23« Tears


Als hätte der Sommer, ohne den Herbst kommen zu lassen, in den Winter gewechselt, veränderte sich Janes Gesundheitszustand ohne Warnung.

Von heute auf morgen färbten sich ihre Lippen blau und ihre Augenringe sanken immer tiefer auf ihre Wangen.
Mit hohem Fieber lag sie auf dem Sofa, tat sich schwer im Trinken und hatte keinen Appetit mehr.
In der Nacht weinte sie sich qualvoll in den Schlaf und sie schaffte es nur mit meiner Hilfe aufzustehen.

Nach unserem Ausflug zum Space Needle hatten Jane und ich uns den ganzen Freitag von einem Museum zum nächsten bewegt und uns mit Eiscreme in den Westlake Park gesetzt. Auch den Samstag und Sonntag hatte es geregnet, aber davon hatten wir uns nicht abschrecken lassen.
Lachend hatten wir im Regen getanzt und uns mit Mum und Dad unterhalten oder uns Geschichten aus einer Zeit erzählt, die noch gar nicht lange her war.

Auf Janes kurzer To-Do Liste des Lebens hatten wir jeden Punkt abgehakt.
Sie hatte meine Freunde kennengelernt, sogar drei neue Kleider bekommen, einen besten Freund gefunden, Alkohol getrunken, Seattle erkundet, im Regen getanzt, in der Nacht die Stadt unsicher gemacht und war mit mir teuer essen gegangen.
Samstagnachmittag hatte sich Leah unserer Gruppe angeschlossen und uns zu einem Konzert eingeladen, auf dem wir abends gewesen waren.
Sonntag hatten wir Matt und Jason in der Stadt getroffen und mit den beiden Wahrheit oder Pflicht mitten in Seattle gespielt, bis das ganze ein wenig eskaliert war und Jason von einer Fußgängerin mit ihrer Handtasche geschlagen wurde. Wir waren vor lachen beinahe erstickt, aber hatten das Spiel letztendlich doch abgebrochen und uns in ein Café gesetzt.
Montag waren wir zusammen schwimmen gegangen und Dienstag hatten wir bei einer Stadttour mitgemacht, die Jane sich schon immer gewünscht hatte.

Es war nicht leicht gewesen, wirklich lange Spaß zu haben, denn Jane war schon nach Sekunden außer Atem. Sie musste immer am Rand schwimmen und sich von mir stützen lassen und auch die Stadttour hatten wir nicht voll durchgehalten.
Beim Wahrheit oder Pflicht spielen war ich dankbar, dass die Jungen sie nicht lange Strecken laufen ließen und sich ihrer Ausrede, Asthma zu haben, annahmen.

Mit Schminke, einer einfachen Wollmütze und einer Sonnenbrille war es einfach Jane wie einen gesunden Menschen zu verkleiden und sie strengte sich an, damit niemand an ihrer Gesundheit zweifelte. Ich wunderte mich, dass niemand Verdacht schöpfte, aber auf gleiche Weise erleichterte es mich auch.
Jane bekam das, was sie sich immer gewünscht hatte; Sie wurde aufrichtig und ehrlich geliebt, wie ein normal sterblicher Mensch.
Das war ihr immer wichtig gewesen. Die Menschen sollten sie sehen nicht ihre Krankheit.

Heute war Donnerstag und heute vor einer Woche hatte Davis mich einfach stehen lassen. Es war so gewesen, wie ich es mir schon gedacht hatte.
Sein Image und dieser Reichtum machten ihn zu einem erhobenen Mann, den es nach Rache lechzte.
Menschen und Gefühle waren ihm egal.
Es waren keine leeren Worte gewesen, die er mir vor Wochen mitten auf der Straße, als ich angeblich sein Smartphone kaputt gemacht haben sollte, gegen den Kopf geworfen hatte. Er verachtete mich und ich war bloß ein dummes Spiel für ihn gewesen. Davis lag nichts als seine Rache an mir. Ich hatte ihn beleidigt und das hatte er mir mit seinem Charme heimzahlen wollen.

