13« Davis


»Du bist also ein waschechter Brite?«
»So kann man es sagen.«
»Dann erzähl mir etwas von England. Wie ist es dort? Stimmt es, dass jeden Nachmittag alles stehen und liegen gelassen wird, um Tee zu trinken?«
»Stehen und liegen lassen, nur für eine Tasse heißes Wasser, ist wohl übertrieben. Ganz so strikt ist es nicht, aber viele Briten trinken nachmittags eine Tasse Tee und essen Kuchen. Tea Time ist für viele die liebste Zeit des Tages«, erzählte ich und schmunzelte in die Ferne, als einige Erinnerungen mich überrollten. Meine Eltern hatten einen Fetisch für Traditionen und wir Kinder waren mit Tee am Nachmittag aufgewachsen. Es war allerdings mehr eine Familientradition, als vom Volk ausgehend.

»So auch deine?«, fragte sie interessiert und drehte ihren Kopf für wenige Sekunden in meine Richtung.
»Ja. Ich mag gemütliche Nachmittage, an denen die Familie am Tisch beisammen sitzt und redet. Es gibt immer viel zu lachen. Ich bin damit aufgewachsen und wenn ich meine Eltern besuche, hat sich an meiner Kindheit nichts geändert.«

»Irgendwie ist das cool. Es ist cool zu wissen, dass sich nichts geändert hat, wenn man nach Hause zurückkehrt.«
Ich sah, dass sie schwer zu schlucken hatte. Ihre Stimme nahm für einige Sekunden einen harten Ton an, bis er verpuffte.
Ich wollte sie heute Nacht nicht darauf ansprechen. Gerade schien sie in einer Stimmung, die sie gewisse Dinge und Schmerzen vergessen ließ. Ich wollte sie nicht mit Fragen löchern.

»Es ist speziell und im Vergleich mit den USA eine merkwürdige Tradition, aber es ist tatsächlich mit einem guten Gefühl verbunden.
Tee heißt irgendwie auch zuhause. Ja, du hast recht.«
Ich nickte und belächelte abermals Erinnerungen in meinem Kopf. Ich hatte schon lange nicht mehr so intensiv an meine Heimat gedacht, doch jetzt, hier mit Tears auf den leeren Straßen Seattles, kam einiges wieder ans Licht.

»Von wo kommst du genau aus England?«, fragte sie weiter und schien einen Narren am Thema »Britannien« gefressen zu haben. Es amüsierte und schmeichelte mir zugleich. Ich mochte, dass sie darüber zu reden mochte.
»Mein Dad kommt aus London und meine Mum ursprünglich aus Bristol, aber aufgewachsen sind wir in einer Stadt namens Bath und dort leben meine Eltern auch heute noch.«
»Bath habe ich noch nie gehört«, gestand sie und zuckte ratlos mit den Schultern.

»Verhältnismäßig ist Bath auch eine kleine Stadt, aber dadurch nicht weniger schön. Im Gegenteil. Bath macht vor allem das kulturelle Flair besonders. Es gibt sehr viele alte Gebäude im Stile des 18. Jahrhunderts. Eine wunderschöne Abtei Kirche steht in Bath und bekannt ist die Stadt vor allem für die erhaltene Therme aus römischen Zeiten.«
»Wie viele Menschen leben in Bath?«
»Um die achtzig Tausend, aber im Sommer wimmelt es von Touristen, dann sind noch mehr Menschen auf den Straßen.«
»Wie kommt man denn von diesem Flecken der Erde nach hier?«

Gemeinsam bogen wir um eine Straßenecke und liefen nebeneinander über die nächste Fußgängerampel.
Nachdem wir uns den ganzen Abend über unterhalten hatten und ihre Schicht dann um kurz vor Elf vorbei war, hatte ich mich, ganz Gentleman like, dazu bereit erklärt sie nach Hause zu begleiten.
Sie hatte gekichert, als ich ihr die Tür aufgehalten hatte und wir nebeneinander in die Dunkelheit getreten waren.

