34« Davis


Frustriert beugte ich mich über die Papiere auf meinem Schreibtisch und überlegte angestrengt, was ich mit ihnen machen sollte. Unterschreiben? Ablehnen? Warten?

Mein erstes Gefühl schlang sich um den Papierkorb. Ich brauchte die Gebäude nicht und der Aufwand sie abzureißen und neu aufzubauen, erschien mir ermüdend und langweilig.
Andererseits war die Lage der Gebäude optimal und konnte in naher Zukunft von Vorteil sein.
Ein zweites Gefühl wollte die ehemaligen Hotelanlagen nur abreißen und äschern, um ihrem ehemaligen Besitzer noch ein Stückchen meiner Rache zu zeigen.
Es wäre mir Genüge ihm einen weiteren Teil seiner Existenz zu nehmen, aber Wilson besaß sowieso nichts mehr, er hatte bereits alles verloren. Es war also unnötig, immerhin hatte ich ihm schon gezeigt, was ich mit Menschen wie ihm machte.

In was einer Lage er im Moment war, wusste ich nicht.
Vor einigen Wochen waren seine dreckigen Geschäfte und Misshandlungen wild durch die Presse gegangen und ich hatte einige Tage köstlich darüber gelacht. Wie die Verhandlungen über ihn allerdings ausgegangen waren und ob sich einige Opfer ebenfalls an die Öffentlichkeit gewagt hatten, wusste ich nicht.

Seine Hotelkette war jedenfalls in alle Brüche gegangen und stand nun in einzelnen Teilen zum sofortigen Kauf zur Verfügung. Das war an mir nicht vorbeigegangen und so hatte man mir gleich heute Morgen Verträge und Ansichten zugesendet, um mich nach meiner Meinung zu fragen.

Wilson war ein Arschloch, aber er war Geschichte. Es war wirklich die Frage, aus welchem Grund ich seine ehemaligen Gebäude brauchte. Gute Investitionen konnten sie allemal sein, aber wollte ich wirklich in solch dreckigen vier Wänden hausen? Das war auf gleiche Weise widerlich.

Unschlüssig stieß ich mich vom Schreibtisch ab, drehte mich mit dem Stuhl und wandte mich der Aussicht aus den Fenstern zu.
Es war ein Klischee, dass in meiner gesamten Wohnung bodentiefe Fenster als Ausblick dienten. Jeder reiche Schnösel besaß eine solche Wohnung. Aber war das ein Wunder? Seattle war unglaublich. Die Aussicht aus den Fenstern musste man genießen, wenn man schon dazu gezwungen war im Alltag immer eine Kapuze zu tragen. Von unten bekam man nur die Hälfte mit, hier oben spielten sich fabelhafte Sonnenuntergänge und kilometerweite Ausblicke ab.
Nur hier oben war man den Regenwolken nahe. Ich liebte das.

Tears und ich waren vor gut einer Woche wieder zurück.
Dass sie in nächster Zeit hier wohnen würde, war kein Verhandlungspunkt mehr, denn sie wusste, dass sie sich in diesem Falle gegen mich geschlagen geben musste.

Mir war einfach wohler, wenn Tears bei mir war. In den letzten Tagen waren wir uns ganz offensichtlich näher gekommen und auch wenn unser Zusammensein sich noch immer auf freundschaftlicher Ebene bewegte, spürten wir beide deutlich, dass da mehr zwischen uns war. Da war mehr zwischen uns.

Ich fühlte mich zu ihr hingezogen. Das war schon immer so gewesen.
Ich hatte ihre Anziehungskraft nur überspielt, mich gegen sie gewehrt. Es nicht zu tun, war allerdings so einfach, dass ich meinen Kampf aufgegeben hatte. Tears hatte gewonnen – ohne das sie es wusste.
Sie hatte mich gewonnen –  meine Sinne, meine Macht, meine Beherrschung. Ich war ihr grenzenlos verfallen.
Wie konnte ich nicht?

»Davis?«

Ich liebte es, wenn sie meinen Namen durch die Wohnung rief.
Sie war wieder da!

