Kapitel 8

I actually love the challenge of being in a new place where I'm so obviously the foreigner.
- Kevin Olusola -

Ich blickte auf einen riesigen Platz, auf dem Zelte und Unterschlüpfe standen.
Überall liefen Jugendliche und junge Erwachsene rum, ich hörte Gelächter und Gespräche und roch die unterschiedlichsten Gerüche. Aber am meisten faszinierte mich die Landschaft. Im Gegensatz zu der zu Hause sah ich keine Bäume, kein Mehr, kein Wasser. Alles bestand aus Stein und Sand. In der Ferne türmten sich Hügel und Dünen und die Luft war heiß und trocken, was mich zum Schwitzen brachte. Ich konnte nicht einschätzen, wo ich war. So einen Ort hatte ich in Houston jedenfalls noch nie gesehen.

Hieß das also, dass wir in der Wüste außerhalb der Stadt waren?
Hinter dem Horizont?

Vor lauter Aufregung fing ich an, unruhig hin-und herumzuhüpfen.
Doch als ich mich in die Menschenmenge einordnete, konnte ich kein einziges bekanntes Gesicht ausmachen und so langsam bekam ich es doch etwas mit der Angst zu tun.
Was war das für ein Ort?

Plötzlich sah ich in einer kleinen Gruppe von Leuten einen Streifen roter Haare aufblitzen und ging darauf zu.
Während ich das tat, wurde ich immer wieder von manchen neugierig angeschaut und ich senkte unsicher den Kopf.
Ich erreichte die Gruppe und tippte das Mädchen auf der Schulter an.
Sie drehte sich ruckartig um und lächelte, als sie mich sah.
„Hey, du siehst ja schon viel besser aus," sagte sie und ich nickte.
„Ich fühle mich auch schon besser," antwortete ich und das war die Wahrheit, obwohl ich vor Hitze einging und mein Hunger sich schmerzhaft bemerkbar machte.
„Ich habe da allerdings noch einige Fragen," sagte ich, wobei das ziemlich untertrieben war. Im Moment verstand ich die Welt nicht mehr.
Sie nickte verständnisvoll und erwiderte: „Das ist klar. Ich werde dich jetzt zu denen bringen, die dir diese Fragen beantworten werden. Wenn ich das täte, würde Jai mich umbringen. Komm mit mir, wir gehen dort entlang, zur Zentrale."
Sie zeigte hinter mich und ich erstarrte.

Denn hinter mir sah ich ein riesiges Gebäude, ebenfalls ganz aus Beton.
Es sah komplett anders aus als die Häuser, die ich von zuhause kannte.
In Houston waren die Gebäude genauso groß, wenn nicht größer, aber sie waren in die Höhe gebaut und nicht in die Länge und außerdem reine Stahl-und Glaskonstruktionen.
Dieses Modell hier war hässlich, unverputzt, grau und mit Schornsteinen auf dem Dach bestückt, die so groß wie Wohnhäuser waren.
Ganz links unten sah ich die Tür, die zu dem Zimmer führte, in dem ich aufgewacht war. Sie sah winzig aus.

Ungläubig sah ich sie an.
„Wo zum Teufel bin ich hier?," flüsterte ich.
Sie grinste. „Im Lager, hab ich dir doch schon gesagt. Komm mit."
Zusammen liefen wir über den heißen Sand und betraten dann das Gebäude.
Ehrfürchtig sah ich nach oben.
Es war bestimmt vierzig Meter hoch und es gab mehrere Treppen und Stockwerke.
Hier im ersten Geschoss wuselten viele Menschen umher und ich sah, dass sie Säcke und Kisten schleppen, worin sie Pflanzen und sonstiges verstauten.
Im Gegensatz zu draußen auf dem Platz waren die Leute hier so beschäftigt, dass sie mich gar nicht beachteten.
Was ich sehr begrüßte.

Das Mädchen lief mit schnellen Schritten voraus. Ich bemühte mich, ihr zu folgen, als wir die größte Treppe direkt am Eingang nach oben gingen, wo sie auf einer breiten Empore endete. Ich hoffte, wenigstens an diesem ominösen Ort, der Zentrale, würde man mir mehr sagen können.
Dieses Mädchen wollte mir auf jeden Fall nichts verraten, so wie sie vor mir wegrannte. Nicht mal ihren Namen kannte ich.

