, und fand tatsächlich fünfzig Cent, welche ich freudig aus der Tasche holte und mir ein Schinken-Käse-Brötchen in die Tüte packte und mich damit auf den Weg zur Kasse machte. 

Hoffentlich würde das Geld auch reichen, denn auf etwas anderes hatte ich nicht wirklich Appetit und ich glaubte wohl kaum, dass ich mir mit meinen fünfzig Cent noch irgendwas anderes anständiges hier drin kaufen könnte, womit ich auch wirklich satt werden würde. 

Ich legte das Brötchen auf die Kasse und verwundert sah mich die ältere Dame, über ihren Brillenrand hinweg, an. 
Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass ich so früh und vor allem auch noch alleine unterwegs war, oder ob sie wirklich die Vermutung gehabt hatte, dass ich etwas klauen würde und nur so getan hatte, als würde ich mich im Laden umsehen und dann so tat, als würde ich mir doch nichts kaufen wollen. 

Doch heute war ich nicht so. Ich wollte wenigstens einen einzigen Tag mal Ruhe von dieser ganzen illegalen Scheiße haben, welche mich schon seit Jahren jeden Tag genug umgab.  

Die Kassierin, tippte die Nummer für die Ware ein und ich hielt ihr einfach nur die fünfzig Cent entgegen, welche sie mir aus den Fingern nahm und mich dann mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte. 
,,Da fehlen fünfzehn Cent.'', teilte sie mir mit und ich biss mir verlegen auf die Unterlippe. Da wollte man schon einmal kein Arschloch sein und dann passierte einem auch noch sowas! 
,,Oh...'', machte ich nur und sah noch einmal fix in meinem Rucksack nach, ob ich eventuell doch noch die nötige Summe darin finden würde. 

Doch natürlich war dort drin rein gar nichts an Geld zu finden und es war mir verdammt unangenehm, dass ich mir noch nicht einmal mehr so eine Kleinigkeit kaufen konnte. Wie sollte das denn nur aussehen, wenn ich einmal Erwachsen war und mein eigenes Geld verdiente? Ging ich dann auch so schluderig damit um?  

,,Ich hab' leider nichts dabei. Entschuldigung, dann gehe ich mal lieber. Einen schönen Tag noch.'', sagte ich schnell, kratzte mich am Hinterkopf und wollte gerade den Laden verlassen, als mich die Dame zurück pfiff und ich mich verwirrt umdrehte. 

Ich ging zurück zur Kasse und biss mir unsicher auf die Unterlippe. 
,,Was ist denn?'', fragte ich und trat von einer Stelle auf die andere. Sie musterte mich nur und lächelte dann. 
,,Nimm es mit.'' Sie hielt mir die Tüte entgegen und ich blickte sie nun verwundert an. 

,,Aber ich habe doch nicht genug Geld dabei.'', stritt ich ihr Angebot direkt ab und die ältere Dame hielt mir die Tüte mit dem Brötchen noch etwas mehr entgegen. 

,,Sind doch nur fünfzehn Cent. Davon werde ich auch nicht reicher und ein bisschen mehr auf den Rippen schadet dir auch nicht.'', lächelte sie mich ehrlich an und ich lächelte nun ebenfalls, ehe ich ihr mit einem guten Gewissen, die Tüte aus den Händen nahm. 

,,Danke, das ist lieb. Auf jeden Fall, ich wünsche Ihnen nochmal einen schönen Tag.'', bedankte ich mich lächelnd bei ihr, holte das mit Schinken und Käse überbackende Brötchen aus der Tüte und nahm direkt einen Bissen davon. 
,,Bitteschön und gleichfalls.'' 
Ich lächelte sie noch einmal an, ehe ich den Laden verließ und mich mampfend mit meinem Brötchen in der Hand, auf einer Bank niederließ und dabei zusah, wie nach und nach immer mehr Leben in die Stadt kam. 

,,Entschuldigung, könnten Sie mir vielleicht sagen, wie spät es ist?'', fragte ich irgendwann ein älteres Ehepaar, als ich meine Tüte ordnungsgemäß in den vorgesehenen Mülleimer entsorgt hatte und nun total orientierungslos mit meinem Fahrrad zusammen durch die Stadt lief. 