Es behagte mir nicht sie allein auf den Straßen laufen zu lassen. Besonders in dieser verlassenen Gegend gäbe es niemanden der ihr helfen würde, wenn jemand sie entführen wollte. Es passte mir ganz und gar nicht sie in solche Gefahren zu lassen und ich spürte einen Teil in meinem Inneren, der grollende Angst hatte, ihr würde etwas in meiner Abwesenheit passieren.
Ich sorgte mich um eine Frau. Das war komisch, aber nicht unschön.
Ich konnte nicht verhindern, was Tears mit mir machte. Sie zwang mich zur Achtung, sie zwang mich meine Sichtweisen des Lebens zu ändern und ihr in die Augen zu schauen.
Sie war anders.
Diesen Satz nahm so gut wie jeder Mann über eine bestimmte Frau in den Mund, aber etwas musste an diesen drei Worten auch stimmen.
Warum sonst sollten sich Menschen verlieben, wenn nicht in einen Menschen, der besonders war? Einen Menschen, der anders war und speziell, dass man sich von ihm besonders angezogen fühlte. Ich mochte ihre Nähe. Tatsächlich. Tears war speziell.

»Das ist eigentlich eine ziemlich verrückte Geschichte.« Ich kratzte mir leicht verlegen am Kinn und sah dann zu ihr hinunter.
Sie war um einiges kleiner als ich, doch strahlte ihr Körper Mächte aus, die über mir schwebten.
Sie war eine starke Frau.

»Ich mag verrückte Geschichten.«
Die Erwartung war ihr ins Gesicht geschrieben. Sie wollte mich reden hören und es begeisterte mich. Ihre Augen glitzerten.

»Ich liebe den Regen«, sprach ich die Wahrheit aus und lachte dann.
Sie hatte vermutlich nichts verstanden. Wie sollte sie auch?

»Ich liebe den Regen und wenn es draußen stürmt und nass ist. Ich liebe das feuchte Klima und ich bekomme schlechte Laune von der Sonne. Vielleicht bin ich selbst das Verrückte an der Geschichte, immerhin ist England ein einziger Regentropfen, aber zu Hause wollte ich nicht bleiben und Seattles Ruf eine einzige Regenstadt zu sein, hat mir meine Entscheidung dann ziemlich leicht gemacht. Ich wollte hier leben, weil das Wetter 'schlechter' ist, als an anderen Ecken Amerikas. Beinahe 300 Tage im Jahr regnet es hier und wirtschaftlich ist Seattle stabil. Ich weiß nicht, ich mochte es einfach schon immer hier.«

Ich sah ein wenig verunsichert in ihre Richtung. Hielt sie mich jetzt für bekloppt?
»Das ist nicht verrückt, Davis.«
Sie schmunzelte amüsiert und schüttelte über meine Unsicherheit den Kopf, dass ihre Haare wild aufflogen. Ich starrte sie an.
Ihre Haare schimmerten golden und stachen wegen des knalligen Tons des roten Kleides wunderschön hervor. Ich war fasziniert. Niemals wieder würde ich an ihrer Schönheit zweifeln.
Niemals wieder würde ich sie leugnen.

»Das ist etwas Besonderes. Für solche Entscheidungen, und seien sie aus noch so absurden Gründen, leben wir Menschen. Das zeichnet uns aus, das macht uns zu Menschen. Es zeigt, dass wir nicht alle denselben Weg gehen.«

Innerlich schüttelte ich abermals den Kopf. Es war unglaublich. Wie hatte ich es je gewagt diese Frau zu verletzen und wie war es möglich, dass sie jetzt neben mir lief und mir vom Leben philosophierte?
Es war unglaublich. Ich hatte mich zum ersten Mal in meinem Leben bei einer Frau, die nicht meine Mutter war, entschuldigt, weil ich sie nicht verlieren wollte.
Weil ich den Gedanken nicht ertrug, dass sie mich hassen würde.

Ich ertrug ihren Hass nicht. Ihre Abneigung, ihre Aufmerksamkeit für einen anderen Mann. Es stach in meiner Brust. Eifersucht. Vielleicht.

»Wie steht es denn mit dir? Woher kommst du und wie kam es zu diesem einzigartigen Namen?«
Das war eine Frage, die mich nagte. Wie war man auf diesen Namen gekommen? Er trug für mich schon reinste Faszination und es fühlte sich jedes Mal gut an, ihn auszusprechen. Er war speziell und gefiel mir unglaublich.

