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"Einundzwanzig.", gab Che zurück, ohne jegliche Schlüsse darauf zuzulassen, dass er gerade eben gelogen hatte.
"Das glaube ich euch nicht." War ja klar. Das hätte ich zwei Jugendlichen, die gerade eben in mein Restaurant reingeplatzt sind, auch nicht abgenommen.
"Doch." Che blieb hartnäckig.
"Darf ich euere Ausweise sehen?" Keine gute Idee.
"Mann, ey! Wir wollen doch bloß irgendwo schlafen." Che mimte eine Mischung aus Wut, Traurigkeit und Eingeschnapptheit.
"Sehe ich euch an der Nasenspitze an. Warum hättet ihr sonst gleich euren ganzen Hausrat mitgebracht?" Wir waren echt blöd. Das war ja echt super auffällig.
Che versuchte es erneut. "Gibt es hier denn niemanden, der einen Platz für uns hat?"
"Doch. Unter der Brücke ist noch Platz. Oder im Park, in der Notaufnahme oder in der Lobby des Hotels. Da gehen so viele hin.", meinte der Wirt nur belustigt.
"Rät das nicht jeder einem?"
"Doch. Aber ihr könnt hier gerne bleiben, wenn ihr nichts trinkt, bis ich schließe."
"Ok. Danke." Dennoch wirkte Che enttäuscht.
"Ich schließe in anderthalb Stunden. Damit ihr euch darauf einstellen könnt." Che und ich nickten. Mein Freund rutschte auf dem Barhocker herum. Er war furchtbar müde. Mir ging es genauso. Ich wollte bloß ein Bett. Aber in einem solchen Trubel könnte ich niemals einschlafen. Che anscheinend auch nicht.
Leider kam auch keiner auf uns zu und bot uns an, bei sich zu schlafen. Gut, die sahen hier echt alle so aus, als bräuchten die ihre gesamten Ersparnisse, um sich über Wasser zu halten. So ein Kack. Und nach der Blamage von vorhin wollten wir auch keine Leute mehr versuchen, auf unser Problem aufmerksam zu machen. Außerdem würde es hier ja schon fast an stehlen grenzen. Die hatten bestimmt weniger als wir.
Da musste uns jetzt was einfallen.
Anderthalb Stunden waren schnell vergangen. Ohne Aufforderung verließen Che und ich den Laden.
"Ich glaube, wir nehmen den Park. Notaufnahme geht nicht, denn ich habe hier noch kein Krankenhaus gesehen. Brücke auch nicht, weil ich nicht weiß, wo die sein soll. Und Lobby vom Hotel können wir logisch knicken.", analysierte Che die Situation. Ich nickte. Nicht gerade die besten Aussichten.
Es war immer noch nicht einmal Mitternacht, obwohl es mir von meinem Müdigkeitsgefühl her wie mindestens drei Uhr nachts vorkam. Der Park war nun nicht nur beleuchtet, sondern auch mit Wächtern ausgestattet.
"Na toll. Wie sollen wir denn da jemals reinkommen?" In meiner Stimme schwang ein Hauch von Verzweiflung mit.
"Einfach ganz normal." Schon lief Che los. Dreister konnte man wohl kaum sein. Nach dem Motto: Zur Not wusste ich das nicht. Unwissenheit schützt ja eigentlich vor Strafe nicht, aber im echten Leben funktionierte das irgendwie besser, als man sich vorstellen konnte.
Ganz ohne zu schleichen, liefen wir in den Park. Die Wachposten beobachteten uns kritisch. Aber niemand sagte etwas. Dazu kamen wir zu selbstsicher rüber. Die dachten sich, dass wir wohl wissen würden, was wir taten. Sonst hätten wir ja Angst.
Ches Taktiken klappten im Normalfall wirklich ausgezeichnet. Manchmal wollte ich echt nicht wissen, was er den ganzen Tag so trieb. Wäre ich ein Polizist, hätte ich ihn schon längst verhaftet. So was geht ja eigentlich mal gar nicht.
Aber genau das gefiel mir an Che. Dass er nicht so gewöhnlich und langweilig war, alles positiv sah und wusste, wie man aus jeder erdenklichen Situation für sich das Beste macht. Normale Menschen verzweifeln bei allem. Che lachte einfach. Schlimmer als der Tod kann es ja nicht kommen.
Auf einer der Parkbänke, die gut unter Bäumen versteckt war, um möglichen Regen abzuhalten, breiteten wir unsere Schlafsachen ohne Weiteres aus. Von irgendwoher drang Musik zu uns vor. Take me Home, Country Roads von John Denver.
"Mal schauen, wer da ist." Che schien eine Chance auf eine Unterkunft zu wittern. Als wir näher kamen, saß vor uns auf dem Boden eine Art Band aus Pennern. Na klasse. Die konnten uns ja auch nicht gerade viel weiter helfen.
"Setzt euch doch zu uns." Der eine von ihnen, der gesprochen hatte, sah echt nicht so schlampig aus, wie ich erwartet hätte. Ein bisschen Kurt-Cobain-Style. Er strich sich die langen, blonden Haare aus dem Gesicht. Er lächelte. Man konnte ihm nur zu gut ansehen, wie viel Leid er dahinter verbarg.
"Ich mag Nashville Nights und Louisiana Saturday Night hören.", meinte Che und setzte sich auf eine der Decken. Ich tat das Gleiche. Der KurtCobain schien mir am sympathischsten. Ein wenig erinnerte er mich an Viggo und Bill. Irgendwie traf man hier nur so Leute.
