2« BONUSKAPITEL || Davis
[Ein wenig spät, aber hier ist es. Danke für 100k. ❤️ Viel Spaß beim Lesen]
Die Schwangerschaft war für die Mehrzahl aller Menschen wohl die Zeit der Vorfreude, der Stimmungsschwankungen, der Namen-Suche und der Kinderklamotten-Shoppingtouren.
Als Gray mir damals verkündete, dass ich Onkel werden würde, war er der stolzeste Mann aller Zeiten gewesen.
Er hatte ständig in die Luft gegrinst, war übervorsorglich gewesen und hatte sich keine zehn Meter von dem wachsenden Babybauch entfernen wollen.
Er war überfreudig gewesen und Miras Glück konnte ich bis heute nicht erklären.
So viel Liebe, so viel Hingabe, Wohlgefühl und Herz hatte in ihren Augen gelegen, wann immer ich die beiden und meinen zukünftigen Neffen besucht hatte.
Für sie war das Baby, das größte und schönste Geschenk auf Erden gewesen und sie waren die wohl frohsten Eltern aller Zeiten, wie viele Paare auf dieser Welt.
Meine Mutter hatte früher immer gesagt, dass man vom Glück erst reden konnte, wenn man es in den Armen hielt.
Wir Kinder waren für sie das größte Glück gewesen und auch, wenn drei Jungen nicht immer leicht zu handhaben gewesen waren, so liebte sie uns doch grenzenlos.
Dass Tears unser Baby liebte war keine Frage, sondern eine Antwort.
Sie liebte dieses ungeborene Kind ungemein.
Aber diese neun Monate waren keine Zeit der Vorfreude, der Stimmungsschwankungen, der Namen-Suche oder den Shoppingtouren.
Nein, diese neun Monate waren ein Ritt durch die Hölle selbst und ich versuchte wirklich alles, um Tears bei Laune zu halten, ihr beizustehen und immer ihre Hand zu halten, aber das war vor lauter Leid beinahe unmöglich.
Sie war Protagonistin einer Geschichte, die niemand mit ihr teilten wollte.
Sie war eine Frau, die viel mehr erlebt hatte, als man einem Menschen auf einmal zumuten konnte und jetzt, wo sie langsam fähig war, sich von allen Strapazen des Lebens zu erholen und wieder vernünftig daran teilzuhaben, kam die nächste Ernüchterung, mit der nächsten Last und den nächsten Schmerzen.
Als Jane starb, zersprang Tears wie eine Vase aus Glas.
In all der Zeit danach war ich bei ihr. Ich war da. Immer.
Ich bettete sie in meinen Armen, wenn sie Alpträume hatte, ich hielt ihre Hand, wenn es wieder Zeit war nach San Francisco zu fahren.
Ich war dabei, als sie ihren Führerschein machte, als sie den Schulabschluss nachholte und danach zur Uni wechselte, als sie endlich ihren Traumjob ausleben durfte.
Ich war bei jedem Hoch und jedem Tief an ihrer Seite.
An Janes erstem Todestag, bei Tears erstem Absturz, der sie mit ihren schweren Bisswunden am gesamten linken Handgelenk zwei Tage im Krankenhaus liegen ließ, bei ihrer ersten Therapiestunde, der Zeit danach, die es langsam wieder bergauf ging, bis zu ihrem zweiten Absturz - einem Biss in ihren Oberarm und jedem Moment danach.
Tears war ein Mensch, der nie wieder ganz heil sein konnte.
Ich wusste das.
Sie würde niemals dieselbe Person sein, die sie zu Anfang ihres Lebens gewesen war.
Mit ihr würde das Leben einer Achterbahn gleichen.
Es würde noch mehrmals zu ihrer Selbstverletzung kommen, sie würde noch ein paar Mal von mir wegrennen und ihre Tränen würden wohl niemals, niemals versiegen.
Aber gerade, weil sie doch so kaputt war und weil ihr Leben ein Ritt ohne Sattel war und weil sie es nie leicht hatte, verstand ich nicht, wieso sie nun auch noch schwanger geworden war, obwohl wir wirklich mit allen Mitteln gleichzeitig das zu verhindern versucht hatten und es jahrelang geklappt hatte.
Wenn es nach allem eines gegeben hatte, was Tears niemals gewollt hatte, dann waren das ihre eigenen Kinder.
Das alles klang hart und unmenschlich, aber jeder der Tears Geschichte kannte, konnte dieses Denken nachvollziehen.
Ich am allermeisten.
Ich hatte diese Entscheidung von Anfang an verstanden und akzeptiert.
Ich hatte ihre Beweggründe gekannt, hatte eingesehen, dass sie das Risiko nicht eingehen wollte, dass sie sich selbst nicht über
den Weg traute und, dass sie niemals wieder einen lieben Menschen leiden sehen wollte.
Ich hatte mich damit abgefunden, hatte sie auch dabei unterstützt. Wenn es ihr half dann war ich bereit, auf alles zu verzichten, das sie nicht ertragen konnte.
Aber nun war es doch geschehen.
Sie war schwanger.
Meine liebe Frau war schwanger und sie bekam ein Kind, das in ihr aufwuchs und voll und ganz das ihre war.
Ich wusste nicht, wer es war, der sie so leiden sehen wollte.
Ich wusste nicht, womit sie das verdient hatte.
Ich wusste so viele Dinge nicht.
Aber eines wusste ich. Ich wusste, dass dieses Kind geliebt wurde und dass Tears es trotz allem, niemals töten würde.
Sie wollte es nicht abtreiben.
Das konnte sie nicht.
Denn das Leid wäre dasselbe.
Für uns beide waren die nächsten Wochen ein Gefühlsbad.
Ich weinte Tränen vor Glück, weil ich nicht glauben konnte, dass ich tatsächlich Vater werden würde, ich weinte Tränen vor Angst, weil ich Sorgen hatte, dass sich die Schatten des Ultraschallbildes wirklich als Tumor herausstellen würden und ich mein Kind verlieren würde und dann weinte ich noch Tränen, weil es mir das Herz brach, Tears anzusehen.
Sie war vollends am Boden zerstört, konnte ihre Liebe nicht zeigen, schaffte es nicht, sich und ihren wachsenden Bauch im Spiegel anzusehen und bei jedem Arztbesuch hielt sie die Augen geschlossen.
Sie hatte so unglaubliche Furcht vor einem Tumor, dass ich mich nicht traute ein Auge zu schließen, weil sie sich in panischen Momenten schreckliche Dinge antat und ich zwanghaft auf sie Acht geben wollte, um jede Art der Selbstverletzung zu vermeiden.
Ich war übermüdet und erschöpft und ich wusste, dass ich mein Verhalten keine vollen neun Monate durchhalten konnte.