Als ich oben auf der Empore ankam, sah ich eine Art Flur, in dem weitere Kisten gestapelt waren. Der restliche Bereich war von breiten Kordeln und Ketten abgetrennt, die im leichten Wind klimperten. Von dahinter vernahm ich Stimmen, Rauschen und Piepsen.
Vorsichtig schob die Rothaarige die Kordeln beiseite und betrat mit mir den Raum.

Wieder wurde ich umgehauen von dem, was ich sah.
Es war ein bestimmt fünfzig Quadratmeter großes Zimmer, das voll gestellt war mit Computern und Bildschirmen und übersäht von Kabeln und piepsenden Geräten.
Ich hatte Computer bisher nur in der Schule gesehen. Doch die waren alt gewesen. Diese hier waren viel moderner und größer.
Vor ihnen saßen drei Jungen und Mädchen, die angestrengt auf die Bildschirme schauten und in die Tastaturen hauten.
Als ich eintrat, kündigte mich das Mädchen an. „Hey Leute, hier ist Frischfleisch für euch!"
Schlagartig drehten alle im Raum die Köpfe zu mir.
Ich sah einen Jungen mit schwarzen Haaren und dunklen Augen, einen mit hellblonden Haaren und Hornbrille und einen, der mich sehr intensiv musterte. Er hatte fettige, aschblonde Haare in einem furchtbaren Schnitt und einen verkniffenen Mund. Instinktiv verschränkte ich die Arme vor der Brust.
Es gab drei Mädchen. Zwei von ihnen hatten hellblonde Haare und einen freundlichen Blick, die dritte sah mich misstrauisch durch einen Schleier dunkelbrauner Haare an und drehte ihren Kopf dann wieder in Richtung Bildschirm. Ich schätzte alle auf etwa 20, mit Ausnahme des Hornbrillenträgers, der viel jünger aussah.

Kurz darauf kam ein Junge mit schnellen Schritten um die Ecke.
Er hatte braune Haare und Augen und war ziemlich groß. Er überragte mich bestimmt um zwei Köpfe. Zusätzlich fielen mir die großen Muskeln an seinen Armen auf.
Während er auf mich zukam, musterte er mich mit kritischem Blick. Meine Güte, ich kam mir hier wirklich wie auf dem Präsentierteller vor.
„Hi," sagte ich, als er vor mir stehen blieb. Ich räusperte mich und hob die Hand, um seine zu schütteln. „Ich bin Quinn."
Doch er schien sich nicht im Geringsten dafür zu interessieren, wie ich hieß. Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrte er auf meine Hand und ich nahm sie sofort runter.
„Das ist die Neue?," fragte er an das Mädchen gewandt. Er hatte eine tiefe Stimme, die wie die Faust aufs Auge zu seinem Aussehen passte.
Sie nickte.
Er verdrehte die Augen. „Man, man, man."
„Bitte?," sagte ich und hob die Augenbrauen. Was sollte das denn heißen?
„Danke Saige. Wir kümmern uns ab jetzt um sie."
Saige legte eine Hand auf meine Schulter und lächelte mir aufmunternd zu. „Wir sehen uns gleich wieder, keine Sorge. Bis später, Jai."

Das war also Jai.
Ich konnte verstehen, wieso sie gesagt hatte, dass er sie umbringen würde.

Er wartete, bis Saige den Raum verlassen hatte, dann sagte er: „Das hier ist die Zentrale. Hier überwachen wir alles, was in Houston passiert."

Aha, also waren wir nicht in Houston. Das war doch schon mal ein Anfang.

„Außerdem sind wir dafür verantwortlich, dass alles im Lager glatt läuft, dass jeder genug zu essen und zu trinken hat und so weiter."
Ich hob die Hand wie in der Schule, um eine Frage zu stellen, doch bei einem erneuten Augenrollen von seiner Seite ließ ich sie wieder sinken.
„Komm mit," sagte er nur und ging an mir vorbei. Ich folgte ihm und kam mir dabei vor wie ein Hund, der seinem Herrchen hinterherrannte.
Er ging viel zu schnell für meine doch eher kurzen Beine und ich musste fast rennen, um mit ihm Schritt halten zu können.

