1« BONUSKAPITEL || Tears

[Das längste Kapitel, das ich jemals geschrieben habe! 7340 Wörter! Ich wünsche Euch viel Spaß beim Lesen und möchte mich bedanken, dass schon so viele diese Geschichte gelesen haben. ❤️]

Zitternd rutschte ich an den Fliesen der Badezimmerwand ab und ließ mich auf den kalten Boden sinken.

Ein krankhaftes Wimmern tönte aus meinem tiefsten Inneren und brachte mein Herz zum Stillstand.

Haltlos begann ich zu weinen.
Schrecklich, quälend zu weinen.

Das konnte nicht sein.
Das konnte nicht sein.
Das durfte nicht sein.
Das sollte nicht sein.
Das sollte nicht sein!

Ich krümmte mich auf dem Boden zusammen, warf das Messer aus meiner Hand und ließ es an die Wand prallen.
Ich wollte das nicht!

Ein kleiner Schrei entwich mir, dann rannen nur noch Tränen aus mir und ließen meinen Körper erbeben.

Ich biss mir in die Handfläche.
Ich hatte mich lange nicht mehr selbstverletzt, aber heute schien es mir ideal. Gerade jetzt, schien es mir perfekt. Ich brauchte das dringend. Ich konnte nicht atmen. Ich brauchte Luft!

Keuchend riss ich meine Haut von meinen Zähnen und öffnete meinen Mund um einen tiefen Atemzug zu nehmen und meine Zähne dann gleich wieder in meiner Handfläche zu versenken.

Der Schmerz kam Sekunden zu spät, aber er breitete sich wie ein Lauffeuer in mir aus und stillte meine Sinne.
Der körperliche Schmerz war so viel besser, als das böse Ding in meinem Körper, das von nun an Teil meines Lebens sein sollte.

Das konnte nicht sein.
Das konnte nicht sein.
Das durfte nicht sein.
Das sollte nicht sein.
Das sollte nicht sein!

Ich starrte wimmernd auf meine Handfläche und ließ mit einem zweiten Atemzug haltlos Blut fließen.
Eine dicke Bisspur, um die sich lila verfärbte Haut malte, brannte sich in meine Augen und ich hasste mich für das, was ich soeben getan hatte.

Ich hatte es schon wieder getan.
Ich hatte meine Schmerzen mit Schmerzen betäubt.

Aber verdammt! Wie sollte ich das sonst machen?
Wie konnte ich mir sonst helfen?
Wie sollte ich das sonst ertragen?

Ich konnte das nicht.
Ich wollte das nicht.

Wie oft sollte ich sterben, bis ich endlich tot war?

»Tears? Schatz, bist du da drinnen?«

Nein.
Nein, hier drinnen war die Hülle.
Hier drinnen ermordete sich eine Puppe.

»Ist alles in Ordnung?«

Nein.
Nein, bei der Hülle war gar nichts in Ordnung.
Nein, hier drinnen ermordete man eine Puppe.

»Tears?« Er rüttelte an der Tür.

Ich sah hypnotisiert auf das quellende Blut in meiner Handfläche.
Es rann von meiner Hand, lief tief über meinen Arm und wie ein Wasserfall auf den weißen Boden.

Oh, goldener Tod wo bist du nur?

Ich grinste wie eine Irre.
Die Puppe lachte leise.
Sie lachte, bis sie ein Schwall der Realität übergoss und sie wie vom Blitz getroffen auf ihre Beine sprang.

Im Spiegel erschien ihr Gesicht.
Sie sah wie ich aus. Sie war ich. Aber sie war nicht ich.

Ich sah sie hasserfüllt an, sah an ihr hinab und auf ihren Körper.
Da drinnen sollte es sein?
Da drinnen sollte der Tod sein?

Wie nahe stand er mir?
Wann würde er mich endlich holen?
Wie viel von mir hatte er schon gefressen? Wann zerstörte er mich endgültig?
Wann nahm er mir alle Luft zum Atmen?

Ich schloss die Augen vor dem Monster im Spiegel.
Ich wollte es nicht sehen.
Ich wollte es nicht lieben.
Aber scheiße, ich liebte es.
Ich liebte es, bis es mir endlich das Leben nahm.

Bittersüßer Tod.

Ich hatte immer gewusst, dass ich keine Ausnahme sein konnte.
Ich hatte immer gewusst, dass das hier nicht das Ende sein konnte.
Für Menschen wie mich gab es kein Happy End.
Für Menschen wie mich war das Schicksal ergeben.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis mich die Vergangenheit einholte und auch ich ein Teil von ihr wurde.

Meine Zeit war angebrochen.

Mit einem neuen Schwall der Tränen drehte ich mich vom Spiegel weg und stolperte zur Badezimmertür um sie im selben Moment aufzureißen.

Mein Blick begegnete seinem in nur einer Sekunde und ich glaubte ihn erleichtert aufatmen zu sehen, ehe er realisierte, dass etwas nicht stimmte.
Es stimmte nichts in dieser verdrehten Welt.

Hier war alles grausam!

»Scheiße, Tears! Du blutest! Was ist passiert? Warum weinst du, Baby?«

Er war so behutsam.
Er war so liebevoll.
Er was so gut. So gut!

Mit sorgenvollem Blick näherte er sich mir, wollte mich in den Arm nehmen, mir die Tränen aus dem Gesicht küssen und meine Wunde versorgen. Er wollte mich zum Lachen bringen.

Aber ich konnte das nicht.
Ich konnte das nicht!

Und so sehr ich ihn auch bei mir haben und mich hinter ihm verstecken wollte, es ging nicht!

»Komm mir nicht näher!«, befahl ich ihm monoton und hob schützend meine Arme vor meinen Körper.
Er erhielt damit freie Sicht auf meine zerbissene Hand, aber das war mir egal.

Davis schien zu einer Statue zu gefrieren. Mit weit aufgerissenen Augen sah er von meiner blutigen Hand in meine Augen und hob dann unschuldig seine Hände.
Angst, Sorge und seine unendliche Liebe wehten mir ins Gesicht, aber ich ertrug seine Zuneigung nicht.

Er hatte doch keine Ahnung!
Er hatte doch keine verdammte Ahnung!

»Tears, ich tue dir nichts. Bitte lass mich dir helfen. Du bist verletzt!«

Er sah mich eindringlich an.
Seine Augen waren zum Versinken groß und spiegelten seinen hetzenden Herzschlag.

Er hatte Angst.

Genau wie ich.

Nur aus einem völlig anderen Grund.

Er traute sich einen kleinen Schritt in meine Richtung, aber ich wich wimmernd einen Schritt zurück.
Er sollte mir nicht näher kommen!