»Ursprünglich haben wir mal in San Francisco gewohnt. Wir hatten ein wunderschönes Haus am Meer und ich erinnere mich an Abende, an denen ich auf der Veranda saß und aufs Meer hinaussah, während die rote Sonne die Welt ertränkte.
Ich habe es geliebt, aber was man liebt, dass soll man gehen lassen und das musste ich irgendwann tun. Ich bin gemeinsam mit meiner Schwester hierhergezogen und seit bestimmt drei Jahren leben wir jetzt hier. Ich mag Seattle und das auch wegen des Wetters. Regentropfen haben für mich eine ganz absurd schöne Bedeutung.« Sie lächelte und hielt einen Moment gedankenverloren inne.

»Und mein Name? Tja. Ich denke, ich müsste dir meine gesamte Lebensgeschichte erzählen, damit du verstehst, wie viel Schmerz sich hinter diesen fünf Buchstaben verbirgt. Ich möchte heute Abend allerdings nicht traurig sein, deswegen sage ich nichts.
Ich kann dir nur gestehen, dass ich nicht immer Tears hieß. Auf dem Papier stand einmal Hanna, aber mich hat nie jemand so genannt. Mein Dad sagte immer Tears, wenn ich an seinem Bett saß und seine Hand hielt und irgendwann hat sich das so ergeben.
Als ich achtzehn Jahre alt war, habe ich mich sofort für diesen Namen entschieden. Er erinnert mich gut daran, dass ich vor gar nicht allzu langer Zeit auch mal ein Leben hatte.«

Auch wenn sie kläglich versuchte ihren Schmerz mit einem Lächeln zu tuschen, hörte ich genau wie viel Last und Mut sie diese Erzählung gekostet hatte. Ihre Augen waren glasig geworden und ich fühlte mich immer schlechter, sie je so abgespeist zu haben. Ich hatte ihr noch mehr Lasten auf die Seele gelegt; sie hatte ihren Job meinetwegen verloren und dabei schien sie noch so viel mehr Probleme zu haben.

Mir wurde schlecht bei ihrem Anblick. Sie sah mit einem Mal so zerbrechlich aus und ich wollte sie am liebsten umarmen und halten, bis sie sich ein wenig besser fühlte.
Ich wollte nie jemanden trösten, doch die Tränen dieser jungen Frau schienen mir seit einiger Zeit so viel kostbarer als die anderer und alles, was mit ihr zu tun hatte, verwandelte sich allmählich in etwas, was ich mit aller Macht zu schützen versuchte. Es war nicht nur ein Wille. Nein. Es war auch ein Zwang, dem ich mich nicht einmal auf Knien widersetzten konnte. Nicht wollte und es, so wie sie jetzt aussah, auch nicht sollte.

Hinter ihrem Gesicht lag so viel mehr. Schmerz, Qualen, eine tiefe Geschichte. Und ich wollte derjenige sein, der ihr über das Haar strich und sie in seinen Armen hielt, wenn der Damm ihrer Kraft brach und diese Geschichte sie wieder einholte. Ich wollte mehr sein, als ich bisher war und ich wusste das war verrückt.
Aber dann war ich eben verrückt. Für Tears würde ich alles sein, ganz egal, Hauptsache sie stieß mich nicht von sich.

»Ich war noch nie in San Francisco. Wie war es dort, wo du gewohnt hast?«
Mir schien, das Thema rund um ihre Familie und ihren Namen, zog sie in eine dunkle Tiefe. Vielleicht war ihr Vater verstorben oder es gab einen heftigen Streit. Lebte ihre Familie wohl noch in San Francisco? Würden sie mich mögen?
Wo denkst du hin?

»Es war perfekt. Ich glaube, es würde dir dort gefallen. Traumhafte Sonnenuntergänge und eine wahnsinnige Aussicht auf den Pazifik. Wenn ich aus dem Fenster meines Kinderzimmers sah, lag die Weite des Meeres vor mir. Ich habe es geliebt.
San Francisco ist außerdem eine sehr hübsche Stadt. Wir haben das ganze Jahr nebeliges Klima, aber vor allem von der Golden Gate Bridge aus, ist gerade dieses Undurchsichtige wunderbar.
In San Francisco gibt es viele viktorianisch aussehende Häuser, die älteste China Town ist in San Francisco und es gibt außergewöhnliche Straßenbahnen.«
»Du wolltest nie von dort weg, oder?«
Ihre Stimme triefte vor so viel Sehnsucht, dass ich sie durch meinen halben Körper spürte. Warum auch immer sie dort wegmusste, sie schien zurück zu wollen.