„Wo bin ich hier eigentlich?," fragte ich, als ich endlich neben ihm lief. „Was ist das für ein Ort, dieses Lager?"
„Weniger fragen, schneller laufen," gab er bloß als Antwort zurück und ich hielt den Mund. Wenn hier alle so waren wie er und Saige, bestand nicht allzu viel Hoffnung, dass ich in der nächsten Zeit Antworten auf meine Fragen bekam.
Wir liefen erneut die Treppe runter und blieben in der Halle stehen.
„Hier werden alle Lebensmittel gelagert. Das Wasser ist an einem anderen Ort, frag gar nicht erst."
Das hatte ich nicht vor.
„In der Vergangenheit haben einige Leute probiert, Wasser zu stehlen. Mittlerweile befindet es sich an einem geheimen Ort, den nur wenige Leute kennen. Die Schlafsäle und alles andere zeige ich dir gleich. Jetzt bringe ich dich erstmal wieder zu Saige."

Das war ja eine kurze Tour gewesen.
Wir verließen die Halle und gingen nach links und dann durch eine weitere Tür.
Drinnen schlug mir der Geruch von Desinfektionsmittel entgegen und ich musste unwillkürlich husten. Es roch nach Krankenhaus und den Geruch konnte ich absolut nicht leiden.
„So," sagte er und blieb stehen. „Das hier ist die Krankenstation. Hier wirst du erst mal untersucht."
„Wieso?," fragte ich.
Wieder zog er die Augenbrauen zusammen.
„Weil ich es sage," sagte er knapp und damit war die „Unterhaltung" wohl beendet.
„Saige," brüllte er plötzlich und ich zuckte zusammen. Hinter einer weiteren Tür kam ihr rothaariger Kopf zum Vorschein.
„Kundschaft," knurrte er, jetzt wieder in normaler Lautstärke.
Saige lächelte ihn an und antwortete: „Oh ihr seid schon fertig. Danke, Jai. Bis später."
„Ich hole dich gleich wieder ab," sagte er noch, dann verschwand er durch die Tür nach draußen.
Sie wollte sich schon zum Gehen wenden, da sagte sie:
„Wie unhöflich von mir, ich habe mich dir noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Saige," sagte Saige überflüssigerweise.
Doch sie lächelte und wirkte nett, also lächelte ich zurück und stellte mich ihr vor.
„Dann komm mal mit, Quinn," sagte sie anschließend und ging mir voraus durch die Tür, aus der sie kam. Ich folgte ihr.
Drinnen sah es von der Technik her zwar nicht besonders nach Krankenhaus aus, aber besser als ich dachte.
Eine etwas löchrige und durchgesessene Liege stand an einer Wand, daneben ein Stuhl und ein kleiner Tisch mit Geräten.

„Setz dich bitte auf die Liege," sagte sie.
Als erstes fühlte sie meinen Puls, maß meinen Blutdruck per Hand und schaute mir in den Mund. Dann holte sie plötzlich eine Spritze hervor und ich sah sie erschrocken an. Ich hasste Spritzen fast so sehr wie enge Räume.
Als sie meinen Blick sah, lächelte sie mich aufmunternd an. „Ich nehme dir nur ein bisschen Blut ab, keine Sorge."
Doch genau das war ja meine Sorge.
Sie sah, dass sie mich nicht beruhigt hatte und schlug vor: „Ich nehme mal an, dass Jai nicht besonders viele deiner Fragen beantwortet hat oder? Rede einfach mit mir, lenke dich ab. Er muss nichts davon erfahren." Sie zwinkerte.
Sofort sprudelte ich los: „Was ist das für ein Ort hier?"
Ohne zu zögern antwortete sie.
„Das ist das Lager. So nennen wir es. Alle Jugendlichen in Houston, die bestimmte Fähigkeiten haben, so wie du, werden hier untergebracht."

Was ich da hörte, schlug mich wie eine Faust in den Magen. Es gab also noch mehr als mich und Leo?
Leo! War er vielleicht auch hier?