Voller Erleichterung erhob ich mich und verließ mein Büro um die Treppe hinab in die Küche zu eilen.
Wie schön sie doch aussah.
Ihre Haare fielen offen auf den Rücken und krausten sich an den Spitzen. Ich mochte es, wenn sie so bunt angezogen war, wie heute.
Ein roter Pullover - rot war ganz offensichtlich ihre Lieblingsfarbe - eine blaue Jeans und zwei kunterbunte und von Grund auf unterschiedliche Socken in ihren niedlich gelben Converse, die schon einige Jahre hinter sich hatten.

Mir gefiel ihr Aussehen zu jeder Zeit, aber wenn sie sich nicht extra herausputzte, sah sie am schönsten aus. Am letzten Abend in England waren wir mit der Familie essen gegangen und Tears hatte sich in ein wunderschönes blaues Spitzenkleid geworfen, auf das viele weiße Gänseblümchen gestickt waren. Sie hatte zauberhaft schön ausgesehen, hatte sich Wimperntusche und einen sanften Lippenstift aufgetragen und kleine Ohrringe unter ihrer Hochsteckfrisur hervorspringen lassen.
Ich hätte sie die ganze Nacht anstarren können und wäre am liebsten auf ewig in dem kleinen Restaurant in Bath geblieben, um Tears beim Reden zuzuhören und ihrem Lachen zu lauschen. Ich wusste bis heute nicht, was ich tun würde, wenn ich es je verlieren würde.
Ich wäre tot und auf alle Ewigkeit enttäuscht, denn so etwas Schönes zu verlieren, war ein Lebensverlust.
Ich war noch immer froh, dass sich Tears so gut mit meiner Familie verstand. Daran hatte ich allerdings nie gezweifelt, denn Daniel mochte sie schon nach den ersten Minuten, in denen er sie kennengelernt hatte und Mum sowieso. Gray und Dad waren zuletzt auch hin und weg von ihr und das lag vor allem daran, dass sie im Stillen gehofft hatten, dass ich ein ordentliches, bodenständiges, natürliches Mädchen finden würde und nicht eine Frau von meinen unzähligen Geschäftsessen.

Ich war in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Meine Eltern lebten als ganz normale Bürger und auch ich war es bis vor einigen Jahren noch gewesen. Der Reichtum war eine Ausnahme in meiner Familie und trotz meines Geldes hatten meine Eltern mich erzogen, meinen Haushalt selbst zu schmeißen. Ich war kein hoffnungsloser Typ beim Kochen und auch Wäschewaschen oder Staubsaugen waren vollkommen natürlich.
Ich hatte keine Haushaltskraft und meine Eltern erst recht nicht. Mein Zuhause war ein normales Reihenhaus irgendwo in Bath und keine milliardenschwere Villa mit Pool.
Tears war Luxus nicht gewohnt und das meine Familie, genau wie sie, aus einfachen Verhältnissen kam, ließ sie wohler fühlen, als in der Nähe von meinen Geschäftspartnern.
Sie hatte das Geschäftsessen, an dem wir uns zum ersten Mal getroffen hatten, vermutlich schon vor der Weinflasche unglaublich schrecklich gefunden. Kein Wunder.

Tears liebte meine Familie, das hatte man deutlich gesehen. Sie war förmlich aufgeblüht in einem familiären Alltag, in dem man Filmabende zusammen machte, abends grillte, stritt, Spazieren ging und gemeinsam frühstückte.
Für mich war das alles noch immer so normal wie Schuhe anziehen, aber für Tears schien es, als sei es etwas, was man ihr gestohlen und plötzlich wieder geschenkt hatte.
Das war schön und bitter zugleich.

»Ah, da bist du ja!«
Sie drehte sich mit einem erleichterten Lächeln zu mir um und ließ ihre Haare damit einmal durch die Luft wirbeln. Wieso sah ausgerechnet das so sexy aus?