Ich wollte seine Nähe nicht!

»Komm mir nicht näher!«, fauchte ich nun deutlich lauter und sah ihn so zerrissen an, dass er voller Unglauben einen Schritt zurückwich und mich wie von einem Startschuss getroffen, losrennen ließ.

Sprintend hetzte ich an ihm vorbei, ehe er mich erwischen konnte und rannte schreiend die Treppe des Penthauses nach unten.

Schneller als er oder einer seiner Bodyguards handeln konnte, war ich in der Küche angekommen und hielt ein langes, schwarzes Küchenmesser in der Hand.

Die Männer in meiner Nähe hielten in all ihren Bewegungen inne.

Ich sah von James zu Jason und Matt, die es sich auf der Couch gemütlich gemacht hatten und dann zu Davis.

»Ein falscher Schritt oder auch nur einer von euch, der mir folgt und ich schwöre, ich bringe mich vor euren Augen um!«, rief ich und spürte mein Herz in unmenschlichen Bewegungen auf und ab schlagen.

Das Adrenalin pumpte durch meinen Körper.
Ich fühlte mich durch und durch vergiftet.
Mir war schlecht.
Ich wollte nichts mehr als mir all die Grausamkeit aus dem Körper zu brechen. Aber das ging nicht. Denn das half rein gar nichts.

»Tears mach keine Dummheiten!«

Davis stand am Treppenansatz und sah mich eingehen an.
Sein Oberkörper bebte. Er war mir nachgehetzt. Und er hatte Angst, dass ich Dummheiten beging mit dem scharfen Messer in meiner Hand.

Glaub mir, Baby, das hier ist keine Dummheit! Das hier nennt man Erlösung.

Er und auch James hoben abwehrend die Hände und sahen mich beruhigend an, während sie einen Fuß in meine Richtung schoben.

Ich riss das Messer ruckartig an meinen Hals.

»Ich sagte, ich sollt stehen bleiben! Ich mache keine scheiß Witze! Davis, geh zurück auf die oberste Stufe! James mach mir den Weg frei, Jason du bleibst wo du bist und verdammt nochmal Matt, wirf mir die Autoschlüssel vom Tisch zu! Sofort!«

Meine Stimme war so durchtränkt von Schmerz und tiefem Groll, dass ich förmlich sehen konnte, wie jeder erstarrt eine Gänsehaut bekam.
Selbst mein liebster Bodyguard hatte auf einmal
Angst vor mir und dem, was ich mir bereit war anzutun.

»Was ist passiert, Tears?«, versuchte Davis es ein letztes Mal. Aber ich wollte nicht reden. Ich wollte hier nur noch weg.

»Sofort!«, schrie ich unterkühlt und sah jeden von ihnen an, während ich die Klinge an meinen Hals setzte und langsam zustach.

Ich spürte einen ersten Tropfen Blut fallen.
Er fiel ebenso schnell wie der Fluss an meiner Hand. Aber er brachte so viel mehr zum
Rollen.

»Tut was sie sagt! Wir tuen was du sagst, Baby! Beruhig dich und leg das Messer weg!«

Ich sah ihn gleich zwei Meter zurücktreten.
Gleichsam wie James, der auf Davis Befehl meinen Weg frei machte und sich wehrlos an die Terrassentür stellte.

Seine sonst so monotone Gesichtsmaske war blechern entstellt. Er war hilflos in dieser Situation gefangen.
So wie wir alle.

»Und jetzt die Schlüssel!«, sagte ich zu Matt und Davis nickte seinem Freund drängenst zu das zu tun, was ich verlangte.

Mein langjähriger Freund war blass im Gesicht geworden.
Sein Mund war erschrocken geöffnet und er konnte nicht von dem vielen Blut an meinem Körper absehen.

Eben noch hatte ich mich ganz normal verhalten.
Ich war von der Arbeit gekommen, hatte ihn auf die Wange geküsst und Davis auf den Mund und dann war ich in meinem Arbeitszimmer verschwunden.

Was war geschehen? Was war mein Problem? Wieso hielt ich ein Messer in den Händen? Warum hatte ich mich gebissen?

In seinem treuen Gesicht spiegelten sich tausende Fragen und er musste seine Starrheit hinunterschlucken, als er sah, wie ich das Messer stärker an meinen Hals drückte.

Er entschied über mein Leben.

Er hielt es am seidenen Faden.

Und er brachte es nicht zum Reißen.

In nur einer Sekunde war er aufgestanden und warf mir die gewünschten Autoschlüssel über die Polstergarnitur.

Ich fing sie auf. Es waren Davis Schlüssel. Aber das war unwichtig. Ich wollte nur noch gehen.

Langsam setzte ich mich in Bewegung. Das Messer behielt ich wo es war. Sie sollten auf keine falschen Ideen kommen.
Mit bedachten Schritten durchlief ich mein Zuhause.
Mein Blick lief sekündlich von einem zum Anderen.

Niemand rührte sich.
Nur ihre Augen bohrten sich von allen Seiten angsterfüllt an meinen Körper.

Lass das Messer fallen!
Lass das Messer fallen!
Lass das Messer fallen!, schrieen ihre missmutigen Augen, während meine bloß gequälte Tränen quetschten und sich nicht anders zu helfen wussten.

Mir ging langsam die Luft aus.
Und dazu war mir schrecklich schlecht. Mir ging es dreckig.
Ich fühlte mich totkrank.
Und vielleicht ... vielleicht war ich das ja auch.

»Folgt mir nicht, sucht mich nicht und hetzt mir niemanden auf. Sehe ich einen von euch, schwöre ich, dass es das letzte Mal war. Niemand verlässt die Wohnung, bis ich weg bin.«

Ich trat in den Aufzug und drückte ohne den Blick abzuwenden auf den Knopf fürs Foyer.

Ehe sich die Türen schlossen, schlang sich mein Blick in den des Mannes, den ich nun schon seit fünf Jahren meinen Freund nannte.

Er war mein Leben.
Er war meine große Liebe.
Und er war der letzte, den ich gerade in meinem Herzen ertrug.

Unsere Tränen fielen zeitgleich aus unseren Augenwinkeln.

Die Türen schlossen sich.

x x x

Ich fuhr wie eine Irre durch die Nacht.

Das Messer hatte ich wütend in den Beifahrersitz gerammt und mittlerweile waren meine Augen vom Weinen so ausgetrocknet und gereizt, dass ich mir alle paar Sekunden mit den Fingern darüber reiben musste.

Ich fühlte mich elend.
Ich fühlte mich ausgeleert und unschuldig angeklagt.
Was hatte ich dieser Welt denn nur getan?