„Und ihr bringt alle, die eine Kraft haben, hierher?," hakte ich nach.
„Wir versuchen es, ja."
„Ist hier vielleicht in der letzten Zeit ein Junge hergekommen? Etwa fünfzehn Jahre alt? Groß? Blond?"
Neugierig schaute sie mich an und ich wandte den Blick ab. Ich wollte nicht sehen, was sie dachte. „Kann schon sein. Es gab ein paar Neue innerhalb des letzten Monats."
Aufgeregt rutschte ich auf der Liege hin und her.
Leo war wahrscheinlich hier! In diesem Lager! So glücklich hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Ich musste ihn sehen, sofort.
„Bist du bald fertig?," fragte ich ungeduldig.
„Schon erledigt," antwortete Saige und hielt mir eine kleine Ampulle mit meinem Blut vor das Gesicht. Ich hatte noch nicht mal gespürt, dass sie überhaupt schon angefangen hatte. Nachdem sie mir ein Pflaster auf die Einstichstelle klebte, rutschte ich ohne noch etwas zu sagen, von der Liege und lief nach draußen.

Ich wollte schon losrennen, als ich im Eingang plötzlich gegen jemanden stieß. Als ich den Kopf hob, sah ich in ein Paar braune Augen. Jai, dachte ich und seufzte innerlich. Sofort sank meine Freude wieder.
„Wo willst du denn hin?"
„Ich will zu meinem Bruder, er ist wahrscheinlich auch hier," sagte ich aufgeregt. „Leonor Roberts?," fragte ich erwartend, doch er schüttelte nur den Kopf.
„Leo?," versuchte ich es noch mal und jetzt nickte er.
„Ja, ich erinnere mich an ihn. Er kam vor gut einem Monat zu uns. Er ist einer unserer neuen Rekruten."
Rekruten?, dachte ich innerlich geschockt, doch ich ließ es mir nicht anmerken.
„Kannst du mich zu ihm bringen?," fragte ich und wippte aufgeregt von einem Fuß zum anderen.
Mit schlecht gelaunter Miene schaute er mich an und seufzte. „Von mir aus."
Wieder lief ich halb hinter ihm her, doch diesmal konnte es mir nicht schnell genug gehen. Wir liefen vorbei an den ganzen Menschen und Zelten, hinter eine Düne.
Wir schauten auf ein zweites, kleineres Lager runter, in dem ungefähr fünfzehn Menschen herumliefen, miteinander kämpften, schossen und herumbrüllten.
„Willkommen zu unserer Armee," sagte Jai und ich fing schon zu lachen an, als ich seinen ernsten Blick sah. Sofort wurde auch ich wieder ernst.

Das sollte eine Armee sein? Er wollte mich wohl auf den Arm nehmen.
Suchend glitt mein Blick über die Menschen, doch ich konnte Leo nirgendwo entdecken. „Also gut, du hast fünf Minuten," sagte Jai jetzt und ich schaute ihn mit hochgezogener Augenbraue an.
„Fünf Minuten? Das soll wohl..."
„Vier Minuten und fünfundfünfzig Sekunden," erwiderte er, jetzt lauter.
Mit einem Schnaufen wandte ich mich ab und lief den Hügel runter.
Hier brannte die Sonne heiß vom Himmel und es gab im Gegensatz zu vorhin kein einziges Fleckchen Schatten. Ich schwitzte erbärmlich unter meinem Shirt und der langen Hose und ich nahm mir fest vor, Jai nach kürzeren Sachen zu fragen.
Als ich unten ankam und durch das Gelände lief, drehten sich automatisch alle zu mir um und unterbrachen das, was sie gerade taten.
„Hab ich gesagt, aufhören?," brüllte auf einmal jemand und sofort wendete sich jeder wieder seiner Beschäftigung zu.
Hinter einem Zelt kam ein massiger, großer Mann hervor, der ein Maschinengewehr in der Hand hielt, auf das ich unsicher blickte.
Durften Menschen hier einfach so Waffen besitzen? Was war das bitte für ein Ort?
Als er näher kam, fiel mir eine breite Narbe auf, die vom Auge bis zum Mund reichte. Er hatte schwarze Locken und wirkte deutlich älter als jeder, den ich bisher gesehen hatte.
„Wer bist du? Was willst du hier?," fragte er und schaute mich zusammengekniffen an. Sein Blick fühlte sich auf meiner Haut an wie ein Nadelkissen.
„Ich suche meinen Bruder Leo, er..."
„Quinn?," ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihm.
Aus dem Zelt kam mein Bruder hervor und schaute mich ungläubig an.
Mit einem Seufzen drängte ich mich an dem Mann vorbei und fiel meinem Bruder in die Arme.

Auch er schloss seine Arme um mich und drückte mich fest an sich.

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