28
"Mein Bruder ist vier Jahre älter als ich. Unsere Eltern und ich haben auf einer Farm nicht allzu weit weg von hier gelebt. Es war eine glückliche Zeit. Ich war sechs, als es passiert ist. Mitten in der Nacht stand unser Haus plötzlich in Flammen. Ich habe nur noch meine Mutter schreien hören. Dann wurde sie vor meinen Augen von so einem Balken erschlagen. Meinen Vater habe ich nie wieder gesehen. Mein Bruder hat mich gerettet. Ohne ihn wäre ich jetzt tot. Mutig ist er in unser Haus zurück gerannt und hat mich befreit. Danach ist er verschwunden. Es hat Jahre gedauert, bis ich erfahren habe, dass er hier lebt. Er hält uns alle für tot. Außerdem bin ich daran schuld, dass er vernachlässigt wurde. Man hat ihn nie gesucht. Ein Kind war ja gerettet. Dann bin ich auch noch adoptiert worden. Die ganze Zeit war ich gut aufgehoben und er ganz auf sich allein gestellt. Ein Wunder, dass er nicht gestorben ist. Die ganze Zeit hab ich rumgejammert. Dabei hatte ich gar keinen Grund dazu. Geschieht mir auch Recht, dass die mich alle hassen. Bloß um Mick ist es schade. Vielleicht gibt es ja tatsächlich diesen Fluch."
"Was für einen Fluch?" Für diese Frage biss ich mir kräftig auf die Lippe.
"Dass Menschen, die aus den Flammen von Anderen gerettet wurden und Familienangehörige darin verloren haben, ohne um sie zu kämpfen, immer mehr Menschen in den Tod ziehen." Davon hatte ich noch nie gehört.
"Glaubst du wirklich daran?"
"Alles spricht dafür. Mick wird der Erste sein. Viggo wird folgen. Mein Bruder ebenso. Ich will nicht noch mehr Menschen treffen, deren Unglück ich beeinflusst habe." Oh Gott! Bill war ja tatsächlich davon überzeugt, dass er an allem die Schuld tragen würde.
"Ich glaube nicht an so was. Wenn du deinen Bruder besuchen würdest, würde ihm das gut tun. Mach es einfach. Dann freut der sich und du dich auch. Außerdem geht es Mick im Moment auch sehr gut."
"Aber er hat Streit mit seinen Eltern.", warf Bill sofort ein.
"Habe ich auch mit meinen, weil ich nicht ihrer Meinung bin. Na und? Wir werden uns schon wieder vertragen. Bei Viggo wird es ähnlich sein und auch Mick und seine Eltern werden sich wieder verstehen. All das braucht nur seine Zeit. Bestimmt verzeihen die ihm schon lange. Du bist daran kein bisschen Schuld und sie vermissen dich sicherlich auch schon lange. An deiner Stelle würde ich mit deinem Bruder anfangen. Und aufhören, dich zu verstecken. Du bist nämlich viel schöner so. Ohne die ganze Schminke. Wird auch billiger. Man weiß nie, wie stark man wirklich ist, bis die einzige Option, die man übrig hat, stark zu sein ist. Wenn du willst, geht das." Bill musste lachen, während ich so sprach wie ein alter Weiser. "Geh morgen mal zu deinem Bruder. Ich muss mich da auch noch bedanken."
"Ich glaube, jetzt ist aber Schlafenszeit.", meinte Bill. Aus seiner Tasche zog er ein Päckchen Zigaretten. "Willst du?" Ich lehnte ab und nahm Bill das Päckchen aus der Hand.
"Du solltest nicht vergessen zu deinem Bruder zu gehen."
Mit einem leichten Grinsen auf den Lippen schüttelte Bill den Kopf. "Du bist echt konsequent." Er wies mit dem Kopf auf das Zigarettenpäckchen.
"Ja, bin ich. Mein Opa ist daran gestorben. Kein schöner Tod. Das muss kein Anderer mehr machen. Du wolltest doch ohnehin aufhören. Dann wird es jetzt Zeit mit dem Aufhören anzufangen." Bill nahm mir das Päckchen aus der Hand. Nein!
Oder?
Weit holte er aus und warf es in hohem Bogen weg. "Harte Zeiten brechen an." In dieser Sekunde wirkte er beinahe euphorisch. Mir sollte es Recht sein. Wir schlenderten zum Haus zurück.
Eingeschlafen waren wir wahnsinnig schnell.
"Mann, hab ich gut geschlafen." Bill wirkte nach der halben Nacht voller Energie. Meine Güte. Ich bekam meinen müden Körper kaum vom Boden hoch.
Unser ehemaliger Gothic, der nun in Ches Klamotten steckte, sang vor sich hin. Ich kannte das Lied. Bullet von Hollywood Undead.
Ches Kleidung passte seltsamerweise jedem. Zumindest so einigermaßen. Mick traf fast der Schlag, als er Bill so erblickte.
"Was ist denn mit dir los?" Trotz seiner Verwunderung lächelte Mick.
"Mir geht es verdammt gut.", meinte unser Countryboy Bill nur. Die braunen Haare fielen ihm ins Gesicht.
"Nicht schlecht", raunte mir Mick zu. "Vielleicht haben meine Eltern echt darüber nachgedacht. Wäre zumindest wünschenswert."
"Auf jeden Fall." Wie auch immer er es geschafft hatte, uns gestern zu belauschen. "Und ich bin übrigens aus Überzeugung Punk. Das hat Bill allerdings noch nieverstanden." Ich freute mich innerlich.
Nach dem Essen gingen Bill und ich gleich los zu Bills Bruder. Che hatte ich eingeweiht, falls ich ihn brauchen würde. Außerdem würde er so etwas nicht weiter sagen. Hier gab es auch niemanden, dem man es hätte erzählen können.
Dieses Mal klopfte ich, bevor ich eintrat. Eine freundliche Stimme bat mich sogar herein.
"Ich warte erst noch hier draußen. Sag dann bescheid, wenn er darauf vorbereitet ist.", flüsterte ich Bill zu. Er nickte.
Mission Bills Bruder war gestartet. Ich lief die Stufen hinauf.
"Schönen Tag.", wünschte mir Schatzinsel-Ben.
"Ebenso. Und noch mal vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft gestern." Ich bemühte mich darum, so entspannt wie möglich zu wirken.
"Keine Ursache. Kommen Sie doch rein." Wieder saß ich an dem Küchentisch. An diesem Tag allerdings ohne Che.
"Habe zwei Überraschungen für Sie.", begann ich. Nicht gerade die einflussreichste Idee, aber zumindest etwas.
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