Wieso konnte ich nicht endlich einfach glücklich sein.
Ich hatte einen Lebenssinn in einem Mann gefunden, den ich liebte und bei dem ich wusste, dass er meine Zukunft war.
Ich hatte tolle Freunde, die mich niemals im Stich ließen und mich alle Probleme vergessen ließen.
Ich hatte ein Zuhause, eine Arbeit, ein Leben!

Wieso durfte ich dann nicht endlich einmal glücklich sein?
Wieso war bei mir immer alles auf ein Limit an Zeit begrenzt?
Was hatte ich denn nur getan?
Wieso konnte mich der Tod nicht einfach in Frieden lassen?

»Wieso?«, schrie ich wehleidig in den strömenden Regen, als ich Stunden später endlich mein Ziel erreicht hatte.

Wimmernd und zitternd torkelte ich über den verlassenen Friedhof und ließ mich dann achtlos in das matschige Gras zwischen den Gräbern meiner Schwester und meines Vaters sinken.

Schluchzend zog ich meine Knie an und vergrub meinen Kopf, während der Regen unaufhörlich auf mich niederprasselte und mich bis unter die Haut durchnässte.

Hier wollte ich sterben.

Der Friedhof in San Francisco war mein Zufluchtsort.
Hier, wo ich den Toten am nächsten war, wo nicht wirklich leben herrschte, hier konnte ich am besten atmen.
Es war ironisch. Aber das war mir egal.

Gerade war mir alles egal.

»Ich will nicht mehr, Jane.«

Mein Körper begann vor Kälte zu zittern.
Ich war ein verheultes Wrack.

»Ich will nicht mehr.
Ich weiß, ich habe es dir versprochen. Aber wie viel Leid kann ein Mensch ertragen, wenn es doch nichts gibt, das ihm Hoffnung schenkt? Ich schaffe das nicht noch einmal«, hauchte ich fiepsend in den kühlen Morgen und sah dann zu ihrem Grabstein auf.

Die weißen Gänseblümchen, die ich in einer Vielzahl auf ihr Grab gepflanzt hatten, hielten sich trotz des strömenden Regens aufrecht und umarmten den Stein auf den in geschwungener Schrift ihr Name prangte.

Janes Tod war nun schon fünf Jahre her und trotzdem war ein Leben ohne sie noch immer schrecklich leer und komisch. Ich vermisste sie. Sie war der größte Bestandteil meines Lebens gewesen. Ich hatte mich an manchen Tagen wir ihre Mutter gefühlt, weil ich sie immer gespielt habe.
Ich konnte meine geliebte Schwester niemals verdrängen, niemals vergessen oder ein Leben ohne sie gänzlich akzeptieren.

Ich konnte mich bloß ablenken. Und eigentlich hatte das die letzten Jahre auch gut geklappt.
Es war einfacher geworden.
Ich hatte mich auf mein eigenes Leben fokussiert, so, wie sie es in ihrem Brief von mir verlangt hatte.

Ich hatte meinen Highschool Abschluss nachgemacht, hatte ein paar Semester studiert und mittlerweile einen wirklich tollen Job bei einer Hilfsorganisation für bedürftige Kinder und Menschen in Armut bekommen.
Zuhause lebte ich mit einem umwerfenden Mann zusammen, der mich wie ein Schatz behandelte, ständig mit mir ausging, mich bekochte, mit mir tanzte, mich zum Lachen brachte und bei dem ich einfach frei sein konnte.

Mein Leben hatte sich auf so vielen verschiedenen Ebenen geändert.
Ich hatte so viel erlebt, so vieles, das ich liebte.

Ich hatte die besten und engsten Freunde mir denen wir uns ständig trafen und Dinge unternahmen.
Wir gingen gemeinsam etwas trinken im B-N, wir machten Ausflüge, gingen einfach nur spazieren oder fuhren gemeinsam in den Urlaub.
Ich hatte eine tolle Familie in Spe bekommen, die mich liebten und akzeptierten und vor denen ich mich nicht zu schämen brauchte. Daniel und Gray waren wie Brüder für mich. Wie triezten uns gegenseitig, hatten unsere eigenen Insider und kannten einander mittlerweile in und auswendig.
Letztes Jahr hatte ich mir sogar meinen Traum erfüllt und war für einige Monate in Afrika gewesen. Gemeinsam mit einigen Arbeitskollegen, mit denen ich mich ebenfalls blendend verstand, hatten wir die Dörfer besucht für die die Organisation Spenden sammelte und dort Hilfe gewährleistete.
Ich hatte sogar meine drei Patenkinder dort besuchen können und es waren mit die schönsten Wochen meines Lebens gewesen.

Das hatte ich immer gewollt.
Ich hatte Menschen helfen wollen.
Ich hatte Menschen treffen und kennenlernen wollen, die in Armut aufwuchsen und denen es viel schlechter ging, als mir mit meinen Luxusproblemen.
Ich wollte schon immer dort sein, wo ich auch wirklich gebraucht wurde. Es war eine so tolle Reise gewesen.

Aber sie und die glücklichen Erinnerungen rückten jetzt in den Hintergrund.
Denn nach den knappen Jahren der Ruhe, in denen ich endlich einmal hatte aufatmen können, ging die Folter nun von vorne los.

Es war nicht vorbei.
Es war nicht vorbei.

Ich hatte das nie gewollt.
Ich hatte immer gewusst, dass ich darauf zu verzichten hatte und das das gut war.
Ich wollte es nicht.

Aber wer wollte es schon?

Ich war es so leid mein Leben lang zu weinen.
Ich war müde. Todmüde.
Ich konnte nicht mehr.

»Ich schaffe das nicht, Jane. Ich habe es so lange verdrängt, mich immer gefragt, ob es mit dir endlich vorbei ist. Aber das ist es nicht. Mit Sicherheit nicht. Und jetzt sieh mich an. Ich habe schon euch alle gehen lassen müssen. Wieso verlassen mich denn immer alle?«

Schluchzend krümmte ich mich auf dem Boden, ehe ich dem Zittern und Beben neues Körpers die volle Kontrolle ließ.

Ich wollte nur noch tot sein.

Aber natürlich war mir das nicht gegeben.
Natürlich musste ich Stunden später aus meinen quälenden Alpträumen erwachen und mich erneut daran erinnern, dass der Teufel es auf mich abgesehen hatte.
Er wollte mich in Flammen aufgehen sehen.
Er wollte mich quälen.
Jeder sollte glücklich sein.

Nur ich, ich verdiente es nicht.
In meiner Umgebung, durch das Blut meiner Verwandten sollte der Tod schwimmen.
Er wollte sie mir alle wegnehmen.
Bis nur noch ich selbst übrig blieb.
Oder ... eben nicht.