Ich konnte nicht dauerhaft in ihrer Nähe sein, immer sicherstellen, dass sie mit jemandem war, vor dem Badezimmer warten, wenn sie auf Toilette ging oder auf meine Arbeit im Büro verzichten.
Ich schaffte es auch nicht, auf Dauer immer den starken Mann zu spielen, sie jederzeit in den Arm zu nehmen und ihr gut zuzureden.
Ich brauchte frische Luft, Zeit für mich, um nachzudenken und auch andere Dinge in meinem Kopf, als die ständige Sorge, dass Tears sich etwas antun würde, weil sie den Schmerz doch nicht ertrug.
Sie war psychisch ein Wrack.
Sie war krank und sie hatte momentan keine Perspektive.
Genau das machte es gefährlich. Genau darum war ich so sorglich und gleichzeitig auch so kaputt.
Tears zwang mich, mehr Angst um sie zu haben, als um das womöglich kranke Kind. Sie ließ mich nicht daran denken, ließ mich nicht selbst Angst um mein Baby haben und auch wenn sie das nicht mit Absicht tat, fand ich ihre direkte Nähe unerträglich und ernüchternd.
Ich konnte die Fassade nicht aufrecht halten, konnte nicht atmen und das ließ mich in einem Schneckenhaus zurückfahren, dass ihrer Person auf noch eine andere Art zusetzte.
Weder für sie, noch für mich war die Zeit leicht.
Ich versuchte alles, um ihr das Leben zu erleichtern, aber zum ersten Mal im Leben schaffte ich es nicht, ihr aus der Dunkelheit zu helfen.
Ich konnte einfach nicht.
»Hast du alles?«
Sie nickte mit ausdrucksloser Miene und zurrte dann weiter an dem überfüllten Rollkoffer, der auf unserem Bett lag.
Ich sah ihre Hände zittern, ihre Haut war ungesund fahl und unsere Distanz zueinander brachte uns beide um.
Ihr so schönes Haar hing spröde um ihren Kopf und lag mehr platt, als wild um ihr Gesicht.
Sie trug eine Jogginghose und einen weiten Pullover und hatte sich seit Tagen nicht mehr aus der Wohnung bewegt um das zu tun, was sie sonst immer gerne getan hatte.
Sie aß weniger, hielt sich extra manchmal zurück und weinte, wenn ich sie anflehte, es für mich zu tun.
Es war alles so kompliziert geworden.
Und das nach nur zwei Monaten, die eigentlich der Anfang unseres Familienglücks sein sollten.
Ich verstand ihr Verhalten.
Ich wusste, dass Tears all diese Dinge tat, wenn es ihr schlecht ging.
Ihre Angst war auch nicht unbegründet.
Aber sie übertrieb.
Ja, sie übertrieb und sie machte alles nur noch schlimmer!
Außerdem sah sie nicht, was ich sah.
Sie sah nicht das große Ganze.
Sie sah nicht, dass sie nicht mehr allein war.
Sie sah nicht, dass dieser Schatten alles bedeuten konnte und sie sich vielleicht viel zu viele Gedanken machte.
Sie sah auch nicht, dass sie nicht mehr in der verrotteten Wohnung ohne Heizung lebte und wir uns jedes Medikament, jede Therapie und jede Operation leisten konnten, um den Tumor zu entfernen.
Die Situation war der von Jane ähnlich.
Sie war auch der ihres Vaters und ihrer Mutter ähnlich.
Aber sie war ihr nicht gleich!
Dieses Kind erbte Gene, die kerngesund waren, hatte zwei gesunde Eltern und beste Chancen, dieses Leben auch leben zu können.
Sie machte sich nicht unnötig verrückt, aber sie machte sich zu verrückt und dazu machte sie auch noch viel zu verrückte Dinge.
Dinge, die sie nicht tun sollte, weil sie damit ihr Leben und das unseres Kindes in Gefahr brachte!
Dinge, die mit ihrer Verantwortung einfach nicht möglich waren!
Ich wollte es nicht wahrhaben, nicht aussprechen, aber tatsächlich fühlte ich mich von ihr verraten, verletzt und allein gelassen.
Denn sie dachte nur an sich.
Sie dachte nicht ein Mal an mich und daran, wie ich mich mit allem fühlte.
Sie glaubte, sie würde dieses Kind verlieren.
Aber ich, ich würde dieses Kind vielleicht auch verlieren!
»Der Koffer ist zu«, stellte ich fest und stieß mich vom Türrahmen ab.
»Tears ... der Koffer er ist zu, du kannst ihn loslassen, ich trage ihn runter.«
Sie rührte sich nicht.
Ihre Finger rissen immer weiter am Reißverschluss herum, zitterten dabei und ließen ihren Körper erbeben.
Ich seufzte leise, rieb mir über die Augen und richtete mich dann auf, um auf sie zuzugehen.
Sie zuckte zusammen, als ich sie an der Schulter berührte, trat drei Schritte zurück und sah mich mit leeren Augen an, als wäre nun auch noch ich ein Grund ihrer Angst.
Sie verletzte mich.
Sie verletzte mich so sehr.
Mit allem, was sie tat.
Sie schlief nicht mehr mit mir in einem Bett, ließ mich sie nicht küssen und zog sich auch sonst immer weiter zurück.
Sie wandte sich von mir ab, stieß mich weg und nutzte es dennoch aus, dass ich einfach nicht anders konnte, als für sie da zu sein.
Ich fühlte mich wie das Monster, aber das war ich nicht und ich konnte mir das auch nicht länger einreden.
Ich wusste nicht mehr weiter.
Ich war am Ende.
Ich erkannte diese Frau nicht mehr, sah nur noch eine Hülle ihrer Angst und schaffte es nicht, diese vernünftig zu lieben.
Wir beide waren so merkwürdig anders zueinander geworden.
Wir waren so distanziert.
Wir waren nicht mehr wir selbst.
Und genau darum musste ich hier weg.
Ich brauchte eine andere Umgebung, andere Menschen um mich herum und Zeit, um über einige Dinge nachzudenken.
Ich wollte nach Hause.
In meine Heimat.
Zu meinen Eltern.
Und Tears würde mitkommen.
Ohne Frage.
Denn man konnte sie so nicht allein lassen und vielleicht fand sie in Daniel oder meiner Mutter jemanden, vor dem sie nicht zurückschreckte.
Wie ironisch, dass ich, als ihr Freund, daran dachte, dass sie mit jemand anderem besser dran war.
Wortlos schnappte ich mir den Koffer vom Bett und zog ihn hinter mir her aus dem Schlafzimmer und aus der Wohnung heraus.
Tears folgte mir mit gesenktem Blick.
Den gesamten Weg zum Flughafen sprach sie kein Wort und auch im Flugzeug selbst, fragte sie mich nur, wo ihr Platz war und sah dann so lange aus dem Fenster, bis sie eingeschlafen war.
Ich konnte nicht schlafen.