»Doch. Ich wollte nur von dort weg. Nicht wegen San Francisco, sondern wegen meinen Erinnerungen. Ich musste fliehen, sonst wäre ich ertrunken.«
Wieder klang sie bitter.

»Und wenn du jetzt, Jahre später, zurückkommen würdest, was würdest du den Tag lang tun?«
»Ich würde auf den Regen warten.«

Irgendwann schwor ich mir, sie deswegen zu fragen. Doch in dem Moment lächelte sie zu schön, um es zu zerstören. Eine Antwort hatte ich außerdem nicht verdient. Ich hatte ihre Anwesenheit nicht einmal verdient. Und doch war sie hier. Direkt neben mir. Unsere Arme berührten sich.

»Hast du Geschwister?«
»Ja. In meiner Familie sind wir drei Jungen. Mein großer Bruder Gray, dann komme ich und schließlich mein jüngster Bruder Daniel.«
»Erzähl mir von ihnen«, bat sie leise.

»Gray ist siebenundzwanzig Jahre alt und wohnt ganz in der Nähe von Seattle. Er und seine Frau haben sich hier in der Stadt kennengelernt und vor fünf Jahren sind sie Eltern geworden. Tommy heißt mein Neffe - ein echter Rabauke. Mittlerweile wohnen sie ein paar Meilen von hier in einem kleinen Vorort. Ich besuche sie gerne und oft, damit ich als Pate auch Teil habe am Leben meines Neffen.
Bei meinem jüngeren Bruder sieht es mit Familie und Kindern noch anders aus. Der Gute wird bald siebzehn und geht noch zur Schule. In meinen Augen steckt er noch ganz tief in der Pubertät, aber das darfst du ihm nicht ins Gesicht sagen. Er ist leicht zu ärgern, vermutlich, weil er der Jüngste ist. Die Kleinen müssen immer ein bisschen mehr leiden.«

Ich zwinkerte ihr grinsend zu und stimmte leise in ihr Lachen ein. Es klang wie ein bimmelndes Windspiel - eine sanfte Melodie, die dich in den Himmel geleitete.

»Daniel sehe ich wegen der Entfernung weniger als Gray, aber in den Ferien ist er so gut wie immer bei mir - ob mit oder ohne Mum und Dad. Er ist manchmal eine ziemliche Nervensäge, aber er hat das Herz am rechten Fleck, ich wünschte, er würde das auch langsam bemerken.«

»Ach, das sind Teenager. Denen muss man Zeit lassen. Am besten ist es, sie ihren Weg selber finden zu lassen. Manche Menschen brauchen die Zeit um in Fehlern endlich herauszufinden, wer sie wirklich sind. Es wird dir nichts anders übrig bleiben, als geduldig zu sein.«

»Du sprichst wie immer aus Erfahrung. Ist deine Schwester auch in dem Alter? Oder kennst du diese, nennen wir sie 'schwierige', Phase nur von dir selbst?«
»Nein, an mich selbst erinnere ich mich von allem am wenigsten. Ich spreche von meiner Schwester. Sie ist fünfzehn und manchmal eine ziemliche Zicke. Sie ist stur, aber das liegt in den Genen.«

»Wäre Daniel ein Mädchen, würde ich ihn ›Oberzicke‹ nennen, aber leider ist er ein Mann und deswegen reicht bei ihm die Bezeichnung: »Meckerziege«.
Er steckt wirklich ganz tief in seiner Entdecker Phase und manchmal glaube ich, dass er bei seiner Suche nach dem Lebenssinn irgendwie auf den Kopf gefallen ist.« Ich begann zu lachen und bekam unwillkürlich sein Gesicht vor Augen.

