Kapitel 42
Fear is the main source of superstition, and one of the main sources of cruelty. To conquer fear is the beginning of wisdom.
- Ralph Waldo Emerson -
Es war wohl verständlich, dass ich nach dieser Stunde der Wahrheit nicht länger dageblieben war, um mir das neue Detail seiner Ermittlungen anzuhören.
Stattdessen war ich aus dem Raum gestürzt, um nicht vor Jai zu heulen.
Ich war wohl eher gekrochen, um nicht von dem Holzbalken zu fallen, aber zum Glück kam er mir nicht hinterher.
Jetzt einen Tag später war ich noch immer tief verletzt, aber vor allem beschäftigte mich, warum mich seine Beichte so getroffen hatte.
Nach ein paar Tagen war meine Wut dann schon nicht mehr ganz so schlimm und nach zwei Wochen schließlich beschloss ich, das ganze zur Seite zu schieben. Denn bald stand die Mission an und dafür brauchte ich einen freien Kopf.
Dieses Vorhaben zog ich auch gut durch und ich dachte mehrere Tage lang nicht wie vorher in jeder freien Minute an Jai, doch dann kam er auf einmal zu mir während ich schießen übte und brachte mich damit so aus der Fassung, dass ich ihn fast erschoss.
Leider nur fast.
Er sprang zur Seite und starrte mich mit offenem Mund an. „Ich hoffe, das war keine Absicht."
Ich schnaubte. „Wäre möglich. Was willst du?"
„Dein Training mit Violet."
„Ja?"
„Ich möchte, dass du noch weitere trainierst. Du hast das echt gut gemacht und ich denke, dass du viel besser mit deiner Kraft umgehen kannst als viele andere. So wie Ryu, deswegen wird er dir wieder zur Seite stehen."
Wenn ich meine Augen doch nur bis ins Unendliche verdrehen könnte...
„Warum soll ich bitte besser sein als andere?," fragte ich schnippisch.
„Du kannst deine Kraft ziemlich gut kontrollieren und an-und abschalten, das gelingt nicht jedem so gut."
„Ich habe das aber nie gelernt."
„Dann bist du wohl ein Naturtalent. Morgen früh am Waffenzelt fangt ihr an, ja?"
Er zwinkerte mir zu und drehte sich dann zum Gehen um.
Ich glaubte, ich übergab mich gleich in den Sand.
Am nächsten Morgen stand ich vor dem Zelt und wartete auf Ryu, der natürlich zu spät war.
Er redete wie üblich nicht mit mir, aber ich auch nicht mit ihm. Ich bemerkte seine Blicke, die mich hin und wieder trafen, ließ mir aber nichts anmerken, während wir einige Dinge vorbereiteten für das Training.
Ein paar Jugendliche kamen ins Zelt und Ryu war wie immer streng und wie ich fand, ziemlich fies, doch ich versuchte, ihnen bei ihren Ängsten und Sorgen zu helfen.
Nach einer Weile schickten wir sie weg und ich setzte mich auf eine Kiste, um ein wenig zu verschnaufen.
Es stellte sich heraus, dass das Trainieren von sechs Jugendlichen fast genauso anstrengend war wie das eigene.
Doch anstatt unsere Ruhe zu haben, öffnete sich eine Sekunde nachdem ich mich hingesetzt hatte, der Vorhang zum Zelt und Violet kam herein.
„Klopf, klopf, ich bin's," sagte sie flötend.
Das Augenrollen konnte ich mittlerweile schon gar nicht mehr abstellen, nur den Würgereiz versuchte ich zurückzuhalten.
Ryu stöhnte ebenfalls genervt auf und sagte: „Was ist? Wir sind beschäftigt."
Mit einem kurzen Nicken zu mir antwortete sie: „Also Quinn scheint ja nicht besonders viel zu tun."
„Quinn ist gut im Beobachten," sagte Ryu.
War das ein Kompliment oder eine Beleidigung?
„Wegen der Razzia: Ich bin mir nicht sicher, ob ich mitkommen sollte, denn..."
„Du kommst mit. Schluss, aus," erwiderte Ryu und wandte sich von ihr ab.
Doch da Violet keine Anstalten machte, zu gehen, drehte er sich wieder zu ihr um: „Wir haben bereits alles geplant und abgesprochen, das kann jetzt nicht mehr geändert werden. Wenn du dir in die Hosen machst, geh zu Saige und kuschele ein bisschen."
Zum ersten Mal erlebte ich Violet sprachlos und dann wütend, als sie mit überkreuzten Armen und verkniffenem Mund aus dem Zelt stürmte.
„Das war etwas extrem, finde ich," mischte ich mich jetzt ein.
„Ich dachte, du hasst sie? Habe ich dir nicht gerade einen Gefallen getan?," fuhr mich Ryu an und schaute genauso wütend wie Violet.
„Naja,..."
„Geh einfach und mache etwas anderes, okay?," seufzte er und rieb sich über die Stirn.
„Okay, schon gut," sagte ich und ich verließ das Zelt.
Was war denn jetzt los?