Ich schlief niemals, wenn Tears das auch tat, denn in diesen Minuten war sie wieder mein Mädchen mit den neugierigen himmelblauen Augen und dem Fable für rote Kleider.
Wenn sie schlief, ließ sie meine Berührungen wieder zu, wich mir nicht aus oder verließ den Raum.
Was war nur mit uns geschehen?
Eigentlich freuten wir uns doch auf dieses Kind!
Aber diese mögliche Krankheit machte Tears so verrückt und erinnerte sie so stark an ihre Vergangenheit, dass sie sich davon übermannen ließ.
Es war schrecklich mit anzusehen, wie sie vor meinen Augen in sich zusammenfiel.
Während ich ihren Kopf an meine Schulter zog und sie in meine Arme nahm, um sie zu kraulen und einfach zu halten, hoffte ich innigst, dass sie in England wieder zu sich selbst und endlich ein wenig Ruhe finden konnte.
Wir wurden jetzt Eltern.
Und ich wollte mir von der Zukunft nicht zu viel Angst machen lassen.
Ich wollte mich endlich freuen dürfen, wollte mein Baby wachsen sehen, es unter meiner Hand spüren und ihm abends einen Gute-Nacht-Kuss geben dürfen.
Ich wollte mein Mädchen zurück, sie küssen und lieben und ihr sagen, wie froh ich doch war, dass sie mich zum Vater machen würde.
Aber bevor ich sie zurückbekommen konnte, musste dieses Mädchen sich erst einmal selbst wieder finden.
Tears brauchte meine Distanz, um sich darüber klar zu werden, was sie wirklich wollte und in wie weit sie bereit war, doch noch einmal zu kämpfen.
Sie musste sehen, was sie verlieren könnte, brauchte etwas zum Leben und wenn das Baby erst einmal wuchs, dann würde sie zu sich kommen.
Ich wusste das, denn ich kannte diese Frau.
Und ich würde ihr schon bewusst machen, was sie im Leben brauchte und wollte.
Ich würde sie mir zurückholen, wenn es nicht anders möglich war, denn ich gab sie nicht auf, da konnte sie versuchen, was sie wollte.
Mich wurde sie nicht mehr los.
***
TEARS
Weißt du, wie es sich anfühlt, wenn man ein Stück seines Herzens verliert?
Hast du schon eine der wichtigsten Personen in deinem Leben gehen lassen müssen?
Ist da dieser eine Mensch in deinem Leben, bei dem du weißt, dass du ihn nicht verlieren kannst, weil er ein Stück von dir selbst ist und sein Tod auch der deine wäre?
Dieser Mensch in meinem Leben war Jane.
Sie war mein Baby von dem Tag an, als ich sie zum ersten Mal in meinen Armen hielt.
Meine Mutter wurde kurz nach ihrer Geburt krank.
Ich war es, die jeden Tag dieses Mädchen miterlebte, die ihre ersten Zähne kommen sah, die sie an der Hand hielt, als sie das Laufen lernte, die sie jeden Morgen weckte und umzog und dann in den Kindergarten brachte, die ihr eine Schleife in die Schuhe band, die ihr das Frühstücksbrot schmierte, die ihr abends vorsang, die mit ihr Hausaufgaben machte.
Ich war Teil ihres Lebens.
Sie war mein Leben.
Sie war der größte Bestandteil meines Lebens.
Sie war mein Baby. Wie mein eigenes Kind.
Und als sie krank wurde, war das, als würde ich ihr beim Sterben die Hand halten, bis sie nicht mehr durchblutet und kalt war.
Ich sah meinem eigenen Kind beim Sterben zu und das war bei weitem das Schlimmste, das ich je erlebt hatte, denn ich hätte vor ihr diese Erde verlassen müssen.
Es gab keinen Tag – wirklich keinen – den ich ohne Jane verbracht hatte.
Ich war von Anfang bis zum Ende immer bei ihr gewesen.
Ich hatte sie jeden Tag gesehen.
Ich hatte für sie gelebt, war wegen ihr jeden Tag aufgestanden.
Jetzt ein Kind zu erwarten, war ein Remake dieser Geschichte, nur das ich dieses Mal wirklich Mutter war und das dieses Kind tatsächlich mein Baby war.
Auch für das Kind würde ich jeden Tag aufstehen, es jeden Tag sehen, ihm Butterbrote schmieren, ihm vorsingen, ihm Schleifen binden, ihm die Hand halten, wenn es laufen lernte, es zu Freunden bringen, ihm die Tränen von den Wangen wischen, es mein Leben werden lassen und es dann wahrscheinlich loslassen.
Ich wusste nicht, wohin mit all der Erinnerung.
Ich hatte so viele Menschen sterben sehen, dass es immer etwas gab, das für mich den Tod markierte.
Da waren zum Beispiel diese ewigen Arztbesuche.
Wie oft hatte ich meinen Vater beobachtet, wie er in einem der Behandlungsräume verschwunden war.
Wie oft hatte ich Jane begleitet, hatte ihre Hand gehalten, wenn sie eine Spritze bekam und am Ende des Tages hatte ich immer eine schlechte Nachricht mit nach Hause genommen.
Nie war es nur ein Arztbesuch. Immer war es ein Gespräch mit der Zeit, die noch über blieb, bis ich wieder allein dastand.
Konnte mir ein Mensch im weißen Kittel nicht endlich einmal sagen, dass alles okay war?
Dass es meinem Kind wirklich gut ging, dass es sich prächtig entwickelte?
Wieso hieß es immer: »Wir werden das im Auge behalten«?
Ich wollte nicht immer alles im Auge behalten.
Ich wollte nicht immer Angst haben.
Wieso musste ich ständig Angst haben?
Und wieso musste ich Davis immer Sorgen bereiten?
Wieso musste ich so kompliziert sein?
Wieso musste ich ihm alles schwer und schlecht machen?
Ich riss ihn mit mir hinab in die Tiefe und ich sah ihm an, dass er das alles leid war.
Er hatte keine Lust auf Drama und ewige Tränen und Angst um mich und meine Dummheit.
Ich legte ihm nur Steine in den Weg und vermieste ihm die Freude auf dieses Kind.
Ich machte alles kaputt.
Genau darum waren wir auch jetzt hier.
In England.
Damit er jemanden hatte, der mich Tag und Nacht bewachte und er endlich wieder aufatmen konnte.
Damit er mich nicht immer vor der Nase haben musste, um beruhigt zu sein.
Er meinte das alles nicht böse.
Ich ebensowenig.
Und doch schafften wir es irgendwie nicht, dass alles gemeinsam zu meistern.
Dieses Mal nicht.
Dieses Mal war nämlich niemand von uns nur der nebenstehende Ratgeber.
Nein, dieses Mal waren wir beide Opfer des Lebens.
»Tears, Liebes?«
Ich blinzelte gegen die aufgehende Sonne, die durch die Fenster direkt in mein Gesicht schien.