»Ist er denn so tollpatschig?«
»Nein, aber er ist abenteuerlustig, wenn man es denn so nennen mag.«
»Und was macht ihn so wagemutig? Was hat er angestellt?«
»Ich glaube, von uns Dreien hat er bisher am meisten Blödsinn gemacht. Vor ein paar Monaten wurde er wenige Tage von der Schule suspendiert, weil er im Technik-Unterricht einen Kurzschluss verursacht hat, der irgendwie die halbe Schule lahmgelegt hat.
Seinetwegen musste der alljährliche Abschlussball verlegt werden, weil er beim Aufhängen einer Girlande mit der Leiter umgekippt und mitten im Buffet gelandet ist.
Vielleicht war das Zweite tatsächlich nur Pech, aber das er vor einigen Monaten auf den schwarzen BMW der Schuldirektorin mit rosa Graffiti »Just Married« gesprüht hat, war pure Absicht. Er handelt wie ein Kind und so lustig ich seine Streiche auch finde, gewisse Dinge gehen einfach zu weit.
Er kann seinem Geschichtslehrer nicht mit Edding »That's a long story« auf die Stirn schreiben, weil dieser gerade ein Mittagsschläfchen hält. Und er kann auch nicht einfach Schule schwänzen und als Ausrede sagen, er hätte noch Hausaufgaben machen müssen. Er verhält sich wie ein zu kindisches Kind.«

»Nun, er ist eines. So wie du und ich. Wir sind alle Kinder und manche Kinder sind im Geiste ernst und manche blödeln noch ein wenig. Ich glaube, du musst ihm Zeit geben, obwohl man gewisse Dinge tatsächlich nicht tolerieren kann.«

Dass sie schief grinste, nahm den Ernst aus ihren Worten. Ich verstand, warum sie amüsiert war und würde sie Daniel persönlich kennen, hätte sie noch mehr Gründe zu lachen. Er war sehr lebensfroh und rebellisch. Diese Eigenschaften waren es die ihn in Schwierigkeiten brachten, aber er lachte über Konsequenzen bloß.

Hausarrest hieß er herzlich willkommen und wenn man ihm sein Handy wegnahm, begann er eben Gedichte zu singen.
Das alles klang verrückt, aber in gewisser Weise war es auch genial.
Durch meinen Bruder und seine Strafe den Schulhof in den Pausen sauberzumachen, stritten sich heute alle um diesen Job.
Es muss wohl nach Spaß ausgesehen haben, als er mit einer Schaufel über den Schulhof getanzt war und Plastik in seinen Eimer geladen hatte.

Mein Bruder verwandelte Dinge und meistens war er ziemlich peinlich und ausartend, dass er auch meine Eltern in Teufels Küche brachte. Ich glaubte, deswegen schickten sie ihn in den Ferien immer nach Amerika. Einfach aus Hoffnung, dass er nach den freien Tagen als anständiger Gentleman wiederkehren würde.

Manchmal wünschte auch ich, er hätte diese Streichphase endlich hinter sich. Aber ich lachte selbst, wenn ich ihn erzählen hörte und dann wusste ich, dass ich früher nicht besser war.

»Jetzt musst du erzählen. Was war dein schlimmster Streich an der Schule?«
Sie schien mein versonnenes Grinsen verstanden zu haben.
Ich war früher auch ein wahrer Engel in der Schule.

»Es war irgendein Freitag im Sommer. Es war heiß und wegen einem dummen Projekttag musste die gesamte Schülerschaft bis in den frühen Abend in der Schule bleiben. Niemand hatte Lust in den stickigen Klassenräumen zu hocken und den Lehrern zuzuhören. Also habe ich mir etwas einfallen lassen und kann bis heute nicht fassen, dass es wirklich geklappt hat.
Kennst du die Lautsprecheranlagen, die es in jedem Klassenraum und Flur gibt, über die Ankündigungen für die ganze Schule gegeben werden?«