»Kannst du mir helfen und das Mehl oben in den Schrank räumen?«
Sie deutete hilflos auf einige Packungen Mehl und Zucker und dann auf den hohen Hängeschrank an dem sie ganz offensichtlich nicht drankam.
»Aber natürlich.« Ich grinste amüsiert, weil sie alle anderen eingekauften Dinge wohl in die Schränke geworfen hatte. Kreuz und quer lagen die Lebensmittel in meinen Schränken und auch wenn ich gerne meine Ordnung hielt, fand ich diesen Anblick einfach nur lustig.

»Hör auf so blöd zu grinsen!«, meckerte sie empört und zugleich beschämt und stieß mich grinsend zur Seite, als ich alles eingeräumt hatte und noch immer lachte.
Es ging nicht anders.
»Dann hör du auf so niedlich zu sein!«, empörte ich mich ebenfalls und stützte divamäßig meine Hände in die Seite, um ein wenig zu dramatisieren.

»Ich bin nicht absichtlich niedlich. Es ist dein Pech, wenn du ein Problem mit meiner Niedlichkeit hast!«
»Das Problem ist, dass ich kein Problem damit habe.«
»Jetzt bring mich nicht aus dem Konzept, ich wollte gerade etwas kochen. Hast du schon etwas gegessen?«

Es war kurz nach Mitternacht was glaubte sie, hatte ich den ganzen Abend über gemacht.
Auf sie gewartet.

»Ja, ich hab' schon.«
Sie nickte kurz angebunden und machte sich dann daran eine Pfanne mit Gemüse und Reis zu füllen. Ich setzte mich auf einen Barhocker und beobachtete sie einfach. Ihre Gesichtszüge waren nach einigen Minuten voll auf das Kochen fixiert und entspannt schnitt sie Karotten, Paprika und Zwiebeln, um alles später zu mixen.
Es duftete nach einigen Minuten herrlich und ich naschte ab und an, wenn Tears sich an der Arbeitsplatte umdrehte und nach Zutaten suchte.

Wir hatten die letzte Woche meistens zusammen gekocht und dabei herausgefunden, dass sich unsere Kochkünste perfekt ergänzten. Es machte riesigen Spaß zusammen am Herd zu stehen und nebenbei zu Eminem im Hintergrund zu tanzen. Tears hatte einen hervorragenden Musikgeschmack und Rap fanden wir beide super.
Der Sprachgesang war bei zwei Nicht-Sängern eben nur halb so blamierend wie Pop oder klassische Musik.

»Ey, das habe ich gesehen!«, kichernd schlug mir Tears auf die Finger, als ich meine wieder nicht bei mir behalten konnte.
»Es schmeckt halt gut.«
»Wusste ich doch, dass du trotzdem etwas essen würdest! Ich dachte, dass Frauen immer sagen sie hätten keinen Hunger und dann später das Essen der Männer klauen. Dabei ist es andersherum!«
»Ich habe ja nie behauptet, dass ich keinen Hunger habe.«

Sie schüttelte schmunzelnd den Kopf.

»Es ist sowieso genug für uns beide, aber jetzt warte, sonst verbrennst du dich noch.«
Sie hielt meine Hand, während sie das Essen würzte und perfektionierte, und obwohl sie das machte, um mich aufzuhalten, schlug mein Herz bei dieser Geste höher. Es war wirklich nicht normal, wie sehnlichst gern ich ihre Nähe hatte.

Den ganzen Abend über hatte ich sie vermisst. Gegen acht war sie in James Begleitung gefahren. Er war jetzt nicht nur mein Bodyguard und Fahrer, sondern auch ihrer.
Wenn ich zu Hause blieb, gab es genug Sicherheitsleute, die mein Apartment rund um die Uhr bewachten, es war ein sicherer Ort.
James - und noch drei weitere Leute - begleitete mich grundsätzlich überall mithin, ob es nun auf Events, Geschäftsessen oder nur zur Arbeit war.
Seitdem Tears wieder arbeiten ging - was mir im Übrigen überhaupt nicht genehm war - begleitete er sie rund um die Uhr. Mir war es lieber sie in Sicherheit zu wissen, als mich selbst.