Meine Augen fühlten sich trocken und geschwollen an.
Nur mir viel Mühe erkannte ich die Fußballposter an den Wänden und das Mobiliar von Davis früherem Kinderzimmer.
Ich lag allein in dem breiten KingSize Bett. Die Bettseite neben mir war noch immer so schön gefaltet, wie Kate das Zimmer für unseren Besuch hergerichtet haben musste.
Davis hatte also nicht neben mir geschlafen.
Er hatte mich bloß hierher gebracht und war dann gegangen.
Und das war alles meine Schuld.
»Wie geht es dir, Kleines?«
Kate saß auf der Bettkante.
Auf den Nachtschrank neben mir hatte sie ein Tablett mit Obst, Waffeln und Orangensaft abgestellt.
Warm lächelte sie mich an.
»Schrecklich.«
Sie nickte vorsichtig.
Sie schien mit dieser Antwort gerechnet zu haben.
Sie war wie Peter. Sie laß mich wie ein Buch. Und doch war sie auf eine andere Art besonders für mich.
»Das habe ich mir schon gedacht, als ich euch ankommen sah. Da Davis allerdings aussieht, wie eine lebendige Leiche muss ich nicht davon ausgehen, dass er sich wie der größte Vollidiot verhalten und dich verletzt hat?«
Sie hob amüsiert eine Augenbraue.
Ich schüttelte halbherzig mit dem Kopf.
Nein, das war nicht das Problem.
»Ich bin schwanger.«
Sie kicherte.
»Ich weiß. Du hast es mir in einem Anruf vor ein paar Wochen selbst gesagt.«
Ich verdrehte nachdenklich die Augen, dann nickte ich mir selbst zu. Wo sie recht hatte ...
»Aber eure Distanz hat mit dem Baby zu tun, stimmt's? Ihr habt Angst, dass es krank ist, dass es wieder gehen wird. Du fühlst dich erinnert, Davis versucht das zu verstehen und hält dafür seine eigenen Gefühle zurück und im großen und Ganzen geht gerade alles den Bach hinunter.«
Ich setzte mich skeptisch auf.
Sie hatte vollkommen recht.
Woher wussten Mütter all diese Dinge bloß immer?
Ich fühlte mich entblößt und doch irgendwo verstanden, denn Kate sprach nicht in Vorwürfen, sondern ziemlich wissentlich.
»Woher ...?«
Sie lächelte und reichte mir gleichzeitig das Glas Orangensaft.
»Ich das weiß? Kind, ich bin die Mutter von diesem bissigen Geschäftsmann. Ich kenne alles an ihm und ich weiß, wann es ihm schlecht geht. Noch dazu bin ich selbst einmal schwanger gewesen und meine Mutterinstinkte funktionieren auch bei dir, Liebes.«
»Gerade läuft alles schief. Seit ich weiß, dass ich schwanger bin, spüre ich, wie diese Bilder in meinem Kopf wieder realer werden, ich sehe Jane an jeder Ecke ihres Lebens stehen und dann sterben und im Allgemeinen habe ich so große Angst, dieses Kind zu verlieren, dass ich mich gar nicht auf mein Glück fokussieren kann. Ich mache alles kaputt ...«
Kate schüttelte den Kopf.
»Nein, Tears. Dass du Angst um dein Kind hast, ist doch vollkommen normal. Außerdem hast du schon so viele Menschen im Leben gehen lassen müssen, dass deine Verlustängste natürlicherweise viel ausgeprägter sind, als die anderer. Das alles ist normal.
Ich war in meiner ersten Schwangerschaft auch ein nervliches Wrack. John hat es sich bestimmt tausendmal überlegt, ob er nicht doch seine Koffer packen und nach Neuseeland auswandern möchte. Vor allem, als sich herausstellte, dass wir einen Sohn bekommen.«
Sie zwinkerte mir verspaßt zu, während ich in leises Kichern ausbrach.
Ich hatte lange nicht mehr Lachen müssen. Wow.
»Natürlich setzt euch beide diese Lage zu. Ihr seid überfordert, macht neue Erfahrungen und seid angespannt, weil die Zukunft so ungewiss ist. Außerdem prägen sich da diese Elterngefühle in euch aus und machen das Leben schwer, weil ihr selbstverständlich wollt, dass es eurem Kleinen gut geht. Das alles ist verständlich, jeder kommt in diese Phase, wo alles nur noch falsch und mistig zu sein scheint, an dem man lieber einfach weggehen möchte, weil die Welt so zerbrochen scheint. Aber glaub mir, Liebes, wir bekommen das wieder hin. Wir päppeln euch beide wieder auf, puzzeln das Glück wieder zusammen, sei dir sicher.«
Kate griff nach meiner Hand und drückte sie mit warmem Blick. Dann erhob sie sich.
»Ich weiß schon genau, wie wir das alle wieder hinbekommen.«
Euphorisch klatschte sie in die Hände.
»Und wie?«, fragte ich wesentlich beklommener, aber dennoch neugierig.
»Erstmal schmeißen wir die Männer aus dem Haus. Die sind hier überflüssig und haben bei unserer Frauenwoche absolut nichts verloren. Die sollen sich mal schön ein Zelt irgendwo im Nirgendwo aufbauen und sehen, wie sie zurecht kommen. Und du, Schatz, trinkst deine Vitamine, um meinen ersten Enkel gesund zu halten. Mach dir keine Sorgen, ich habe alles im Griff.«
Sie gab mir einen aufmunternden Kuss auf die Wange und verließ dann das Zimmer.
Ein paar Minuten später hörte ich sie Daniel und Davis aus dem Haus pfeifen.
»Und wehe ihr lasst euch früher wieder hier blicken! Hab' euch lieb!«
Diese Frau ...
Ich wusste nicht, in wie weit Kate es schaffen wollte, mich wieder zu reparieren, aber sie hatte mir Hoffnungen gemacht und die brauchte ich, um das alles zu überleben.
Gehorsam trank ich also meinen Orangensaft und aß sogar von den geschmierten Broten, die sie mir auf einem Tablett serviert auf den Nachtschrank gestellt hatte.
Als Kate nach ein paar Minuten nicht wieder hinauf kam, rappelte ich mich mit der kleinen Kugel von Baby auf die Beine, machte mich frisch und ging sie dann selbst suchen.
Ich fand sie im Wohnzimmer, wo sie still auf einem Sessel saß und aus dem Fenster auf die Straße sah.
Leise setzte ich mich neben sie und folgte ihrem Blick hinaus nach draußen, auf die Straßen von Bath, der englischen Heimatstadt meines Freundes.
Ich war lange nicht mehr hier gewesen. Nach Janes Tod waren wir mindestens zweimal im Jahr für mehrere Wochen zu Besuch gekommen, aber seit der Schwangerschaft hatten wir weder wirklich gesprochen noch uns gesehen.