»Ja. Bei uns gab es überall so ein Teil. Sogar auf dem Schulhof und in der Sporthalle.«
»Bei uns auch. Und genau das habe ich zu meinem Vorteil genutzt. Ich habe diese Anlage angezapft und mit ein paar Kabelbrüchen umgespielt, dass ich über meinen MP3-Player Musik spielen konnte. Auf voller Lautstärke und den Player an der Decke klebend, ertönte um Punkt elf Uhr aus dem verlassenen Putzraum im Oberstufentrakt »It's My Life« von Bon Jovi.
Die Lehrer konnten sich denken, wer das ganze Chaos angerichtet hatte. Es kam nicht oft vor, dass ein Schüler durch den leeren Schulflur zu tanzen begann und dabei jeden darauf hinwies, dass dieser Tag ganz offiziell gelaufen war.
Niemand aber konnte beweisen, dass ich es gewesen war und niemand fand den Player in Rekord schnelle, als das man uns Schüler in der Schule hätte halten können. Es war einfach zu laut und schallend. Man verstand kein Wort mehr und das Lied wiederholte sich immer wieder.
Ich glaube, im Nachhinein waren nur die Literaturlehrer angepisst, dass ihr krönendes Theaterstück ins Wasser gefallen war, weil man wegen immenser Lautstärke kein Wort mehr hatte sagen können.
Aber wie soll ich es sagen: »It's my life«. Die Lehrer konnten mir nichts beweisen und es war so heiß, dass wirklich niemand mir für die Aktion hatte sauer sein können. Zuletzt mussten Kabel durchgeschnitten werden, damit am nächsten Tag der Unterricht wie gewohnt verlaufen konnte, ich war an diesem Tag ganz zufällig krank. Aber man lebt nur einmal und es ist, wie Bon Jovi es durch die ganze Schule sang:
"It's my life. It's now or never. I ain't gonna live forever. I just wanna live when I'm alive."
Und ich habe diese zwei Tage gelebt. Ich lag den ganzen freien Schultag im Garten und habe die Sonne mein Eis schmelzen lassen und am nächsten Tag habe ich geschwänzt - offiziell war ich natürlich krank - und war mit ein paar Freunden in London.«

»Du warst ja mal ein richtig böser Boy.« Sie lachte anklagend und schien sich über diesen Streich köstlich zu amüsieren. Auf ihren Wangen zierten sich kleine Grübchen und ihre Lippen konnten ihr Kichern nicht mehr leise halten.
Ich hatte vergessen, wie lange wir bereits am Laufen waren, aber dieser Abend hätte noch ewig so weiter gehen können.

»Ja. Das dachten meine Eltern vermutlich auch. Sie waren stocksauer, aber irgendwie war Dad auch stolz auf mich. Im Stillen hat er mir Jahre später erzählt, dass er diese Projekttage früher auch immer anders zu überbrücken versucht hatte. Alles in allem hat mich diese Aktion drei Monate Taschengeld Entzug und Hausarrest gekostet, aber das war es wert.«

»Dann müsstest du doch eigentlich am besten verstehen, wieso dein Bruder auch so rebellisch ist. Du und dein Dad waren auch so.«
»Aber nicht so übertrieben. Ich habe nie etwas konkret demoliert oder musste mir von meinen Eltern eine Autowäsche bezahlen lassen. Dieser Lack war echt teuer und Daniel hatte Glück, dass ich ihm diesen Mist bezahlt habe. Dass war ein schönes Gespräch mit meiner ehemaligen Schuldirektorin. Ihr ist beinahe der Blumenhut vom Kopf gefallen, als ich das Büro, anstelle meines Dads, betreten und mit ihr über die Kosten geredet habe.
Ihr war klar, dass Daniel mein Bruder ist, aber wohl nicht, dass ihr ehemaliger Schüler mit satten zwanzig Jahren einmal mehr Geld, als sie in ihrem ganzen Leben, in der Tasche haben würde.«

»Du warst also schon mit zwanzig Jahren so ein arroganter Schnösel?«
»Nein. Ich war damals schon ein Genie«, korrigierte ich sie und bekam dafür einen kräftigen Schlag auf die Schulter.
»Davis gefiel mir besser, als das kleine Arschloch«, gab sie murmelnd zu.

»Ist das dein Spitzname für mich? Kleines Arschloch
Ich hob amüsiert eine Augenbraue.
»Wenn du so weiter machst, kannst du gerne auch wieder das Oberarschloch werden. Möchtest du das?«
Sie provozierte es und ich spürte, wie mein Blut vor Freude zu kochen begann. Ihre himmelblauen Augen funkelten in der Dunkelheit und die Frechheit stand ihr ins Gesicht geschrieben. Wieder war ich hin und weg.
Diese Augen gingen mir durch Mark und Bein.