Was sollte nur werden?
Wann würde es passieren?
Wie würde ich mich fühlen?
Wie schrecklich hatte sie Jane immer gefühlt?
Was würde Davis tun?
Was würde er machen?
Wie sollte er das alles überhaupt überleben?

Mit wirren Gedanken machte ich mich auf den Weg zum Strand, weil mir meine gesamte Familie dort am nächsten war.

Im Sand ein paar Meter von unserem früheren Wohnhaus entfernt, war ich mir sicher, dass sie ihren Seelenfrieden gefunden hatte.

Mit klapprigen Beinen hockte ich mich in den Sand und vergrub meine Füße in den feuchten Steinen, ehe ich leblos auf das Meer hinaussah.

Vollkommen entspannt und leise rauschend plätscherte es einige Meter von mir entfernt und ergoss sich in kleinen Wellen am Ufer.
Es roch nach Salz und See.
In der Ferne flog eine Möwe.

Eigentlich liebte ich es hier.
Davis und ich waren oft über die Wochenenden hier, um meine Familie zu besuchen.
Ich hatte ihm all meine Lieblingsorte in San Francisco gezeigt, meine alte Schule und die Häuser, die früher einmal uns gehört hatten.

Ich hatte keine Geheimnisse vor meinem Freund.
Ich vertraute und liebte ihn bedingungslos.
Und ich wusste, dass er das auch tat.
Eine Leben ohne Davis konnte ich mir nicht mehr vorstellen.
Er war das heilste in dieser unheilen Welt.

Während ich auf das Meer starrte, ließ ich meinen Gedanken freien Lauf.
Ich dachte an Mum und daran, wie sehr sie uns Kinder geliebt hatte.
Ich dachte an all die unbeantworteten Fragen in meinem Kopf.
Ich dachte an Davis und unser Leben.

Wie sollte es nur weitergehen?

Am frühen Abend setzte sich irgendwann jemand neben mich.
Ich wusste, dass er es war.
Und irgendwie hatte ich auch schon darauf gewartet, dass er kam.

Mit einem tiefen Atemzug seufzte ich und lehnte dann meinen Kopf gegen seine Schulter.
Er war warm.
Ich war kalt.

Er schloss mich in eine Umarmung, drückte mich an sich und folgte meinem Blick hinaus aufs Meer.
Wie immer brauchten wir keine Worte.
Wir hatten noch nie welche gebraucht.

Er und ich kommunizierten am liebsten nonverbal in absoluter Stille.

Er verstand mich.
Und er wusste, dass ich mir nichts antun würde.
Ich hatte nur meinen Freiraum gebaucht, um mir über Dinge klar zu werden.

»Du hast es schon wieder getan«, stellte er belanglos fest. Seine Stimme hielt keinen Schimmer von Vorwurf. Er verurteilte mich nicht dafür.
»Ja«, hauchte ich und sah auf meine verstümmelte Hand.

Ja, ja ich hatte mich schon wieder gebissen.
Ich hatte meinen seelischen Schmerz mit dem körperlichen gleich gemacht.
Es war nicht das erste Mal ...

»Willst du mir sagen, wieso?«

Ich musste nicht.
Er wäre nicht gekränkt, wenn ich einfach meine Klappe hielt.
Er wäre trotzdem da.
Dafür dankte ich ihm.

Ich dankte ihm für alles.
Dass er es war, der mir gefolgt war.
Dass er mir zuhörte.
Dass er mein bester Freund war.

»Weil ich schwanger bin, Peter, und auf meinem Ultraschall unbekannte Schatten zu sehen sind.«

x x x x

Peter und ich blieben noch zwei Tage in San Francisco.

Wir liefen durch die Straßen, aßen am Strand ein Eis und hingen unseren Gedanken nach.

Er wusste, dass ich keine eigenen Kinder wollte.
Er wusste, ich war ungewollt schwanger.

Und das, obwohl wir immer mit tausend Dingen gleichzeitig verhütet hatten und ich wirklich strikt und streng darauf geachtet hatte.

Wie konnte das alles dann möglich sein?
Wie war es möglich, dass ich trotzdem schwanger war?
Wer wollte mich hier eigentlich veräppeln?

War es Gott persönlich?
Hatte ich zu viele Sünden in meinem Leben begangen?
Aber welche und wieso strafte er mich dann mit den schlimmsten Dingen, die ich mir vorstellen konnte?

Ein krankes Kind, krank wegen mir, musste leiden, wegen mir, weil ich ihm das Leben aufzwang, obwohl ich wusste, dass es nicht bleiben würde.

Ich war schon jetzt eine schlechte, selbstsüchtige Mutter, die das alles bereuen würde.

»Beruhige dich, Hanni!«

Peter ließ eine Hand vom Lenkrad los und griff nach meiner Hand.
Er war mit dem Zug angereist und so konnten wir jetzt mit einem Auto wieder zurückfahren.
Ich starrte gequält auf unsere Hände hinunter.
Meine zerbissene, vernarbte Hand in seiner so reinen und unbekümmerten.

An seinem Ringfinger prangte ein goldener Ehering.
Peter war seit zwei Jahren verheiratet und ich fand, dass ihm der Titel als Ehemann hervorragend stand.
Er und seine Frau waren wirklich ein Herz und eine Seele und das ließ mich wieder schlecht fühlen, weil er mir immer hinterherkam, wenn ich Probleme hatte, obwohl er selbst ein Leben führte und das alles nicht zu seinen Pflichten zählte.

Er sollte sich um seine Liebe kümmern, bei seiner Frau sein und nicht bei mir und meinem Unglück.

»Ich bin so schrecklich selbstsüchtig«, hauchte ich gebrochen in die Stille herein und sah mit Tränen aus dem Fenster.
Ich war ein so kaputter Mensch.
Mich konnte man nicht reparieren und es war ein Wunder, dass Davis diese Scherben nicht einfach zurückließ und mit einer Frau glücklich wurde, die ihm mehr als Sorgen bieten konnte.

»Wie bitte?«

»Du müsstest jetzt bei Liana sein und dich um sie und euer Glück kümmern. Stattdessen hälst du die Hand von einem kaputten Menschen, der alles kaputt macht, weil er nichts anderes kann. Ihr alle hättet es so viel besser ohne mich.«

Ich sagte das nicht frei heraus. Ich sagte das nicht, weil ich mich wichtig tun wollte und er mir nun sagte, dass das alles vollkommener Blödsinn ist.
Ich sagte das, weil ich es schrecklicher Weise genauso meinte.
Ich war überzeugt davon, dass diese Welt besser ohne mich dran war.
Und vielleicht, ganz vielleicht, war ich auch besser ohne diese Welt.