Ich hatte nicht nur meinen Kontakt zu Davis gekappt, sondern auch sonstige Außenwelt strikt ausgesperrt.
Leah, Jason und Brian hatten mich seit Monaten nicht gesehen. Ich hatte das Haus nicht verlassen, mich krank schreiben lassen und ganz weit zurückgezogen.
Ich machte wirklich alles kaputt ...
»Als ich mit Gray schwanger war, saß ich genau hier an dieser Stelle des Wohnzimmers auf einem Pappkarton und habe auf die Straße gesehen. Wir waren gerade dabei hier einzuziehen, hatten eigentlich noch viel zu tun, aber ich musste mich einen Moment hinsetzen und innehalten.«
Kate machte eine kleine Pause um mich verarbeiten zu lassen. Dann fuhr sie unbeirrt fort.
»Weißt du, es ist kein Verbrechen, einen Moment frische Luft zum Atmen zu brauchen. Es ist kein Verbrechen, einfach mal den Raum zu verlassen und hinauszugehen, ohne etwas zu sagen oder sich zu entschuldigen.
Es ist kein Verbrechen ein Mensch zu sein ...«
Wieder eine Pause.
»Du bist ein Mensch, Tears.
Davis ist ein Mensch.
Wir sind alle Menschen.
Es gibt Situationen, die uns wie Verbrecher aussehen lassen. Aber das ist, was die Augen der anderen sehen. Diejenigen, die uns nicht kennen, sind es, die uns vergessen lassen, dass wir Menschen sind und, dass wir Fehler machen und verletzlich sind.
Diejenigen, die uns nicht kennen, die kennen auch die Geschichte unserer Seelen nicht.
Und das ist ein entscheidender Punkt, denn, wer sind wir schon ohne unsere Geschichte?«
Sie sah fernerhin aus dem Fenster. Nicht eine Sekunde schweifte sie ab oder sah zu mir. Ihre Augen hafteten an den Häuserspitzen und den vorbeifahrenden Autos.
Meine Augen hafteten an ihr, denn Kates beruhigende Stimme brachte tief in meinem Inneren einen Fluss zum Stoppen und meine Ohren wirklich wieder etwas hören.
Wer sind wir denn schon, ohne unsere Geschichte?
»Du wärst nicht du selbst, ohne deine Geschichte, meine liebe Tears. Ich weiß, die deine, ist lang und schwer und kontrastiert sich in schwarz und weiß. Deine Geschichte gleicht sich mit keiner anderen. Aber deine Geschichte ist auch nicht sonderbar und du selbst bist es auch nicht. Du bist keine eigene Spezies, du bist nicht verflucht, selbst, wenn es sich so anfühlt. Alles, was du bist, nennt sich geprägt. Ja, du bist geprägt, du bist vom Leben gezeichnet, du hast Erfahrungen gesammelt, deine Geschichte aufgeschrieben und immer wieder vor Augen spulen sehen.
Aber die Geschichte von damals, als deine Schwester noch bei uns war, ist nicht vorbei gewesen. So schien es vielleicht, aber ihr Tod ist schon Jahre her und all diese Jahre ging das Buch deines Lebens immer weiter.
Du hast begonnen, die Geschichte ohne sie weiterzuschreiben, hast tausende weitere Kapitel geschrieben und noch mehr Erfahrungen gesammelt.
Jetzt bist du schwanger.
Jetzt ist da wieder ein neues Kapitel in deinem Buch.
Aber du darfst dich nicht beirren lassen. Du darfst nicht denken, nur weil Jane schon so etwas wie deine Tochter war, dass du bei deinem zweiten Baby einfach zurückblättern und ein längst geschriebenes Kapitel noch einmal kopieren lassen kannst. Du kannst die Geschichte nicht einfach verdoppeln. Nein, du musst sie weiter schreiben, nicht abgleichen.«
»Aber wie soll ich das machen? Es ist genau so wie damals!«
Kate grinste urplötzlich.
»Ist es das denn wirklich? Bist du dir ganz, ganz sicher?«
***
Davis hatte alles richtig gemacht.
Er hatte wie immer den richtigen Riecher gehabt.
Die Zeit in England, die Umgebung, die Menschen hier, das war genau das, was ich brauchte, um neue Kraft zu schöpfen und mir der Dinge klar zu werden, die wirklich wichtig waren.
Kate half mir – wie so mancher Mensch vor ihr – aus dem dunklen Loch, in das ich immer wieder fiel, und fügte mich nach und nach mühsam und geduldig zusammen.
Sie schaffte in einer Woche das, was Davis über Wochen versucht hatte.
Sie drang zu mir durch.
Sie ließ mich nachdenken, reflektieren und sie brachte mir das Verständnis, das Davis mir nicht geben könnte.
Sie war dreifache Mutter und eine Frau, die für mich viel eines Vorbildes war.
Kate war erfahren.
Sie kannte die Risiken, sie kannte jede Schwangerschaftsstufe, die Stimmungsschwankungen und Gewohnheiten einer Frau. Sie wusste jeden Hebel zu drücken, um mich wieder funktionstüchtig zu machen.
Ich war ihr unendlich dankbar.
Das Wochenende verbrachten wir im Haus und redeten uns die Seele aus dem Leib.
Kate ließ mir ein Bad ein, kochte mir Tee und später machten wir es uns auf der Couch bequem.
Für jeden Tag hatte sie etwas anderes geplant.
Montag kochten wir gemeinsam, Dienstag lernte ich eine ihrer engsten Freundinnen kennen und wir machten einen Spa-Tag, um einmal komplett zu entspannen,
Mittwoch schleppten Tanja – Kates Freundin – und Kate mich in die Stadt, um shoppen zu gehen,
Donnerstag backten wir zusammen einen Kuchen und durchstöberten alte Fotoalben, auf der Suche nach lustigen und peinlichen Kinderfotos von meinem Freund.
Und Freitag hatte ich bei Kates Frauenärztin einen Termin bekommen, um mich durchchecken und auch sie einmal das Ultraschallbild sehen zu lassen.
Kate brachte mich auf andere Gedanken. Sie brachte mich zurück in dieses Leben und den Alltag und sie ließ mich fühlen, dass sie mich verstand und ich mit all den Dingen des Lebens nicht allein war.
Ich wusste, dass ich Davis in den letzten Wochen gequält und abgestoßen hatte.
Ich hatte mich ihm gegenüber ziemlich unfair gehalten, bloß an mich selbst gedacht und ihn einfach stehen lassen.
Ich bereute alles, was ich getan hatte, aber ich sah die Dinge jetzt klarer und wollte mich, sobald er wieder heimkam sofort bei ihm entschuldigen.
Ich vermisste ihn die Woche über, freute mich auf das Wochenende, an dem er wieder zurückkommen würde und ich mit ihm reden und mich unendliche Male bei ihm entschuldigen konnte.