Ich wusste, dass es keine gute Idee gewesen war, mit Ryu zusammen zu arbeiten. Schon mein Anblick allein brachte ihn anscheinend in Rage.
Ab jetzt übernahm ich hauptsächlich den physischen Teil und Ryu weiterhin den mentalen.
Mit positiven Erwartungen an die Sache herangehend, musste ich bald feststellen, dass es hauptsächlich pubertierende Jungs waren, die ich trainierte und die sich lediglich für Übungen für den Hintern interessierten, ganz besonders, wenn ich sie demonstrierte.
Ryu, der ab und an mal vorbeischaute, lachte dann immer sehr auffällig und es fiel ihm natürlich überhaupt nicht ein, mir zu helfen.
Nach endlos wirkenden zwei Wochen hatten wir endlich unseren Teil erfüllt und gaben die Auszubildenden wieder an Odie und Blake ab.
Jai rief anschließend alle, die an der Mission teilnahmen, in die Zentrale.
„Okay Leute. Übermorgen ist der große Tag. Ich weiß, dass alle sehr aufgeregt sind, aber wir haben alles gut durchgeplant, sodass nichts schief gehen kann. Natürlich nur, wenn ihr euch an den Plan haltet."
Nervös trat ich von einem Fuß auf den anderen und sah die anderen an.
Ryu, Harry, Leo, Lance, Teala, Violet, Sophie, Jai und ich.
Die Gruppe, auf die die anderen ihre Hoffnung legten.
„Ihr seid euch alle ja bekannt. Der zehnte im Bunde, der uns unterstützt, wird Kyle sein."
Der blonde Junge mit der Hornbrille von meinem ersten Tag hier, trat um die Ecke und stellte sich zu uns. Er wirkte mit seiner geringen Größe etwas verloren neben Jai, der auch locker drei Mal so breit wie Kyle war.
„Hi Leute," sagte er und winkte schüchtern.
„Kyle ist ein wahres Computergenie und wird uns während der Mission auf den Bildschirmen hier im Auge behalten, mit uns kommunizieren und uns vor möglichen Gefahren warnen."
Kyle nickte zustimmend und schob seine Brille zurecht. Ein wirklich hässliches Exemplar.
„Danke, Jai. Jeder von euch wird eins dieser Armbänder bekommen. Außerdem einen kleinen Kopfhörer und ein Mikrofon. Den Kopfhörer macht ihr euch direkt ins Ohr, so kann man ihn später nicht sehen. Das Mikrofon wird über einen Zahn gestülpt, es wird dann unsichtbar. Mit dem Armband verfügt ihr über eine Karte der ganzen Stadt und jeden einzelnen Winkel darin. Es wird euch auch, falls nötig, mögliche Fluchtwege vorschlagen. Zudem könnt ihr es für Videoanrufe, Videos und Fotos benutzen, sowie mit einer Taschenlampe auch dunkle Ecken erhellen. Hier."
Er reichte uns die drei Dinge. Das Armband war aus einem grauen Gehäuse mit einem schwarzen Bildschirm darin, das Band war weiß, was sich dem Hautton anpasste, wenn man es trug.
Nach den Computern in der Zentrale war ich darüber nicht mehr überrascht, trotzdem war ich noch immer fasziniert von der Technik, die es hier gab.
Nachdem wir alle den Kopfhörer und das Mikro eingesetzt hatten, startete Kyle ein Programm und sofort wurden alle Geräusche auf meinem rechten Ohr ausgeblendet.
Als Jai anfing zu reden war es, als würde er direkt in mein Ohr flüstern.
Ein Schauer lief mir über den Rücken.
„Danke, Kyle. Ryu und ich werden euch nun den Ablauf erklären."
Ryu ging zu Jai in die Mitte des Raumes und startete einen der Computer, der surrend eine 3D-Karte von Houston in die Mitte des Raumes projizierte.
„Es gibt um ganz Houston herum viele verschiedene Eingänge, die uns problemlos über die Grenzen der Stadt gehen lassen. Diesen hier," er zoomte zu einer Ecke der Stadt am Rande der Wüste, „werden wir benutzen. Auch wenn es relativ einfach ist, dort unentdeckt einzubrechen, versteht es sich von selbst, dass wir extrem aufpassen und unauffällig sein müssen."
Wir nickten nach einem erwartungsvollen Blick von ihm.
„Nachdem wir also in der Stadt angekommen sind, liegt unser Ziel hier: das Scientium. Kyle wird uns ein leeres Labor besorgen, von dem wir die Ausrüstung bekommen, die wir benötigen. Davor müssen wir allerdings erst Mal reinkommen. Durch die Vordertür ist das absolut unmöglich. Auch wenn man das nicht denkt, ist dieses Gebäude das am besten bewachte und geschützte Houstons.
„Und wie kommen wir dann dort rein, ohne getötet zu werden?," fragte Leo.
„Das Scientium liegt direkt neben dem Regierungsgebäude," meldete sich Lance zu Wort.
Es war immer wieder komisch, ihn hier zu sehen. Ich hatte ihn noch als Polizisten im Kopf.