Peter bremste das Auto abrupt und parkte dann auf dem Seitenstreifen des Highways.
Als der Motor verstummte, traf sein wehleidiger Blick auf mich und ließ meine Augen wieder brennen.

»Manchmal wünschte ich, dass ich dich nicht lesen könnte, wie ein offenes Buch«, gestand er der Stille,
»weil dann wüsste ich nicht, wie ernst und ehrlich du diese Worte meinst.«

Ich spürte seinen Blick auf mir. Aber ich konnte ihn nicht ansehen.
Es tat mir weh.
Alles tat mir weh.

»Ich hasse alles und jeden, der dir das Gefühl gibt, dass du wertlos bist.
Ich hasse alles und jeden aus der Vergangenheit, der dich schief angesehen hat, der dich verspottet hat und der dich nicht gekannt hat.
Ich hasse alles und jeden, der das heute noch tut.
Ich kann nicht verstehen, wie man dich nicht mögen kann, respektieren kann, lieben kann. Du bist nämlich einer der ehrlichsten und gutmütigsten Menschen auf diesem Planeten, denen ich das Glück, das ewige, verdammte Glück mehr gönne und wünsche, als dem selbstsüchtigen mir selbst.«

Er holte erstickt neue Luft, weil er mit seiner Rede noch nicht fertig war. Er sprach eigentlich nie so viel, aber heute wollte er wohl das ein oder andere loswerden.

Ach, Peter ...

»Für mich ist es eine Ehre, dass du mich deinen besten Freund nennst. Ich bin und will für immer dein bester Freund sein. Du bist eine der wichtigsten Personen in meinem Leben und es ist egal, ob du mir einen Teil deines Leids auf die Schultern packst oder du gar nicht so viel zu tragen hast, ob du mehr oder weniger Probleme hast oder öfter weinst als andere. Ich würde niemals tauschen wollten, die Rolle, den Titel dieser Freundschaft an jemand anderes löhnen wollen. Ich bin aus absoluter Freiheit hier, weil ich das will und möchte und weil es mir erfüllt. Nicht, weil ich mich zwinge, mich um dich zu kümmern.
Liana ist meine Frau. Ich liebe sie, sie macht mich zu dem Menschen, der ich bin. Aber dich liebe ich auch und auch du machst mich zu dem Peter, der ich sein will.
Ich werde mich niemals für einen von euch entscheiden, weil ihr beide ganz verschiedene, aber doch hohe Plätze in meinem Herzen habt, die ich nicht eintauschen werde.
Ich werde immer kommen, wenn du weinend das Haus verlässt, wenn du mich anrufst, wenn du jemanden zum Reden brauchst. Ich würde all das machen, weil ich weiß, dass auch ihr beide das für mich tun würdet oder es längst tut.
Es ist ein Geben und Nehmen in einer Freundschaft – aber das gerade macht sie unverwundbar.«

Er drückte meine Hand in seiner, dann startete er das Auto und fuhr weiter.

Den Rest der Autofahrt war es totenstill.
Ich dachte an seine Worte, die mir im Kopf schwirrten und dann daran, dass ich Davis sagen und erklären musste, warum ich abgehauen war.

Ich konnte nicht einschätzen für was für eine Psychopathen er mich jetzt hielt, ob er mich jetzt verlassen oder in die nächste Anstalt fahren würde.
Ich konnte mir alles vorstellen und gleichzeitig nichts.

Ich hatte Bauchschmerzen, als wir die Stadt passierten und uns in den Verkehr einklinkten.

Nur noch ein paar Minuten und ich würde ihm gegenüberstehen.
Langsam wurde ich nervös.

Was würde er sagen?
Würde er sich aufregen, mich anbrüllen, rauswerfen oder doch einfach in den Arm nehmen?

Zwischen meiner Freude und Angst lag keine Grenze.
Ich war aufgelöst in meinen Gefühlen.

»Du brauchst dir keine Gedanken machen. Dieser Mann liebt dich mehr, als irgendetwas anderes auf diesem Planeten. Du weiß ja gar nicht wie aufgekratzt und aufgelöst er war, als er und Matt uns anderen erzählt haben, was los ist. Er hat dich nach nur ein paar Minuten schrecklich vermisst.
Du gehst da jetzt gleich einfach rein, lässt dich von ihm umarmen und erklärst ihm alles.
Das mit dem Messer war eine Kurzschlussreaktion. Du brauchtest deinen Freiraum und hast ihn dir auf gewaltsame Weise eingeholt. Er wird das verstehen.«

»Und mit dem Baby?«

»Auch darüber wird er sich freuen. Davis liebt Kinder, da wird sein eigenes keine Ausnahme sein. Und das mit dem Ultraschall wird sich klären, Hanni. Vielleicht malst du zu voreilig den Teufel an die Wand und alles ist harmloser, als du denkst.
Nach nur einer Untersuchung konnte dir die Ärztin doch noch gar nichts genaues sagen und es gibt Millionen von Bedeutungen, die diese Schatten haben können.
Ich verstehe deine Angst, aber ein Baby wird immer aus zwei Menschen gemacht. Vielleicht überwiegt ja Davis Genetik und deinem Baby geht es hervorragend. Auch du bist gesund und nur weil deine Eltern es nicht waren, heißt das ja nicht automatisch, dass dein Kind ihr Schicksal trägt. Erzähl Davis erstmal was los ist und dann sehen wir weiter.«

Ich nickte. Das klang nach einem Plan. Und vielleicht hatte Peter recht – ich hoffte sehr darauf – und meinem Baby würde es gut gehen.

»Okay!« Ich atmete durch, als würde ich gleich an den Start eines Dauerlaufs gehen.
Peter neben mir grinste kurz auf.
»Kannst du mich zur Firma fahren? Es ist Mittag und ich bin mir sicher, dass Davis sich in Arbeit begräbt.«

So kannte ich meinen lieben Freund nämlich. Wenn ihn etwas in Unwissen und Sorge badete, aber er nichts tun konnte, dann verschwand er in seinen Bürowänden.
Peter nickte und fuhr einige Minuten später direkt vor den Haupteingang des Gebäudes.

Ich war lange nicht mehr hier gewesen.
Eigentlich hatte ich es nie groß betreten.
Davis hatte mich einmal, nach Feierabend, durch die leeren Büroräume geführt und mir das ein oder andere gezeigt. Sonst aber hatte ich immer im Auto auf ihn gewartet, wenn ich ihn hatte abholen sollen oder wir hatten uns gleich woanders getroffen.

Ich kam mir also ein wenig fremd vor, als ich die Tür öffnete und an dem hohen Gebäude hinaufsah.
Irgendwo hier drinnen befand sich die Liebe meines Lebens und wartete auf ein Lebenszeichen von mir.