Er hatte sich so sorgsam um mich gekümmert und ich hatte nie mehr zu tun gehabt, als ihm sein Kind und meine Liebe zu verweigern.
Er hatte mich nicht berühren dürfen, ich wollte keine Küsse bekommen, wir hatten nicht mehr in einem Bett geschlafen, gemeinsam gegessen oder uns gar einmal vernünftig unterhalten.
Davis hatte alle meine Sorgen tragen müssen. Ich hatte völlig ignoriert, dass er selbst auch welche hatte und das war ziemlich ungerecht von mir gewesen.
Es war an der Zeit sich vernünftig und aufrichtig zu freuen, sich auf eine Familie einzustellen, zu Gott zu beten, um ihm für diese Gabe zu danken und gemeinsam zu warten.
Ich hatte einen schweren Fehler gemacht.
Ich hatte die Vergangenheit zu meiner Gegenwart gemacht. Dabei war die Vergangenheit längst nicht mehr meine Gegenwart.
In meiner Vergangenheit stand ich vollkommen allein, ohne einen Cent, in einer Wohnung ohne Heizung vor einem Kind, das meine Schwester war.
Jetzt und hier stand ich umzingelt von einer Familie, die mich liebte und unterstützte, neben Davis, der mich niemals alleine ließ in einem Leben, das auch hohe Kosten erbringen konnte und das es zu kämpfen wert war.
Dieses Kind war nicht wie Jane.
Dieses Kind hatte andere Gene, andere Eltern, andere Möglichkeiten. Viel, viel bessere Möglichkeiten.
Dieser Kampf war ein vollkommen anderer und er war noch nicht verloren.
Ich hatte es nur nicht gesehen.
Gesehen, dass dieses Kind leben würde, dass dieses Kind überleben würde, dass ich gar nichts anderes zulassen würde.
Davis und ich würden Eltern werden. Ja, das würden wir und wir würden glücklich werden.
Eine glückliche Familie!
***
Am Sonntagvormittag saß ich wie auf heißen Kohlen.
Ich war aufgeregt, Davis wiederzusehen und ich wollte schon seit Tagen nichts sehnlicheres tun, als ihn an mich zu ziehen und abzuknutschen, ehe wir unsere Dreisamkeit einmal so richtig genießen würden.
Ich hatte das Gefühl, mein Bauch seie in diesen paar Tagen zu einer kleinen Melone angeschwollen und ich spürte immer mehr, wie leben unter mein Herz kam.
Ich fühlte dieses kleine Geschöpf und jeder Gedanke an meinen kleinen Wurm ließ es in meinem Magen vorfreudig kribbeln.
Zudem hatte ich eine Überraschung für Davis.
Eine große, kleine, blaue Überraschung, die ich nicht länger für mich behalten wollte.
Die Männer waren die gesamte Woche über bei Verwandten gewesen.
Davis hatte ein paar alte Schulfreunde besuchen wollen und gleichzeitig waren John, Daniel und er zu Tanten und Onkeln gefahren.
Heute wollten sie wiederkommen. Genau darum saß ich schon den gesamten Vormittag vor dem Fenster im Wohnzimmer und wartete auf das heranrollende Auto, um meine Sehnsucht nach meinem Mann zu stillen.
Dein Papa lässt uns viel zu lange warten, Angel.
»Du kannst es wohl kaum mehr erwarten, was?« Kate kam mit einem grinsenden aber auch ziemlich zufriedenen Blick ins Wohnzimmer und setzte sich neben mich.
Weil ich so aufgedreht und von Hormonen nur so überschüttet wurde, zog ich sie an mich und drückte sie einmal ganz fest, um ihr irgendwie allen Dank, den ich hatte, übermitteln zu können.
Sie lachte herzlich und erwiderte die Umarmung, ehe sie sich von mir löste.
»Erdrück uns nicht, Liebes, ich brauche euer Baby doch noch, um Oma zu werden.«
Ich lächelte sie an, während meine Hand wie automatisch auf meinen Bauch wanderte und durch das T-Shirt streichelte.
»Du wirst Oma werden, Kate. Die beste Oma, die es geben könnte. Es wird ein langes Leben werden!«
***
Daniel und John kamen am Nachmittag wieder.
Ich erkannte den Mercedes unter tausenden, aber die Person, nach der ich mich unendlich verzehrte, blieb mir vorenthalten.
Davis stieg nicht aus dem Wagen nach dem ich Ausschau gehalten hatte.
Er ließ all meine Hoffnung ein wenig sinken und machte der Ernüchterung Platz, die ich knallhart verdient hatte.
Die letzten Wochen waren die härtesten in all den Jahren unserer Beziehung gewesen und wir hatten uns aus den Augen verloren.
Ja, das hatten wir.
Aber ich war nicht bereit, an diesem Punkt des Lebens aufzugeben.
So bereit war ich nicht immer gewesen. Aber jetzt sah ich es. Jetzt wusste ich es.
Ich wollte diese Familie.
Ich wollte dieses Kind.
Ich wollte dieses Leben.
Und ich wollte es mit Davis!
»Hey, Schwägerin in Spe!«
Daniel riss mich in seine Arme und hauchte mir einen Kuss auf die Wange, ehe er sich zurücklehnte, um mich zu betrachten.
»Sieh dich an, Kleines, diese Schwangerschaft macht dich nur noch hübscher! Mann, hat mein trotteliger Bruder ein Glück mit dir!«
Daniel schnalzte bei der Erwähnung von Davis mit der Zunge und grinste dann wieder, während er auf meine Babykugel hinabsah und liebevolle Augen bekam.
Und dieser Herr wird der beste Onkel, den es geben könnte!
»Wie geht es euch zweien?«
Seine fröhlichen Augen begegneten meinen und ich konnte nichts anderes tun, als Daniel einen Moment lang einfach nur anzusehen.
Wir hatten uns seit gefühlten Ewigkeiten nicht gesehen.
Trotzdem war er noch immer der Daniel, den ich kannte.
Er war ein Wirbelwind, ein Frechdachs und ein Witzbold.
Stets fröhlich, stets charmant und stets der Junge, der das Herz meiner Schwester besessen hatte.
Ich konnte nicht beschreiben, wie stolz ich war, ihn zu kennen, wie lieb ich ihn hatte oder wie wahnsinnig er sich entwickelt hatte.
Aus dem sechzehn-jährigen Kobold war ein waschechter Mann geworden, der erfolgreich die Highschool abgeschlossen hatte und sich nun ein wenig Auszeit gönnte und hier und dort in der Woche jobbte.
Ich fand das toll.
Ich war froh, dass Daniel nicht mutiert und sofort aufs College abgehauen war, sondern sich stattdessen für eine Pause vom Lernen entschieden hatte und jetzt kellnerte, oder sittete, oder reparierte.