"Ihr schlaft auch hier draußen?", erkundigte er sich.
"Wo sonst?" Che grinste. Irgendwie kam mir dieser Kurt-Cobain-Mann bekannt vor. Und das nicht, weil er Kurt Cobain nicht ganz unähnlich sah.
Ich glaube nicht an Verschwörungstheorien, in denen Berühmtheiten noch leben. Kurt Cobain hatte sich selbst erschossen. Er war mit dem Erfolg nicht fertig geworden. Weiter nichts.
Aber dieser Mann kam mir echt extrem bekannt vor. Es war nicht wegen Viggo, nicht wegen Bill. Bill sah ihm nur wegen der Verzweiflung ähnlich. Viggo war ihm vom Äußerlichen her schon ähnlich. Aber trotzdem sah dieser Mann Kurt Cobain noch ähnlicher. Aber definitiv war Kurt Cobain nicht der Grund. Ich hätte schwören können...
Aber nein! Der war reich, berühmt und hatte einfach alles, was man sich nur wünschen konnte. Seine Stimme, sein Aussehen, gut, das mochte sich ähneln. Aber hey! Der Typ war doch nicht lebensmüde. Der würde sich doch niemals einfach so zu den Pennern setzten. Ach Quatsch!
Der Typ begann zu singen. Che stimmte mit ein. Ich kannte weder den Text des einen noch des anderen Liedes. Der Kurt-Cobain-Penner schien das bemerkt zu haben.
"Was magst du denn gerne für Lieder?", erkundigte er sich daher. Die Gitarre in seinem Schoß war mit Sicherheit nicht allzu billig gewesen. Ein anderer Penner klopfte auf irgendwelchen Töpfen als Schlagzeug herum. Das war also die Band. Der Rest hörte zu oder sang die Melodiestimme mit.
"Vielleicht was von Nickelback?" Diese Band kam zumindest mal im Radio. Das war mein Niveau.
"Was davon?" Oh, ich hatte sogar die Auswahl zwischen mehreren Liedern?
"Savin'Me oder Rockstar? If Today Was Your Last Day finde ich auch schön.", sagte ich, um ihm noch eine Chance zu geben, etwas auszuwählen.
"Magst du auch Suicide is Painless?" Verwirrt sah ich ihn an. Was sollte diese Frage denn, Cobain? "Wegen dem nachdenklichen Text.", fügte er hinzu, um mich aufzuklären.
"Was ist denn an Rockstar nachdenklich?" Oder an den anderen Lidern, die ich genannt hatte.
Geantwortet wurde allerdings mit einer Gegenfrage. "Würdest du dein Leben für Reichtum und Berühmtheit eintauschen?"
"Ja klar." Ich lachte. "Würde doch jeder."
"So lange es ein Traum bleibt.", erwiderte er nur.
Der blonde Mann spielte.
Che war todmüde. Unaufhörlich gähnte er.
"Du kannst hier bei uns schlafen, wenn du willst.", bot ihm Kurt Cobain an. Che nickte nur müde. Kaum lag er auf so einer Matratze, war er schon weg.
Ich für meinen Teil lauschte noch ein wenig den Melodien der etwas sonderbaren Band. Mir gefiel seine Interpretation der Lieder.
"Woher hast du das gelernt?", fragte ich Kurt.
Er lachte nur. "In Aberdeen."
"Na klar." Ich zeigte ihm meine Zweifel deutlich. "Hat dir wohl schon jemand gesagt, dass du aussiehst wie Kurt Cobain."
Entgeistert sah er mich an. "Wer ist das?"
"Nicht dein Ernst." Nun war ich derjenige, der mein Gegenüber auslachte.
"Doch.", bekräftigte dieser seine Aussage.
"Einer deiner Grunge-Kollegen. War der Lead-Sänger und Gitarrist von Nirvana."
"Auch so. Der! Doch, hat schon wer gesagt. Bei deiner Aussprache dachte ich, der ist ein Franzose."
"Ich kann kein Französisch.", meinte ich nur irritiert. Anscheinend sprach sich der Name wohl anders aus.
"Dann kannst du es aber sehr gut imitieren. Lass uns doch Nirvana spielen, wenn du magst."
"Mir egal. Ich fand bloß, dass du ihm ähnlich siehst." Ich kannte nur zwei Lieder von dieser Band und ich hätte es irgendwie peinlich gefunden, wenn es auffliegen würde.
"Kann sein. Das wäre aber Zufall, wenn ja. Oder glaubst du, dass ich meine Leiche gefälscht habe? Wäre dann ja auch sicherlich keinem aufgefallen."
"Früher hat auch schon mal jemand gedacht, ich sei Jesus. Der hat so lange rumgemacht, bis ich ihn dann gesegnet hab. Bin ja kein Unmensch." Er lachte aus vollem Hals und ich musste unwillkürlich mit einstimmen.
"Wie heißt du eigentlich?", wollte er daraufhin wissen.
"Jay."
"Und dein Freund?"
"Che."
"Klingt ja witzig. Jay und Che." Irgendwie musste diese Kombi tatsächlich was haben. "Jay klingt wie Jay Gatsby. Erinnert mich an F. Scott Fitzgerald.", fuhr Kurt Cobain dann ein wenig gedankenverloren fort.
"Und wer bist du?" Jetzt wollte ich es doch wissen.
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