»Du schaffst das, Süße. Es ist nur Davis. Der Mann, der Vater deines Kindes wird, der dich jeden Abend in den Arm nimmt, der mit dir durch die Wohnung tanzt, der sein Leben mit dir verbringen möchte, weil er dich liebt.
Wenn du da jetzt reingehst, ist er der letzte, der etwas von dir erwartet. Er möchte dich einfach nur wiederhaben.«

Peter hatte noch nie so viele Worte in eine Ansprache geredet. Ich hing an seinen Lippen, als er ein spitzbübisches Grinsen auflegte und mich ansah.
Er hatte so leicht reden.
In diesem Gebäude wimmelte es nur vor Frauen, die sich gut an der Seite meines Freundes machen würden. Vielleicht hatte er nach meinem kranken Auftritt auch einfach keine Lust mehr auf mich.
Meine Selbstverletzung war schließlich wirklich nicht normal und vielleicht hatte er auch langsam die Schnauze voll von meinen Tränenausbrüchen, weil ich ständig an meine Familie dachte.

Aber was sollte ich denn sonst machen?
Gefühlt jeden Monat konnte ich den Todestag einer meiner Familienmitglieder feiern.
War das nicht für jeden Menschen ein Grund, um verrückt zu werden und kranke Dinge zu tun?
Und jetzt auch noch dieses Kind in mir, das ich auf der einen Seite nicht mehr als grenzenlos lieben konnte und auf der anderen Seite nicht ansehen konnte.

Vielleicht war Davis damit auch so überfordert wie ich.
Vielleicht würde er mich rauswerfen oder wollte sich trennen und es konnte nicht, weil ich jetzt schwanger war.

Die Selbstzweifel kamen in mir auf, wie sie es noch nie getan hatten.
Sollte ich da jetzt wirklich reingehen.
Eigentlich wollten wir unsere Beziehung doch geheim halten. Was sollten die Leute bloß von mir denken?
Was würde Davis machen vor den Augen seiner Angestellten?
Und wie sah ich überhaupt aus?

»Pass auf, du gehst da jetzt rein und pfeifst auf diese Damen, die denken, ihr Chef wäre ein sexy Junggeselle. Ich weiß, ihr haltet das ziemlich geheim, aber das kann dir jetzt egal sein. Dieser Mann hat es verdient zu sehen, dass es dir gut geht und das ist jetzt alles, was wichtig ist.«

Damit hatte Peter wohl recht.
Und ich wollte jetzt auch nicht länger dumm herumstehen. Ich wollte Klarheit und Peter endlich der Freiheit entlassen.

»Ich danke dir für alles. Ich schreibe dir später, wie alles gelaufen ist. Fahr mir dem Auto nach Hause, wir werden es irgendwann abholen kommen.«

Damit schloss ich mit sanftem Lächeln die Tür und winkte Peter, bis er sich wieder in den Verkehr einreihte und weg war.
Mit tiefem Atemzug drehte ich mich dann zu den Glastüren des Eingangs zu und trat langsam und scheu näher an das gläserne Gebäude.

Auf diesem Gelände liefen nur Menschen in schicken Anzügen und Kleidern herum.
Ich wurde merkwürdig gemustert, als ich in meinen dreckigen Jeans und der zerfledderten Blumenbluse, die ich getragen hatte, als ich mit dem Messer aus dem Penthaus geflohen war, das luxuriöse Gebäude betrat.

Meine Hand ballte ich zu einer Faust, damit niemand meine lila angelaufene Haut sehen konnte auf die sich ein schrecklich zerfleischter Biss abgezeichnet hatte.

Das Foyer von Harson International war so sauber und glänzend, wie ich es bei dem Hubschrauberflug vor Jahren kennengelernt hatte.

Licht durchflutete den hellen Raum mit grauem Marmorboden, der geradewegs auf einen Empfangstresen zulief hinter dem Männer und Frauen in maßgeschneiderter Kleidung telefonierten und an ihren Computern arbeiteten.

Das Arbeitsverhältnis lief locker und schlicht, aber ihre Mienen verzogen sich missbilligend und merkwürdig abschätzend, als ich näher trat und meine sandigen Finger zittrig auf dem Tresen ablegte.

Ich musste schrecklich aussehen.
Meine Kleidung war verschlammt, an meiner Haut klebte feuchter Sand, ich roch nach drei Tage Regenwetter und Dreck und meine Augen waren vom Heulen verquollen.

Ich war den luxuriösen Standards dieses Unternehmens deutlich unterlegen. Menschen wie ich verirrten sich nicht hierher.
Das hier waren stinkreiche Geschäftsleute. Aber ich brauchte und wollte nicht über sie herziehen.
Denn Davis war auch einer von ihnen und war er auch das größte Arschloch gewesen, so hatte er am Ende doch um meine Liebe gebuhlt und sich dafür ins Zeug gelegt.

Tief im Inneren waren sicherlich auch die Menschen, die mich jetzt missbilligten und mit gerümpften Nasen ansahen, freundliche Gesellen.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte mich eine Frau bemüht freundlich und sah mich von oben herab an. Ich ignorierte das geflissentlich. Für ihre Laune hatte ich keine Zeit.

»Ich möchte zu Davis Harson. Ich muss mit ihm sprechen«, brachte ich so selbstbewusst wie das in meinem Aufzug eben möglich war hervor und sah sie streng an.

Sie brauchte nicht so tun, als sei ich es nicht wert.
Sie hatte ja keine Ahnung.
Keine Ahnung das ihr Chef seit fünf Jahren mit mir in einer Wohnung lebte und sein Bett mit mir teilte.

Und das er jetzt Vater wird ...

»Sie wollen den Chef höchstpersönlich sprechen?«
Sie druckste um ein amüsiertes Lachen herum.
»Ja!«, sagte ich. War sie taub oder was?

»Er hat leider keine Zeit und ich vermute, dass Sie keinen Termin haben. Er ist außerdem sehr beschäftigt und hat ausdrücklich verboten, dass ihn jemand empfängt.«

Das sah ihm ähnlich.

»Es ist mir egal, was er ausdrücklich verboten hat. Ich gehöre zu seiner Familie, ich brauche keinen Termin und dieses Verbot interessiert mich nicht. Ich muss ihn jetzt sprechen.«

Wollte sie mich wütend machen?
Ich wusste, dass ich scheiße aussah, das brauchte sie mir nicht erzählen.

»Können Sie sich ausweisen? Dann kann ich sehen, was sich machen lässt. Ansonsten kann ich Sie nur bitten zu gehen.«

Sie lächelte falsch und ich verfluchte die Entscheidung, unsere Beziehung geheim zu halten. Wüsste diese Kuh etwas mit meinem Namen anzufangen, dann würde sie sich für ihre Blicke schämen.