Das alles passte viel besser zu ihm, als nach der Schule wieder zur Schule zu gehen.
»Bestens.«
Er hob eine skeptische Braue, die mich meine Augen rollen ließ.
»Ich weiß, was du denkst. Aber diese Woche hatte ich eine Menge Zeit zum Nachdenken und mir sind jetzt einige Sachen klar geworden. Ich bin noch nicht bereit, aufzugeben. Es ist noch nicht möglich, schwach zu sein. Deswegen ... wird es Zeit, für einen Kampf nach all den Kämpfen. Es wird Zeit, sich der Angst zu stellen und sie nicht mehr einfach zuzulassen.
Ich bin bereit.«
»Gott, ich liebe dich!«
Daniel umarmte mich ein zweites Mal, ehe er mich stolz ansah.
»Das hast du schön gesagt. Ich bin stolz auf dich und was auch kommt, vergiss nicht, dass du nicht allein bist. Wir stehen alle hinter dir. Sie ist genau über uns und hält ihre Engelsflügel über uns. Es kann nichts geschehen, das wir nicht geschehen lassen.«
Ich kuschelte mich an Daniel.
Fest und bestimmend schlang ich meine Arme um seinen Bauch und er drückte mich an sich und strich mir über die Haare.
Einen Moment lang dachten wir zurück an Jane und an die Briefe, die sie uns geschrieben hatte. Wir dachten an die gute Zeit mit ihr und all die Worte, die sie uns zum Nachdenken hier gelassen hatte.
Dann lösten wir uns entschlossen, grinsten uns an und nickten einander zu.
Wir sind nicht allein!
Und Daniel hatte ja so recht.
Es wird nichts geschehen, das wir nicht geschehen lassen.
Davis war genau dieses Geschehen.
Ihn würde ich nicht gehen lassen. Das würde ich nicht zulassen.
Mich wirst du nicht los, Davis!
Als hätte Daniel meine Gedanken gehört, überreichte er mir mit einem wissenden Blick die Autoschlüssel.
»Hol ihn endlich nach Hause!«
Das tat ich.
Ja, das tat ich.
Entschlossen packte ich eine Tasche mit Kleidung und Proviant und schmiss dann alles ins Auto, um die lange Fahrt bis kurz vor London auf mich zu nehmen und meinen Freund zurückzuholen.
Von Daniel hatte ich Adresse und Auskunft bekommen, dass Davis bei einem alten Schulfreund geblieben war, nicht in der Lust, der
Leichen-Tears bei sich zu Hause zu begegnen.
Ich konnte nicht einmal sauer auf ihn sein. Dazu hatte ich kein Recht, denn die ganze Zeit war ich das Problem gewesen. Ich hatte alles erst schwer und schlimm gemacht. Es war an der Zeit wieder ein paar Dinge richtig zu machen.
Mit Sack und Pack ließ ich Bath hinter mir und kurvte durch England, um auf dem schnellsten Weg zu Davis zu gelangen. Die Autobahnen waren voll und das Haus des Freundes nicht halb so leicht zu finden, wie ich gedacht hatte, aber gegen acht Uhr abends kam ich in früher Dunkelheit in der Wohnsiedlung an und stieg aus dem Auto.
In mir kribbelte die Aufregung.
Wollte er mich überhaupt sehen?
Brauchte er mehr Zeit?
Oder ... wollte er vielleicht keine zweite Chance für diese Beziehung?
Während ich an der Haustür stand und klingelte, überkamen mich die Zweifel, ob Davis mich wirklich hier haben wollte oder ob er diese Distanz brauchte.
Als es dann am Türschloss klapperte und ich den Schlüssel drehen hörte, rauschte es aufgeregt in meinen Ohren und als mir dann ein mir vollkommen fremder Mann gegenüber stand, war plötzlich alles wieder vergessen.
Kein zurück mehr, Tears.
Den brünetten Mann vor mir hatte ich noch nie persönlich getroffen. Ich kannte ihn von einigen Fotos und meinte mich an einen Jakob zu erinnern, aber ansonsten war er mir fremd.
Davis und er waren früher gemeinsam zur Schule gegangen und trafen sich immer mal wenn er in England war, aber ich hatte ihn noch nicht getroffen.
Jakob selbst musterte mich eingehend von oben bis unten.
Weder er noch ich brachten ein Wort heraus, schienen im
Kopf nur nach den Erinnerungen zu kramen, die wir in Teilen aneinander hatten.
Davis schien mich also auch einmal erwähnt zu haben.
»Hey, ich bin Tears, freut mich dich kennenzulernen!«, brachte ich irgendwann ein paar höfliche Worte auf die Reihe und versuchte gleichzeitig hinter den schlaksigen Mann zu sehen.
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite! Jakob.«
Er streckte mir die Hand entgegen. Ich schüttelte seine kalte Hand einige Sekunden, ehe ich sofort zur Sache kam.
»Ist Davis hier? Und wenn ja, wo ist er?«
Jakob lehnte sich an den Türrahmen.
»Er ist hier. Aber ... so leid es mir tut, er möchte dich, glaube ich, nicht sehen.«
Das war eine Pfeilspitze mitten durch mein Herz, aber ich streckte den Schmerz ein, den ich so verdient hatte.
Natürlich war Davis sauer auf mich. Natürlich war er das ...
»Das weiß ich, deswegen bin ich ja hier. Also wo ist er?«
Jakob hob verwirrt eine Augenbraue, aber mein ernster Blick ließ ihn nach einigen Sekunden einsehen, dass er mir lieber einfach meine Frage beantworten sollte.
Leg dich nicht mit einer schwangeren Frau an, Junge.
»Hinten im Garten. Aber das hast du nicht von mir.«
Seufzend trat er zur Seite und machte mir den Weg quer durch das Haus zur
geöffneten Terrassentür frei.
Ich biss mir auf die Zunge, ehe ich das Haus betrat und festen Schrittes an Jakob vorbei trat.
Auf der Rasenfläche des Gartens war ein Kübel mit Feuer aufgestellt, um den Stühle und Bier platziert worden waren.
Anhand der Anzahl der Stühle ging ich davon aus, dass die Männer einen Abend mit weiteren Bekannten geplant hatten.
Davis saß als einziger um das Lagerfeuer und starrte abwesend in die Flammen.
In seiner linken Hand drehte er eine Flasche Bier, mit der rechten hielt er sich den Kopf und allgemein schien er nicht bemerkt zu haben, dass ich nach draußen getreten war.
Sein Gesicht schien im Licht des Feuers blass und müde.
Er war wie weggetreten, sah mich nicht näher kommen oder ignorierte mich mit vollem Bewusstsein.
Was es auch war, es hielt mich nicht davon ab, auf ihn zuzugehen und mich auf seinen Schoß zu setzen.
Davis zuckte zusammen.
