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"Kommt drauf an, wie man das definiert. Klar, für die Schule bin ich jetzt nicht gerade arbeitswütig." Che lachte. "Aber es gibt ja nicht nur das. Ich muss auch noch normal arbeiten. Jeden Tag, außer Sonntag. Da hab ich eigentlich echt genug zu tun. Schule mach ich bloß weiter, weil meine Eltern sich darüber freuen. Sie wollen mal eine bessere Zukunft für uns als ihre Gegenwart."
Zum ersten Mal verstand ich. Che und ich schwiegen beide vor uns hin. Mir tat Che leid. Er würde niemals trotz allem einen so guten Job bekommen können wie ich. Egal, was er jetzt tat.
Wahrscheinlich tat ich ihm leid. Für ihn stand ja seine Familie über allem. Er liebte sie und würde alles dafür tun, dass alle glücklich und zufrieden wären.
"Wenn du könntest, was würdest du dann tun?" Erstaunt sah mich Che an. "Stell dir vor, du könntest alles im Leben erreichen und tun. Was würdest du dann machen?", formulierte ich meine Frage erneut.
"Meinem Vater so viel Geld schenken, dass er sich nie wieder Sorgen machen müsste um seine Schulden und meiner Mutter eine Stelle als Kindergärtnerin, auf die sie sich schon so lange bewirbt."
"Nichts für dich?" Ein klein wenig verwirrt war ich schon.
"Hätte ich denn nach so viel noch etwas frei?", erwiderte Che ungläubig.
"Ja schon."
"Gut. Dann würde ich ins Reservat gehen und dort versuchen, die Armut und das Elend zu beseitigen, damit wirklich jeder die gleichen Chancen hat. Und natürlich auch für moralische Erziehung sorgen. Sollte ja nicht so sein, dass es da so viele Ches gibt, die rücksichtslos stehlen und alles nur zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzen." Es klang scherzhaft und traurig zugleich.
"Also ich glaube, es gibt da schlimmere Egoisten als dich. Du bist eigentlich überhaupt gar keiner. Irgendwie würdest du ja alles für Andere tun. Auch, wenn es für dich sein könnte." Che schien nachzudenken.
"Und was würdest du machen?", wollte er letztendlich wissen.
Ich dachte nach. Ehrlich gesagt, wusste ich gar nicht mehr, wie ich eigentlich auf diese bescheuerte Frage gekommen war und weshalb ich dann auch noch so ein Hirngespinst gestellt hatte.
"Weiß nicht.", antwortete ich dann.
"Doch. Bestimmt weißt du. Du traust dich lediglich nicht, es zu sagen. Macht aber nichts. Du musst ja nicht." Und wie ich mich traute. Scharf dachte ich nach. Mir wollte einfach nichts einfallen.
"Ich würde gerne einen Familienurlaub machen. So wie das alle anderen normalen Familien auch machen. Egal wo das wäre. Am liebsten bei uns zu Hause. Sodass alle glücklich sind. Vor allem meine Schwester. Ich war schon seit Jahren nicht mehr zu Hause."
Erneut wirkte Che erschreckt. "Wie kann man es überleben ohne ein Zuhause?"
Ich zuckte mit den Achseln. Es war mir ebenfalls unbegreiflich.
"Warte mal kurz." Ich holte Zeichenblock und Stift aus meiner Tasche und begann zu zeichnen. Nach einer Weile war es fertig.
"Das ist mein Zuhause." Ich deutet auf das Bild. So wünschte ich es mir zumindest. Lächelnd betrachtete es Che. Auf dem Papier war ein Haus zu sehen. Beinahe einer Ranch ähnlich. Der Garten erstreckte sich unendlich weit. Pferde grasten auf der Wiese und Hunde sprangen auf dem Hof herum. Aus Versehen hatte eine Katze ihre eigene Milch umgeschmissen. Meine Schwester schaukelte mit mir auf einer Schaukel, die an einem riesigen Baum mit ausladendem Blätterdach hing. Die Sonne schien herrlich.
Che stand auch da. In Federschmuck. Der Chevy und der Cadillac parkten auf dem Hof. Und natürlich meine Eltern als zufriedenen Landwirte.
"Sieht toll aus!", meinte Che voller Bewunderung. "Du solltest Zeichner werden." Verlegen lächelte ich. Vielleicht.
"So toll ist es nun auch wieder nicht." Schnell packte ich es weg.
Mit einem Mal fiel mir ein Zettel auf, derdirekt vor unserer Zelle anhielt.
Nanu? Wo kam der denn so urplötzlich her?
Mankonnte Rauch riechen. Jemand in der Zelle neben uns rollte eine Seite seinerBibel zu einer Zigarette zusammen. Ich hatte mal gehört, dass auf diese Weiseirgendwer sämtlicher Bibelverse gelernt hatte und schließlich zum christlichenGlaube konvertiert war, der ihm Kraft in der Gefangenschaft gegeben hatte.
Che legte sich auf den Boden unsere Zelle und begann, nach dem Zettel vor unseren Gittern zu fingern. Irgendwie erhaschte er ihn tatsächlich.Umständlich zog er seine Hand wieder zu sich.
Neugierig entfaltet er denZettel. Ich schaute ihm unauffällig über die Schulter.
Auf dem Zettle stand inkrigeliger Schrift...
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