Ich war wütend auf mich, weil es geklappt hatte. Ich hatte begonnen ihn zu mögen, ihm zu trauen, ihm all seine Worte zu glauben.
Ich konnte nicht fassen, wie unglaublich naiv ich gewesen war, dass ich auch noch Spaß in seiner Nähe gehabt hatte, ihn umarmt hatte!
Ich war ihm verfallen und er hatte es leicht gehabt mich wie eine Fliege zu verscheuchen. So leicht.

Als mir im Aufzug vor vierzehn Tagen die Zweifel gekommen waren, hätte ich mir selbst vertrauen sollen. Ich hätte ihm nicht meine Hand reichen dürfen, sondern hätte lieber auf den Knopf zurück nach unten drücken sollen. Alles wäre besser gewesen, als diesem Arschloch mein Leben anzuvertrauen und ihn gewinnen zu lassen.

Er hatte gewonnen. Verdammt, er hatte sowas von gewonnen. Ich hatte ehrlich geglaubt einen Teil seines Innersten ändern zu können. Ich hatte geglaubt, er würde mich wertschätzen, mich mögen und mich akzeptieren, so wie ich war. Aber er hatte in mir immer weiter nur eine billige Kellnerin gesehen, die er auf den Boden stoßen, vorführen, bloßstellen und verletzten wollte.
Und es hatte funktioniert.
Ich hatte auf den Treppenstufen gesessen und geweint, als er achtlos davongefahren war und mich einfach zurückgelassen hatte, ohne auch nur den Hauch von Reue.

Er hatte das alles geplant.
Er hatte beabsichtigt mir mein Herz zu stehlen und es dann in aller Freiheit nach Belieben zu zerreißen. Ich konnte nicht fassen, wie leicht ich es ihm gemacht hatte. Ich hatte ihm verdammt noch mal vertraut. So sehr.

»Hallo?«

Janes Stimme war bloß ein Hauch und sie hatte sich zu räuspern, als ihr Gesprächspartner eine Frage stellte. Ihre verklärte Miene wandelte sich innerhalb von Sekunden und ich sah, wie sie sich eines Lächelns versuchte.
»Ja, ich bin angeschlagen. Ich sehe aus wie eine Leiche, also wundere dich nicht.« Sie versuchte damit zu spaßen, doch bei mir kam dieser Witz nicht an. Das alles war ganz und gar nicht lustig.

»Gut, dann bis gleich.«
Jane lächelte und legte auf, um gleich danach loszuhusten und sich in die Kissen des Sofas zurücksinken zu lassen.
Ihr Zustand trieb mir die Tränen in die Augen. Ich wollte seit Tagen nichts sehnlicher als losschreien und um mich schlagen, weil mich diese Welt so sauer und wütend und traurig machte.

Ich wollte Davis dafür hassen, dass er mit mir spielte und mit meinen Gefühlen um sich warf, als seien sie Geldscheine, von denen er so übermäßig viele hatte.
Ich wollte die Ärzte anbrüllen, dass sie doch etwas machen sollten, um mir meine Schwester zurückzugeben, aber das konnten sie nicht. Ich wollte endlich wieder weinen, aber Jane verbot es mir, sie wollte mich nicht an ihren Schmerzen zerbrechen sehen, aber das würde ich früher oder später sowieso.

»Tears, kannst du mir aufhelfen?«
Vom Blitz getroffen erhob ich mich aus meiner Starre und half meiner Schwester ins Badezimmer, wo sie sich vor den Spiegel stellte und sich zu schminken begann.

»Was hast du vor, Jane?«, fragte ich irritiert, weil wir nicht vorhatten die Wohnung heute noch einmal zu verlassen. Für wen also wollte sie sich verhüllen?
»Daniel hat gerade angerufen. Er fliegt in zwei Stunden zurück nach England und will sich von mir verabschieden. Er kommt gleich.«

Ich nickte benommen. Wenn Daniel hier auftauchen würde, dann hieß das auch, dass Davis hier auftauchen würde. Wut keimte in mir auf, so viel Wut und noch mehr Enttäuschung. Wie hatte ich glauben können, dass er sich aus eigener Freude mit mir treffen wollte? Wie hatte ich ihn je anlächeln können?