»Nein. Dann lieber Davis, der böse Boy.«
Sie kicherte.
»Der Bad Boy«, korrigierte sie prustend.
Wie schaffte sie es meiner Autorität so zu widersetzen und gänzlich zu ignorieren mit wem sie hier sprach? Es reizte mich tierisch, dass sie so respektlos war und sich nicht mal ein bisschen Sorgen über Konsequenzen machte.
Sie beleidigte mich, sie witzelte über mich und stellte jede Respekt verlangende Faser meines Körpers infrage. Sie behandelte mich so, wie auch Brian und meine Familie mich behandelten. Wie einen Menschen und jemanden der lebte wie jeder andere auch. Ich kaufte ihr aufs Wort ab, dass sie mit meiner Zuneigung nicht mein Geld im Ausblick hatte und das war besonders.
Mir gefiel, dass sie mich so 'normal' behandelte und über mich mit voller Ehrlichkeit lachte, als unehrlich mit mir.
Sie stand neben mir, weil sie mit mir reden und nicht weil sie von meinem Geld profitieren wollte. Mit einem Mal gefiel sie mir noch mehr.

»Warst du etwa nie so böse?«, fragte ich sie nach einer Weile.
»Nein. Ich habe das Auto meiner Lehrer nie demoliert, aber nicht, weil ich es mir nicht hätte leisten können, sondern eher, weil ich kaum in der Schule war oder die Stimmung für solche Streiche einfach nicht gereicht hat.«

Dieses Etwas musste wohl ihre gesamte Kindheit bedrückt haben und ich spürte wieder ein mieses Gefühl in meinem Magen. Ich wollte ihr so gerne beistehen und ihre aufsteigenden Tränen zurückhalten, aber ich wollte sie ebenfalls zu nichts drängen oder sie überfallen.

Wir waren stehen geblieben.
Vor mir stand in vollster Dunkelheit das Haus, zu dem ich sie auch vor ein paar Tagen getragen hatte. Als ich das Haus und vor allem einen Nachbarn gesehen hatte, hatte ich am liebsten einfach weiter laufen wollen, nicht nur, weil sie beinahe vergewaltigt worden war, sondern auch, weil er nicht gerade sauber und freundlich zu sein schien.
Der Kerl war anwidernd gewesen und es hatte mir Sorgen bereitet, als ich sie das Haus hatte betreten lassen. Ich wollte sie nie gehen lassen und doch war mein Behagen ebenso unmöglich.
Sie kannte mich schließlich kaum.

Und jetzt stand ich wieder neben diesem zerfallenen Haus und wollte sie am liebsten hochheben und davon rennen. Ich wollte sie mit zu mir nehmen und nie wieder gehen lassen. Aber diesen Drang hatte ich jetzt zu unterdrücken, sie würde mich sofort wieder zu hassen beginnen.

Obwohl, danach sah sie mit diesen glasigen Augen nicht aus.
Dieses Etwas in ihrer Vergangenheit schien sie ertränken zu wollen und ich wollte sie gerne, so gerne, beschützen und trösten.
Das wollte ich noch nie.
Und genau deswegen zögerte ich, versteifte mich, als ihre erste Träne fiel und ihr Körper zu zittern begann. Ihre Schmerzen jagten mir einen kalten Schauer über den Rücken. Fühlte sich Hilflosigkeit genau so an?
Mir schien es ganz so und es gefiel mir gar nicht bei ihr und dem Grund ihrer Tränen so im Dunkeln zu tappen.

Sie sollte mir erzählen, was ihr so weh getan hatte und dann wollte ich es aus der Welt schaffen.
Wenn sie früher je auch nur ein Junge falsch angefasst hat, dann...

»Kannst du mich bitte umarmen?«
Was?

Schneller als mein Kopf zu schalten begann, zog ich sie näher an mich, bettete ihren Kopf an meiner Schulter und ließ meine Kleidung all ihre Tränen aufsaugen. Ich hätte mich also doch sofort trauen und meinem Gefühl vertrauen können.
Es fühlte sich nie besser an, einem Menschen so nahe zu sein.

Es fühlte sich nie besser an, jemanden zu halten,
jemanden zu trösten,
jemanden zu mögen.

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