,,Hast du etwa keines dieser Smartphones dabei? Ist das nicht eigentlich bei der Jugend von heute so, dass die ständig die Dinger in der Hand haben und daraufstarren?'', scherzte der ältere Herr lachend und sah auf seine Armbanduhr. 

,,Es ist viertel Sieben, mein Junge.'', teilte er mir lächelnd mit. 
,,Oh, Dankeschön.'', bedankte ich mich lächelnd bei ihm und ging dann mit meinem Fahrrad zusammen weiter. 

7:15 war es also. Okay, also nach Hause konnte ich definitiv immer noch nicht, weil meine Geschwister wohl gerade alle dabei waren, in die Schule gefahren zu werden und auch wenn das Haus trotz alldem schon größtenteils sehr leer gefegt war, konnte ich immer noch nicht dort hin, weil meine Mutter schließlich noch Zuhause war und ausgerechnet diese Woche etwas später mit der Arbeit anfing. 
Ja, wir stritten uns eindeutig immer zu den perfektesten Zeiten. 

Ich seufzte über diese Erkenntnis und wusste einfach nicht so recht, was ich in dieser Zeit noch machen sollte. 
Ich hatte kein Handy, kein Geld und konnte so definitiv keinen Tag in der Innenstadt verbringen.
Sowieso war es hier alleine eh viel zu langweilig und wenn ich sogar Pech hatte, würde im Laufe des Tages sogar noch die Polizei hier entlang spazieren und mich hingegen fragen, warum ich denn nicht in der Schule sei. 
Und auf diesen Ärger hatte ich so gar keinen Bock und meine Mutter erst recht nicht, obwohl sie noch nicht einmal etwas dafür konnte, dass ihr Sohn so ein Vollidiot war und noch nicht einmal alleine so wirklich klar kam. 

Ins Jugendzentrum konnte ich auch nicht gehen, weil dieses erstens noch nicht auf hatte und zweites, weil mich die Mitarbeiter später eh fragen würden, warum ich so früh schon hier war und ob ich nicht eigentlich in der Schule sein müsste. Und im schlimmsten Fall riefen sie noch meine Mutter an und das wollte ich absolut gar nicht. 

Aus der Gang hätte eventuell bestimmt jemand Zeit für mich, aber auf die hatte ich erst einmal keine Lust mehr und kontaktieren konnte ich sowieso niemanden, obwohl mich Ronny eh dafür schlachten wird, wenn er herausfand, dass ich ganz alleine unterwegs war, obwohl ich ihn doch hätte irgendwie erreichen können. 

Und meine zwei besten Freunde Marcel und Alex mussten arbeiten und...ach, ich konnte einfach zu nichts und niemanden und fühlte mich gerade so unfassbar nutzlos. 

Ich ließ mich seufzend auf einer Bank nieder und schaute verloren in der Gegend rum. 
Was sollte ich nur machen? Ich konnte doch momentan nirgendswo hin. 

Kaum hatte ich das gedacht, lief eine Gruppe von kleinen Kinder an mir vorbei, welche alle mit ihren zu übergroßen Schulmappen auf dem Rücken bewaffnet waren und gerade dabei waren, in die Richtung der Grundschule zugehen, die hier direkt in der Nähe der Innenstadt lag. 
Sollte ich vielleicht in die Schule gehen? 

Ich hatte doch sowieso nichts zutun. Zwar hatte ich nicht wirklich Bock darauf, aber es war auf jeden Fall um einiges besser, als den ganzen Tag in der Innenstadt umherzugammeln und sich zu Tode zu langweilen. 

Also stand ich auf, fragte nochmal schnell einen Passanten nach der genauen Uhrzeit und schwang mich dann auf mein Fahrrad, um tatsächlich freiwillig zur Schule zu fahren. 
Wenn ich mich sogar beeilte und keine dummen Zwischenfälle passieren würden, würde ich es eventuell sogar noch pünktlich zur ersten Stunde schaffen. 

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