Mein Blut kochte, wenn ich an mich selbst in diesem Spiel dachte. Ich war so unglaublich dumm gewesen.

»Dann wollen wir dich mal schön machen.«
Ich lächelte aufmunternd, doch tief in meinem Inneren war ich es leid.
Daniel war nicht schuld an meiner Enttäuschung und ich bezweifelte keine Sekunde, dass wenigstens er es mit meiner Schwester ernst meinte. Er mochte Jane wirklich und vor allem mochte sie ihn wirklich.

Die beiden waren mit sehr viel Zufall ineinander gelaufen und ich dankte dafür. Die Erfahrung, einen gleichaltrigen Jungen zum
Freund zu haben, war etwas sehr Wichtiges, bevor man von dieser Welt ging. Jane hatte wirklich Glück mit Daniel.

»Sieht man meine Augenringe noch?«, fragte sie leise und versuchte sich an einer aufrechten Haltung, als ich den Kopf schüttelte. Sie sah gesund aus.
Als wäre alles in Ordnung. Aber das war es nicht.

»Du wirst mich trotzdem halten müssen, ohne dich schaffe ich es nicht.«
Ihr Lächeln fiel in sich zusammen, als sie versuchte alleine durch die Wohnung zu laufen. Sie kippte hier und da, begann zu husten und ihre Lunge rasselte, als sei sie jahrelang ein Kettenraucher gewesen. Ich war unendlich traurig.

»Ich werde nicht von deiner Seite weichen, keine Sorge.«
Ich schlang meine Arme um ihre Hüfte und stützte sie bis zur Haustür.
Eingepackt in Schal und Regenjacke half ich ihr die Treppe hinabzusteigen und hinaus auf die Straße zu laufen.

Hier auf den Stufen, vor diesem grausigen Haus, hatte Davis mich stehen lassen. Er war einfach gegangen, ohne sich umzudrehen, ohne mir zu erklären, warum er nicht länger etwas mit mir zu tun haben wollte.
Er brauchte es mir nicht zu erklären, ich verstand schon.

Durch den Stoff ihrer Kleidung spürte ich nicht, wie kalt Jane war, doch wenn ich ihre Hand in der Nacht hielt, durchfuhr es mich schaurig.
Das Atmen fiel ihr schwer, so schwer und ich dankte für jede Sekunde, die mir mit ihr noch blieb. Wie gerne würde ich mit ihr tauschen und ihr ermöglichen, sich nicht für immer von Daniel zu verabschieden, sondern ihm versprechen zu können, dass sie sich in den nächsten Ferien wiedersehen würden.
Vielleicht hätte ihre Freundschaft Züge der Ewigkeit gehabt und vielleicht hätte sich aus ihren Witzen eine tiefe Verbundenheit entwickelt, die irgendwann in Liebe geendet hätte.
Jane wäre es so gegönnt gewesen.
Sie hätte es verdient zu leben und mit Daniel glücklich zu werden.

Warum wollte man unbedingt mich auf dieser Erde haben? Warum mich, wo ich doch alles verlor, was mich hier hielt?
Sogar Davis hatte ich verloren, bevor überhaupt irgendwas zwischen uns gewesen war. Ich wollte ihn hassen.

Mit dem anrollenden Mercedes verspannte sich Jane und es dauerte keine drei Sekunden, da sprang der hübsche Junge aus dem Auto und schlug die Tür des Beifahrersitzes hinter sich zu.
Sein Bruder saß wie eine goldene Statue hinter dem Lenkrad und blickte in die Ferne, als gäbe es dort etwas ganz interessantes, was er nicht verpassen durfte.

In meinen Augen brannten die Tränen. Wie hatte ich mich so in ihm täuschen können?
Wie hatte ich wirklich so viel Glauben in ihn stecken können? Wie hatte ich ihm eine Chance geben können?
Wieso schlug mein Herz noch immer höher, selbst wenn er nur so dasaß und nichts tat?

