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"Ich habe Verwandte dort.", erwiderte ich.

Mit einem Blick auf das Graffiti erwiderte er: "Kein Wunder." Ich lachte innerlich übertrieben. Als hätte er es geahnt. Vielleicht konnte er auch Gedanken lesen. Wir unterhielten uns noch eine Weile über den Nordirlandkonflikt.

Auch Che hatte sich zu uns gesellt, bewunderte die Graffiti und diskutierte mit. Er war weniger unsere Meinung. Niemand durfte in das Land eines anderen eindringen und es den ursprünglichen Besitzern wegnehmen. Natürlich verstand ich das. Vor allem im Hinblick auf seine indianischen Wurzeln.

Der Andere fragte, ob seine Meinung mit seiner Herkunft zusammenhängen würde und Che bejahte. Er hatte also vorhin doch aufgepasst, als Che von dem Reservat erzählt hatte. Ich fragte mich auf irgendeine Weise, warum der Sprayer ausgerechnet das Thema Alkoholismus gewählt hatte. Aber egal. Ging mich wahrscheinlich nichts an.

Es wurde Mittag. Essen bekamen wir von Kiffer eins und seinen Freunden.

"Ich glaube, wir müssen jetzt mal weitergehen." Che sah mich an. Es stimmte. Wir konnten echt nicht mehr arg viel Zeit vergeuden. Verloren hatten wir schon genug.

"Kannst du uns ein Auto polen oder rippen?" Che sah Kiffer eins an.

"Ne du. Keine Chance. In dem Nest hier wirst du sofort ertappt. Da kennt jeder jeden. Und außerdem hat hier eh fast niemand 'ne Karre. Wenn ihr Glück habt, kommt wer vorbei und nimmt euch mit als Anhalter. Vor dem Krankenhaus oder dem Hotel geht das ganz gut."

"Danke." Che lächelte. "Danke für alles."

Das kleine Kaff hatten wir schnell erreicht.Selbst das Ortsschild war so heruntergekommen, dass man den Namen dieser nettenMiniortschaft nicht mehr entschlüsseln konnte. Che lief daran vorbei ohne es zubeachten. Ich trottet hinterher. Schließlich gab es hier nicht allzu viel zusehen.

Unsere Kifferfreunde und der Sprayer-Starrer hatten wir ja leiderverlassen. Wir hätten mit denen zusammen hier auf Erkundungstour gehen sollen.Irgendwie gab es hier nämlich nichts außer einer lächerlichen Kirche. Die warecht mini, aber sie existierte. Und dafür war sie wahrscheinlich auch gemacht.Ein Schild war an ihr angebracht. Eine Kirche der Baptisten. War ja klargewesen. Die gab es doch an jeder Straßenecke. Wir gingen weiter.

Ein paarHäuser und der obligatorische Friedhof schlossen sich an. Nun ja, von hier auswäre es auch unglaublich weit bis zur nächsten Stadt gewesen. Auf dem Weghatten Che und ich zumindest keine gesehen. Vielleicht kam das auch daher, dasswir irgendwo durchs Gestrüpp gefahren waren. Aber ich bin mir sicher, dassdieses Kaff tatsächlich im Niemandsland liegt.

Hoffentlich war es nicht mehrweit bis zu den nächsten Obdachlosen. Ich hatte nämlich schon wieder Hunger. Und müde warich auch noch. Und das mit den Obdachlosen habe ich ernst gemeint. Meistenssind die, von denen man es am wenigsten erwartet, die nettesten Menschen. Diewissen nämlich, wie es ist zu fallen. Die helfen dir auf. Die leben nicht ihrganzes Leben ganz oben. Das ist nun mal so.

Bei uns im Internat sind sie jaauch alle so überzeugt davon, die Besten der Besten zu sein. Sind sie abernicht! Keiner ist besser als ein Anderer! Und genau diese Einstellung, hattemein Vater vermeiden wollen. Niemals hätte er gewollt, dass ich so denkenwürde. Ein paar heruntergekommene Läden schlossen sich einer einfachenWohnsiedlung an. Na ja. Beste Aussichten unter der Brücke zu enden wie unsereKiffer.

"Also ist ja beinahe erstaunlich, dass die so auf dasReservatszeug angesprungen sind, wo die das Gleiche doch vor der Haustürhaben.", meinte Che. Ich nickte. Ich dachte daran, wie viele Menschenschon wegen den Drogen gestorben waren oder Selbstmord begangen hatten. Mirfiel irgendwie Kurt Cobain ein. Und dann musste ich auch gleich wieder an Viggodenken. Den hatte ich beinahe vergessen. Zumindest kam es mir in dem Moment sovor. Viggo.

"Der könnte glatt mit dir verwandt sein." Erschrecktzuckte ich zusammen. Che unterbrach meine Gedanken.

"Wer?" Ich musstemich erst mal sammeln.

"Na Viggo." Verständnislos sah ich ihn an.Meine Nacht war definitiv zu kurz gewesen und ich stand noch unter Schock.Also. Lass mir doch ein bisschen mehr Zeit!

"Viggo und du.",versuchte Che eine Erklärung.

"Viggo und ich?"

"Ja. Ihr könntetverwandt sein." Aha.

"Wie kommst du jetzt auf Viggo?" Ichverstand die Welt nicht mehr. "Weil ich gerade an ihn denken musste. Wegendem Sprayer."

"Ach so." Ich tat fast uninteressiert. Wenigstenskeine Gedanken gelesen. Oder vielleicht doch. Um die Ecke schienen wir dieInnenstadt erreicht zu haben. Im Gegensatz zum Rest dieses Kaffs war es hierdicht besiedelt. Und auch eine einigermaßen passable Infrastruktur. Alsonatürlich kein Vergleich zu allem, was man kennt, aber immerhin etwas.

Hiergab es genau zwei Dinge, die zum Übernachten in Frage kamen oder um Leute dortals Anhalter abzufangen. Das Hotel, das allerdings zu teuer für Menschen ohneGeld war und die kleine Kneipe nebenan.

Allerdings hatte Che bereits ganzandere Pläne. "Komm mit." Er zerrte mich zu einem Gebäude, in dem wirdefinitiv nichts zu suchen hatten. Zu einem Krankenhaus!

Was sollen wir dennbitte schön da? Ich meine, wir konnten wirklich nicht von uns behaupten, wirwären krank. Dazu sahen wir noch viel zu gesund aus.

"Viellicht kommen wirja unauffällig mit dem da rein." Che deutete auf einen älteren Mann, derscheintot wirkte. Ein Atemgerät fehlte ihm noch zur Leiche. Oder ein Sarg. Soviele Falten hatte ja noch nicht mal der älteste Mann der Welt.Wahrscheinlich...

"So sieht man aus, wenn man zu süchtig war." Chesah mich an. "Hätten wir den Kiffern auch noch zeigen sollen. Aber wirkannten den lieben Herrn damals ja noch gar nicht."

"Stell dir vor,der wäre nie süchtig gewesen." Ich grinste. "Das wäre für dich einefurchtbare Blamage."

"Ach was." Che winkte ab. "Der hatsicher mal. Sonst sähe der nie in Leben so aus! Du kannst mir nicht erzählen,dass das alles Gene sind."

Der Mann hielt vor dem Eingang des Krankenhausan uns zündete sich eine Zigarette an.

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