Er war also in einem Tagtraum verschwunden.
Wie in Zeitlupe richteten sich seine Augen vom Feuer auf mein Gesicht, ehe sich seine Pupillen weiteten und er mir seit einer Woche wieder einen richtigen Blick zuwarf.
Ich lächelte zaghaft.
Aber eigentlich wollte ich nicht lächeln oder reden. Das Erste, was ich machen wollte, war ihn zu küssen und das tat ich. Mit meiner Hand am Kragen seines Pullovers zog ich ihn so nahe wie möglich an mich und meine Lippen und schmeckte ihn und das alkoholfreie Bier, das er zu trinken begonnen hatte.
Davis erwiderte den Kuss nicht sofort. Aber als ich ihm auf die Unterlippe biss und meine Hände durch sein Haar wuscheln ließ, schien er zu bemerken, das dieser Kuss von der Tears kam, in die er sich verliebt hatte.
Mit einer leidenschaftlichen Intensität erwiderte er meinen Kuss und zog mich näher an sich, um mir zu zeigen, wie sehr er diese Nähe vermisst hatte.
»Es tut mir leid«, sagte ich leise, als uns beiden die Luft ausging und wir uns lösen mussten. Davis musterte mich stumm. Seine Miene war weder wütend noch verzeihend, deswegen sah ich schuldbewusst auf seine Brust und versuchte irgendwie die richtigen Worte zu finden.
»Mir sind die Gedanken einfach über den Kopf gestiegen und ich war so voller Angst, dass ich alles auf dich lasten musste, um nicht vollends zu ertrinken.
Ich war ignorant und unfair und habe dir in den letzten Wochen wirklich alle möglichen Gründe gegeben, enttäuscht und sauer auf mich zu sein. Es tut mir leid, dass ich dich allein gelassen und dir alle Freude auf dieses Baby genommen habe.«
Ich traute mich nicht aufzusehen.
Ich wollte mich von Davis vorwurfsvoller Miene nicht erdolchen lassen.
Er sagte eine Zeit lang nichts.
Irgendwann aber rutschte seine Hand über meinen Unterarm hinüber zu meinem Bauch und legte sich auf das neue Leben unter meinem Herzen.
Sanft fuhren seine Finger über den Stoff des Kleides, der unser Kind bedeckte, das ich ihm so lange vorenthalten hatte.
Ich blieb ruhig. Ich ließ ihn mich berühren, ließ ihm diesen Moment und das Gefühl von purem Glück.
Ich ließ die Liebe zu, ließ mich konfrontieren, denn ich wusste jetzt, dass es im Leben immer so war.
Das Leben kam immer auf einmal. Es konfrontierte dich unerwartet, machte dir unerwartete Geschenke und verhalf dir zu unerwartetem Glück.
Hier war unseres.
»Ich liebe euch!«, hauchte Davis irgendwann und erst als der Tropfen sich in den Stoff des Kleides zog, bemerkte ich, dass er zu weinen begonnen hatte.
»Ich liebe dich«, flüsterte er weiter und küsste meinen Bauch, ehe er seine Hände hoch an meine Wangen wandern ließ und mich zum Aufsehen zwang.
Mit wässrigen Augen sahen wir einander an, studierten das so vertraute Gesicht unseres Partners und verziehen einander und uns selbst.
»Ich liebe dich, Tears. Mach das nie wieder, mein Schatz«, bat Davis emotional und ließ mich sofort mit dem Kopf schütteln, weil ich mir das geschworen hatte.
Nie wieder.
»Ich verspreche es. Ich ... das alles wird nicht mehr passieren.«
Er fuhr durch meine Haare, wischte meine aufgekommenen Tränen weg und lächelte mir dann schwach entgegen, bevor er mich küsste, wie schon lange nicht mehr.
»Ich weiß.«
Ich schloss die Augen und lehnte mich an ihn.
Ich genoss es, wieder in seinen warmen und schützenden Armen zu liegen hinter dessen Schutzmauer ich wusste, niemals verletzt werden zu können.
Wie hatte ich ihn nur so lange von mir fernhalten können?
Was für eine Qual ...
Minutenlang saßen wir stumm beieinander und hielten die Augen geschlossen, während unsere Köpfe aneinander lehnten und wir uns am jeweils anderen festhielten, um nicht zu ertrinken.
Der Moment war intim und liebevoll und der erste schöne, den wir als kleine Familie erlebten.
»Ich muss dir noch etwas sagen«, murmelte ich nach einer Weile und kicherte leise, als Davis sich unter mir anspannte.
Vom Weinen klang meine Stimme verzehrt und nicht nach einer guten Nachricht, die ich eigentlich vorbringen wollte.
»Keine Angst. Diese Nachricht wird dir gefallen«, versprach ich leise lachend und erhob mich dann, um aus der hinteren Tasche meiner Hose den blauen Babybody hervorzuholen, den ich gleich am Freitag gekauft hatte.
Gespannt auf seine Reaktion wickelte ich den Stoff auseinander und biss mir auf die Lippe, als Davis der Mund aufklappte und er erneut Tränen in die Augen bekam.
»Wirklich?«
Er griff nach dem blauen Stoff und wusste sofort, das ich die geschlechtsuntypische Farbe für das Geschlecht unseres Kindes ausgewählt hatte, so, wie wir es vor einigen Wochen noch scherzhaft gewollt hatten.
»Ja, ich weiß es seit vorgestern«, hauchte ich nickend und fand mich in nächster Sekunde in Davis Armen wieder, als er mich erneut an sich zog und erst meine Lippen und dann unser kleines Mädchen küsste.
»Angelina, also ...«
Ich nickte langsam.
Ja, Angel.
»Mit ihr ist unser Glück komplett«, murmelte ich und sah ebenfalls auf die kleine Kugel hinab, die schon bald treten und mich spüren lassen würde, dass wir tatsächlich leben geschafft hatten.
»Ehrlich gesagt fehlt noch etwas zu meinem Glück«, gestand Davis und ließ mich verdattert aufsehen.
Mein verwirrter Blick brachte ihn zum Grinsen.
»Was denn?«
»Na ja ... um komplett glücklich zu sein, müsstest du noch meine Frau werden.«
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Ich breche in diesen Bonuskapiteln wirklich Rekorde [7500 Wörter!] aber es soll sich ja auch lohnen, diese kleinen Fortsetzungen zu lesen.
Ich hoffe, ihr hatte noch einmal viel Vergnügen beim Lesen und seid gespannt, wie es weiter geht.
Anlass dieses Kapitels ist natürlich die unglaubliche Zahl von 100 Tausend, mit der das Buch seit einigen Tagen auf Wattpad zu sehen ist.
Vielen, vielen Dank da draußen für jeden, der dieses Buch gelesen (liest) und mich unterstützt (hat). ❤️
Ich bin unendlich dankbar.
Bis bald 👋🏼
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