Seine Haare hingen wirr um seinen Kopf, seine nassen Locken krausten sich wild.
Wieso war er so hübsch? Wieso fand ich ihn hübsch?
In seiner Jeansjacke und der gerissenen Hose, die ihn wie einen Teenager aussehen ließen, wieso?
Er war jung, warum gefiel mir das so? Dieses steinerne Gesicht. Warum war es attraktiv, wenn er sich auf die Lippen biss?

Er schien so perfekt, doch sein Charakter war der widerwärtigste, dem ich je begegnet war.
Ich hasste ihn. Ich hasste ihn. Ich hasste ihn.

Und unter all meinem Hass, mochte ich ihn. So sehr.

»Wow. Du siehst echt scheiße aus.«
Daniel grinste schief und umarmte Jane lachend, als sie ihm gegen die Schulter boxte. Er wiegte sie in seinen Armen hin und her und versteckte sein Gesicht an ihrer Halsgrube, während er lächelte.
Die beiden schienen mich vergessen zu haben, aber das war okay. Der Moment gehörte nur ihnen. Jane war glücklich.

Sie hatte einen Jungen, der sie wahrhaftig liebte.
Einen Jungen, der keine Ahnung hatte, wie kostbar diese Umarmung war und wie selten er sie noch zu Gesicht bekommen würde.
Für Daniel war es ein Abschied für kurze Zeit. Ich war mir sicher, dass er so schnell wie möglich versuchen würde zurückzukommen.
Dann ist es vermutlich schon zu spät.

Für Jane war dieser Abschied für die Ewigkeit. Nur der Tod würde sie beide je wieder zusammenbringen können.
Ich hasste, dass ich das wusste.
Und mir tat es so unglaublich weh, dass er keine Ahnung von den Umständen hatte.
Er würde sie nie wieder sehen...

Nie wieder würde er sie so lächeln sehen, wie sie ihn jetzt gerade anlächelte. Und dieses Lächeln war so kostbar. Es war so unglaublich kostbar.

»Ich weiß wie ich aussehe, du Arsch.«
Jane löste sich lächelnd, ließ ihre Arme aber auf seinen Schultern liegen und hielt sich tapfer auf den Beinen. Ich sah sie mit sich und ihren Schmerzen kämpfen. Daniel sah nur sie.
Lange sahen sich die beiden in die Augen und genossen das Gesicht des anderen.
Ich weinte aus Freude für diese junge Liebe und aus tiefem Trauer, dass sie keine Zukunft hatte.

»Krass, das wir beide uns erst zwei Wochen kennen. Ich habe das Gefühl, dass du schon seit Ewigkeiten meine beste Freundin bist.«
»Ich habe nicht nur das Gefühl, als wäre es so, ich weiß es.«
Daniel begann zu strahlen.
Sein Lächeln war ehrlich, offen und es galt nur Jane.

»Du bist etwas ganz Besonderes, Jane. Ich hoffe, du weißt, dass ich dich sehr gerne habe.«
»Ich werde es mir merken.«
Ich schluckte.
»Aber bitte merke dir auch etwas.«
Ihre Augen wurden größer und ich wandte mit der ersten Träne meinen Blick ab.

»Bitte vergiss nicht, wer du bist und das du perfekt bist und dich niemand zu verurteilen hat. Bitte sei immer du selbst und lächle, wenn du mich lächeln siehst. Du wirst wissen, wann genau das sein wird.«
Er schien nicht zu verstehen, wie auch, doch war er ganz offensichtlich gerührt von ihren Worten.
»Vergiss mich nicht.«
Sie klang scherzend, aber es war nicht zum Scherzen gemeint.
Das war ihr voller Ernst.

»Ich kann dich gar nicht vergessen, denn bin ich schon in wenigen Wochen wieder hier. Meine Eltern wollen Davis besuchen und gucken wie es hier in Seattle aussieht, da komme ich auf jeden Fall mit und besuche dich. Meine Eltern werden dich lieben, glaub mir, meine Mum war schon am Telefon entzückt. Ich will dich ihnen unbedingt vorstellen. Hauptsache du hast mich bis dahin nicht schon vergessen.«
Du hast ja keine Ahnung...

Er zwinkerte und gab ihr dann einen Kuss auf die Wange.
Einen für die Ewigkeit.

»Das werde ich nicht.«

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