„Ich kenne dort jemanden, der ziemlich bestechlich ist. Ein Kontakt durch die Polizei. Er wird uns einschleusen. Von der Küche, die im hinteren Teil und im Keller des Gebäudes ist, führt ein geheimer Tunnel zum Scientium. Von dort aus müssen wir nur noch zum Labor finden, dann wieder raus und fertig."
„Klingt gar nicht so schwierig," sagte Violet.
„Ja. Wenn man von den ganzen Sicherheitstüren, bewaffneten Polizisten und selbstauslösenden Waffen absieht, ist das Ganze ein echter Klacks," sagt Lance sarkastisch.
„Aber wir sind genauso gefährlich wie diese Menschen," sagte Jai. „Ich will, dass ihr das immer im Hinterkopf behaltet. Ihr seid ausgebildete Krieger, ihr habt gelernt, hier draußen in der Wüste zu überleben. Dann werdet ihr das da mit links schaffen. Wir werden euch natürlich auch ausreichend ausrüsten."
Bei diesen Worten klopfte mein Herz schneller. War ich wirklich bereit dazu? Das ganze monatelange, zermürbende Training wurde endlich auf die Probe gestellt. Doch diesmal ging es nicht nur um ein paar Tiere, die ich erlegen musste, sondern, wenn Lances Beschreibung der Sicherheitsvorkehrungen stimmte, um unser Leben.
„Wir sehen uns morgen nochmal, dann werde ich euch eure Waffen geben. Und übermorgen um drei Uhr morgens treffen wir uns vor der Scheune. Jetzt geht euch mit eurem neuen Spielzeug beschäftigen. Prägt euch die Karte gut ein, vor allem die kleinen Ecken. Danke Leute."
Wir verließen die Zentrale und suchten uns dann einen ungestörten Ort, um über die eben erhaltenen Informationen ungestört reden zu können.
Ryu schlug zu meinem Missfallen das Dach des Gebäudes vor.
„Kann man denn einfach so dahin?," fragte ich.
Das war doch mein geheimes Versteck! Da hatte ich einmal einen privaten Rückzugsort nur für mich und sofort stürzten sich andere darauf.
„Klar, das mache ich schon die ganze Zeit," erklärte er. „Verratet es aber niemandem," fügte er hinzu und hob drohend den Zeigefinger.
Also war er von Anfang an nicht geheim gewesen? Das wurde ja immer besser.
Wir versprachen es ihm dennoch.
Vorsichtig drückte Ryu die Tür zum Dach auf und enthüllte dahinter die schmale Treppe.
Nacheinander betraten wir sie und liefen dann nach oben.
Ryu drückte sich am Ende der Treppe gegen die Luke, die sich über ihm befand und drückte sich hindurch.
Wir folgten ihm.
Als ich das Dach betrat, wehte mir ein angenehm kühler Wind entgegen.
Die Sonne sank schon langsam und warf ein wunderbar goldenes Licht auf die Wüste.
Wir lehnten uns an einen Schornstein und betrachteten das kleine Gerät an unserem Arm, als es mit der Haut verschmolz.
Eine Weile sagte keiner etwas.
„Ich habe Angst," murmelte dann auf einmal Harry.
Ich nahm seine Hand und drückte sie leicht.
„Die haben wir alle."
„Nicht alle," kam es von Ryu, der auf dem Rücken ein wenig von uns anderen entfernt lag.
Ich verdrehte die Augen. „Nicht hilfreich."
Jetzt setzte er sich auf. „Ich meine ja nur. Wenn ihr euch die Angst einredet, dann werdet ihr sie auch nicht los. Ihr könnt das Schicksal nicht aufhalten. Wenn jemand von uns verletzt wird oder stirbt, dann soll es eben so sein. Fertig."
„Vielleicht gibt es ja gar kein Schicksal," war meine äußerst kluge Antwort darauf.
„Danke für deinen Beitrag, Quinn. Ich würde mich wirklich liebend gerne mit dir darüber unterhalten, aber ich muss jetzt leider schlafen gehen. Gute Nacht."
Mühelos sprang er auf und verließ das Dach.
„Er hat ja Recht. Ich bin echt ein Angsthase," sagte Harry.
„Bist du nicht. Setze einfach alles in Brand und uns wird nichts passieren," sagte ich grinsend.
„Klar und zusätzlich ziehst du die Aufmerksamkeit von jedem auf uns. Super Plan," sagte Lance.
Wahnsinn, wie aufbauend hier jeder war.
„Ich geh auch mal pennen," verabschiedete er sich.
„Ich auch, das hier ist mir echt zu langweilig," sagte Violet und ging ebenfalls. Nach und nach verließ jeder das Dach, bis nur noch Harry und ich dort saßen.
„Vielleicht sollten wir auch ins Bett gehen," meinte Harry.
Ich nickte und wir gingen gemeinsam runter.
Schlafen konnte ich nicht. Stattdessen starrte ich stundenlang auf die Karte, bis mir irgendwann doch die Augen zufielen und ich von riesigen Häusern und Labyrinthen träumte, in denen ich verschwand und für immer verloren war.
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