»Nein, ich kann mich leider nicht ausweisen, aber Sie können ihren Chef höchstpersönlich anrufen und ihn nach einer Tears Evans fragen. Ich bin seine Freundin.«

Jetzt brach sie in ein quietschendes Lachen aus und drehte sich noch quietschender um, um ihren Kollegen mitzuteilen, dass ich Davis Freundin war.

Der ganze Empfang begann sich ins Fäustchen zu lachen und erst nach Minuten wandte sie sich mir wieder zu.

»Ich sage es Ihnen ein Mal. Entweder Sie verlassen dieses Gebäude und suchen sich einen anderen Ort um zu betteln oder ich rufe den Sicherheitsdienst. Dies ist ein Weltunternehmen und keine Suppenküche und jetzt verlassen Sie auf der Stelle dieses Gebäude und verkriechen sich auf die Straße von der Sie gekommen sind!«

Ihre rotgeschminkten Lippen verbogen sich diabolisch und sie machte eine wegwerfende Handbewegung, die mich rasend vor Wut machte.

Es mussten meine schwingenden Gefühle der Schwangerschaft sein, die mich von einer Sekunde auf die nächste meine höflichen Prinzipien vergessen ließen.

»Ich möchte Ihnen auch einmal etwas sagen und an Ihrer Stelle würde ich jetzt zum Telefon greifen und meinen Besuch ankündigen, sonst sind Sie ihren Job nämlich schneller los, als das sie sich meinen Namen merken können! Ich mag nicht so aussehen, aber ich bin die Frau an der Seite Ihres Chefs und wenn Sie mir das nicht glauben, dann überzeugen Sie sich doch selbst, Sie dumme Kuh!«

Ich hatte kaum ausgesprochen, da schrie die geschminkte Brünette schon nach den Sicherheitsleuten, die kaum zwei Sekunden später um die Ecke bogen.

Mein Herz machte einen kleinen Sprung, als ich den muskulösen Bodyguard erblickte, der mit starrem Blick auf uns zu eilte.

Die Brünette verzog ihre Lippen.

»Jetzt landen Sie dort, wo Sie hingehören, falsche Schlange«, säuselte sie, ehe sie sich an den herankommenden James wandte.

»Mister Filsher, würden Sie diese Bettlerin bitte dem Gelände verweisen? Sie behauptet Angehörige des Chefs zu sein und verschmutzt hier außerdem den Boden.«

Sie zeigte angewidert auf mich und tat auf extra ängstlich vor mir.

James hingegen schenkte der Brünette keine Aufmerksamkeit, seit das Wort Freundin des Chefs gefallen war.
Er kannte mich.
Er war Davis höchster Bodyguard und ein guter Freund für mich geworden, nachdem er auch zu meinem Schutz beauftragt wurde.

Als er mich sah und unsere Augen sich trafen, tat er nicht mehr, als erleichtert und sanft zu lächeln und mir näherzukommen, nachdem ich diese Geste erwiderte.

Mit dem hässlichen Grinsen der Brünette und ihrem gezischten »Auf Wiedersehen« überwand er auch den letzten Abstand und hob mich in eine Umarmung.
Kräftig und erdrückend presste er mich an seine Brust und hob mich einige Zentimeter vom Boden, weil ich so viel kleiner war, als dieser Schrank.
Die Dame neben uns öffnete erschrocken den Mund.

Tja.

»Ich bin erleichtert. Sie haben mir schreckliche Angst gemacht, Miss Tears.«

Ich kicherte zaghaft. Er konnte diese Formellen einfach nicht ablegen. Aber das war egal. James war Teil meiner kleinen, heilen, nicht so heilen Welt.

»Ich bin auch froh, dich zu sehen, James. Aber ich muss mit Davis sprechen.«

Er nickte verstehend und ließ mich dann auf meine Beine zurück, ehe er sich an die Dame neben uns wandte, die mich erstarrt musterte.

»Informieren Sie bitte Mister Harson über die Rückkehr von Miss Tears.«

Sie brauchte Sekunden um sich aus ihrer Starre zu lösen und zwischen James und mir herzusehen.

»Ich verstehe nicht, Mister Filsher. Diese Dame ist doch nicht wirklich eine Angehörige des Chefs.«
Sie rümpfte die Nase.
Aber das hätte sie nicht tun sollen. Denn James hasste es, wenn Menschen andere Menschen abstuften. Er war die absolute Gerechtigkeit und Gleichberechtigung in Person.

»Ich werde Sie nicht noch einmal dazu auffordern, Miss Stacey, und an Ihrer Stelle würde ich meine Zunge hüten. Ich habe das Recht jeden für sein Fehlverhalten dem Gelände zu verweisen und das werde ich ohne zu Zögern tun, wenn Sie Miss Tears noch einmal so ansehen!«

Seine Stimme war tief und ernst. Er duldete keinen Widerspruch und mit einem Schlucken schien Stacey das auch zu verstehen.

Mit nur einer gedrückten Taste wartete sie auf das Freizeichen des Telefons, das sie auf laut gestellt hatte, damit auch wir anderen zuhören konnten.

Er brauchte einige Sekunden.
Aber letztendlich ging er mit mürrische Worten an den Hörer.

»Was?«, giftete Davis barsch und ich biss mir auf die Lippe. Er hatte ja wirklich schrecklich schlechte Laune.
»Äh- Guten Tag, Mister Harson, hier ist Miss Stacey aus dem Erdgeschoss-«

»Schön für Sie, Sie können gleich ihre Sachen packen und verschwinden. Ich wollte nicht gestört werden!«, unterbrach er sie unangenehm brüllend und ließ die einstig so arrogante Dame verschreckt zusammenzucken. Sie wurde blass um die Nasenspitze und sofort meldete sich mein schlechtes Gewissen.

Ich war ein wahrhaftiges Monster.
Wie hatte ich ihr bloß selbst damit drohen können?
So etwas machte man nicht.

Bevor Davis in seiner Wut und schlechten Laune auflegen konnte, unterbrach ich das Gestotter und kündigte mich selbst an.

»Davis, halt verdammt nochmal deine Klappe! Deine Laune gilt mir und nicht einer deiner Mitarbeiterinnen, also lass deine Wut auch an mir aus! Ich habe Miss Stacey darum gebeten, dich anzurufen, damit du weißt, dass es mir gut geht!«

Uns ...

»Tears! Verdammt, Baby, endlich!«
Ein erleichterter Laut erreichte unsere Ohren, ehe es knackste und dann nichts mehr zu hören war.