Ich wollte Tears nicht vom Arbeiten abhalten und in meiner Wohnung einsperren. Sie war eine Frau des 21. Jahrhunderts und hatte das Recht arbeiten zu gehen. Mir war nur nicht geheuer, als was sie arbeitete und wo sie arbeitete.
Downtown war bei Nacht wirklich ein ungeheuerliches Stadtviertel - egal ob für Mann oder Frau - und ich wollte sie einfach sicher und behoben wissen.
Es erleichterte mich sehr, dass sie wieder hier war, denn dann schoben sich auch meine Sorgen um sie in den Hintergrund.
Es war keine Einbildung, dass auch von ihren Schultern Last fiel, wenn sie durch den Aufzug in meine Wohnung trat. Sie war gerne hier, das sah man ihr an, und es freute mich, dass sie gerne bei mir zu wohnen schien.

Was mich gar nicht freute, war die Tatsache, dass sie sich seit unserer Rückkehr ins Gästezimmer zurückgezogen hatte. Ich vermisste sie nachts sterblich, denn es war zur Gewohnheit geworden sie nachts in den Armen zu halten und so lange für sie wach zu bleiben, bis ihre Tränen versiegt waren und sie eingeschlafen war. Manchmal hatte ich ihr zwei Stunden am Stück beim Weinen zugesehen, ihre Haare gestreichelt und sie enger an mich gezogen. Ihre Wärme zu spüren war zur Normalität geworden, ihr Herz neben meinem.

Es war schade, dass sie sich hier sofort zurückgezogen hatte. Vielleicht war das ihre Reaktion auf Nähe oder aber es war ihre explizite Reaktion auf mich. Letzteres brach mir das Herz.

»Wollen wir auf der Terrasse essen?«, fragte ich sie.
Den Tag über war es verhältnismäßig sehr trocken geblieben und die Möbel mussten so weit trocken sein, dass man die klare Nacht genießen konnte.

»Ja, können wir gerne.«
Sie lächelte und ich löste unsere Hände, um die Vorhänge zur Seite zu fahren und die Schiebetür zu meiner großen Terrasse zu öffnen.
Kühle, klare Luft umwirbelte meinen Pullover und eine Gänsehaut schauderte über meine Arme, als ich hinaustrat und Tears hinter mir klappern hörte.

Die Nacht war wundervoll.

Fasziniert schob ich zwei Liegestühle unter den freien Himmel und setzte mich auf einen, um dann fasziniert in die Höhe zu sehen. Tears kam nur wenige Minuten später mit zwei Schälchen und duftendem Essen nach und setze sich neben mich.

»Weißt du, dass ich nach unserem ersten Streit nie wieder richtig schlafen konnte. Ich stand nächtelang auf der Terrasse und habe mich gefragt, wo du wohl gerade bist, was du machst, ob du weinst und wie sich deine Stimme anhörte. Ich konnte und wollte dich nicht vergessen, aber damals wusste ich das noch nicht.«
»Du hast mir davon schon mal erzählt.«
»Ja, aber damals klang es, als sei es eine Lüge. Das ist es nicht, ich war wirklich aufgeschmissen und schlaflos. Überall war dein rotes Kleid.«
»Ich konnte damals auch nicht schlafen, aber ich kann schon seit langer Zeit nicht mehr schlafen.
Ich habe an deine Arroganz und meinen Hass gedacht, aber deine Augen waren ebenfalls etwas, was mich nicht hatte loslassen wollen.«

»Wirst du mir irgendwann von deinen Alpträumen erzählen?«
»Es sind keine Alpträume. Es sind keine Fantasiespektakel die in meinem Kopf entspringen und mir Angst machen. Es ist mein Leben, dass mich nicht schlafen lässt.«
»Wer bist du, Tears Evens?«

»Ich bin eine zerbrochene Vase, der man alle Einzelteile geklaut hat.
Ich bin ein See, in dem das Wasser  versiegt ist.
Ich bin ein Geist, dem man die Fähigkeit genommen hat, sichtbar zu sein.
Ich bin ein Mensch, der nicht mehr lebt.
Ganz einfach.«

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