Ich sah zu Miss Stacey, die mich längst musterte.
»Sie sind wirklich seine Freundin?«

Ich nickte und lächelte dann freundlich.
»Ja, und damit sind Sie eine der ersten Außenstehenden, die von unserer Beziehung erfahren. Ich hoffe für Sie, dass Sie diese Information in Gewahrsam halten, ansonsten können auch meine guten Worte nichts an Ihrer Kündigung ändern.«

»Sie wollen mir helfen?«, fragte sie erstarrt weiter und sah dann ein wenig beschämt auf ihre Finger.
Bereute sie ihr Verhalten etwa?

Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung.

»Natürlich. Sie haben es nicht verdient gekündigt zu werden und machen mit Sicherheit einen tollen Job. Ich werde-«

Mir entwich ein erschrockener Laut, als sich feste Arme um meine Taille schlangen und mich vom Boden in die Luft rissen.
Ein warmer Körper schmiegte sich an meinen und drückte mich fest an sich, den Dreck und mein zerpflücktes Aussehen komplett ignorierend.

Ich war überrascht von einer so stürmischen Reaktion. War er eben nicht noch sauer gewesen?
Gleichzeitig war ich aber unglaublich erleichtert seine Nähe zu spüren, die sich wie ein Beruhigungsmittel auf meinen Körper auswirkte.

Vollkommen zufrieden und die Sorgen vergessend, schlang ich meine Beine um seine Taille und vergrub meinen Kopf an seiner Brust.
Er schmiegte seine Wange an meine und ließ mich für einige Sekunden unseren hetzenden Herzen lauschen, ehe er zu flüstern begann.

»Ich dachte schon, du hättest mich verlassen.«

Ich schloss die Augen.
War er wirklich bis zu dieser Option gekommen?
Dass ich ihn so teuflisch blind verließ?

Zugegeben ich hatte diese Tendenz in Erwägung gezogen. Aber meine Hirngespinste waren niemals fähig solche Schlüsse zu ziehen.
Ich konnte mich und dieses Kind nicht umbringen.
So schön mir das vielleicht auch geschienen hatte.

Ich konnte mein Blut nicht töten. Ich konnte mein Kind nicht töten!
Dafür liebte ich es viel zu sehr.

Das ist ja das Problem!

Ich liebte es so sehr, dass ich am Ende am allermeisten verlor.

»Das könnte ich niemals.«

Wir ...

»Mach das nie wieder, Baby! Ich bin gestorben vor Sorgen um dich. Was ist überhaupt mit dir los gewesen? Ich dachte, wir könnten uns immer alles erzählen. Du kannst mir alles erzählen.«

Er musterte mich aus wachsamen Augen, seine Arme noch immer wie ein Ertrinkender an mich klammernd.
Ich setzte ein leichtes Lächeln auf uns sah ihm in die treuen Augen.
Ich wusste, ich konnte ihm alles erzählen.
Aber jedes Wort zahlte seinen Preis und vor einigen Tagen war ich noch nicht fähig diesen zu bezahlen.

Ich atmete einmal tief durch, dann hauchte ich ihm einen tiefen, innigen und verzweifelten Kuss auf die Lippen, der so kurz war, dass er ihn nicht erwidern konnte.

Weil mich die Gefühle übermannten und ich nicht wusste, wo ist anfangen sollte, zu reden, schloss ich die Augen und versuchte mich zu sammeln.

Davis setzte sich währenddessen in Bewegung und trug mich und sich in den Fahrstuhl um in seinem Büro in Ruhe reden zu können.

Dort angekommen schien es mir am einfachsten einfach mit der Sprache herauszurücken und als er mich erwartungsvoll und fragend ansah, wusste ich, dass es auch das beste war.

»Ich bin schwanger, Davis.
Du weißt, ich wollte das nie, aber jetzt ist es trotzdem geschehen. Du und ich werden Eltern.«

Ich hielt nach dieser Offenbarung die Luft an.
Davis, der mich losgelassen und mir ein wenig Raum für eine Erklärung gegeben hatte, hielt in seiner Bewegung inne und ließ die Worte einige Sekunden stumm in der Luft zergehen.
Seine Augen hatten sich vergrößert und starrten mich überrascht an.

Dann sammelte er sich und mit einem wässrigen Schimmer, der sich über seine Augen legte, riss er mich zurück in seine Arme.

»Tears ... das ...«

Eine Träne rollte über seine Gesicht und mit ihr platzte ein erfreuter Laut über seine Lippen, die sich zu dem größsten aller Grinsen verzogen, das ich je gesehen hatte.

»Ich werde Vater!«, stieß er außer sich vor Freude aus und wirbelte mich durch die Luft, ehe er mich sanft auf meine Füße ließ und seine Hand von meiner Taille zu meinem Bauch wandern ließ.

Es war zu niedlich, wie er sich zu der minimalen Wölbung hinabbeugte und sie küsste.

Er würde der beste Vater dieser Welt werden.

Und diese Tatsache ließ auch meine Augen wieder wässrig werden.

Wie gerne wäre ich Mutter.
Wie schön war das Gefühl ein kleines Wesen in sich zu haben und mit Davis eine Familie zu gründen.

Aber wenn es krank war?

Wie viel Trauer würde ich verspüren?
Mein eigen Fleisch und Blut.
Ich wollte und konnte es nicht verlieren.

»Hey ... hey, Baby, nicht weinen! Ich liebe dich und dieses Kind wirst du nicht verlieren. Ich lasse nicht zu, dass deine Vergangenheit sich wiederholt. Es wird leben. Es wird gesund sein. Hab keine Angst.«

Er küsste mir so selbstsicher die Tränen aus dem Gesicht und wog mich in seinen Armen hin und her.
Ich klammerte mich schluchzend an ihn und ließ meinen Ängsten freien Lauf, während er sie alle zu Nichte machte.

Er war so gut darin mich zu beruhigen.
Er kannte mich in- und auswendig und er liebte mich.

In seinen Armen ebbte der seelische Schmerz langsam ab und mein tonnenschweres Herz schöpfte ein wenig Hoffnung, dass es dieses Licht am Tunnel vielleicht doch gab.

Vielleicht meinte es das Schicksal wirklich einmal gut mit mir.

Vielleicht.

»Es wird alles gut werden, Tears.«


———————

Ein ellenlanges Kapitel, aber ich hoffe, es hat euch gefallen und ihr seid gespannt, wie es weitergeht.
Viele von euch haben sich noch ein paar Momente in der Zukunft der beiden gewünscht und ich schreibe gerne noch ein paar Zusatzkapitel, um von Davis, Tears, Daniel und allen anderen zu berichten.

Seid gespannt und einen schönen Tag noch! 💕

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top