27

Stattdessen schaltete sich mein Gehirn nun vollständig aus. Ohne zu überlegen, rannte ich auf Bill zu. 

Zum Glück schien dieser mich nicht im Geringsten bemerkt zu haben. Unauffällig setzte ich mich neben ihn. Meine ganzen seltsamen Reaktionen hatten sich mit einem Schlag eingestellt. Ruhig wie nie saß ich auf Tuchfühlung neben dem verrückten Gothic. Was wenn der mich jetzt gleich opfern würde? 

Ich dachte noch nicht einmal daran. Ich dachte an nichts. Bill setzte erneut das Messer an. Mit einem Mal kehrte meine Stimme zurück. War es Euphorie? Ich weiß es nicht! In jedem Fall begann ich zu sprechen. 

"Hör auf." 

Sowohl ich als auch Bill sprangen, erschreckt von dem Klang meiner eigenen Stimme, auf. Sie hörte sich beinahe beruhigend an. Wie auf so einer Vokabel-Lern-CD. Keine Spur von Angst. Was konnte mir jetzt auch noch passieren? Entweder jetzt war alles vorbei oder ich kam hier glimpflich raus. 

"Was zu Teufel machst du hier?" Bill schrie. Ich zuckte noch nicht einmal zusammen. "Du willst mich ausspionieren! Und jetzt? Willst du es jetzt deinem beschissenen Indianerfreund erzählen, damit ihr was Tolles zum Reden habt? Ihr seid genauso sensationsgeil wie alle Anderen. Ihr wollt es bloß nicht zugeben! Ihr seid gottverdammte Lügner! Ihr wollt alle ruinieren! Na los, bring mich doch um! Das würde dich freuen, nicht?" 

In Bills Augen bildeten sich Tränen. Sie liefen sein Gesicht hinunter. Er war nicht geschminkt. Er sah unglaublich gut aus. Ohne Schminke. Viggo oder Chad waren kein Vergleich zu ihm. Wie konnte man sich so hässlich machen, wenn man von der Natur so bevorzugt worden ist? Das grenzte fast an Selbstverstümmelung. 

Zum ersten Mal fiel mir auf, dass er weder gepierct noch tätowiert war. Das Messer umklammerte seine rechte Hand, während sich seine Nägel in den hölzernen Griff bohrten. 

Aus unerfindlichen Gründen erkannte ich meine Möglichkeit. Mit einem Schlag haute ich ihm das Messer aus der Hand. Klirrend fiel es zu Boden. Hastig hob ich es auf. Jetzt war er zumindest vor sich selbst geschützt. 

Ich erkannte Narben auf Bills Haut. Sein gesamter Arm war vernarbt, sein Hals, seine Hände. Ich spürte Schmerzen. Wieso nur? Normalerweise - zumindest habe ich das so verstanden -ritzen sich Menschen ja nicht am ganzen Körper. Ich dachte, die würden meistens am Unterarm so was machen. Um ehrlich zu sein, in diesem Moment dachte ich zum ersten Mal darüber nach. 

Ich reichte ihm ein Taschentuch, das ich zufälligerweise in meiner Hosentasche gefunden hatte. Nun war es Bill, der unkontrolliert zitterte. Ich wusste nicht wohin mit dem Messer. Ich wollte ihn beruhigen. Der Mann in unserem ersten Haus war die Vorstufe von Bills Zustand gewesen. Mein Atem beschleunigte sich. 

Ich hatte immer geglaubt, dass solche Menschen in eine Psychiatrie gehören würde. Man müsse sie wegsperren, damit sie die Anderen nicht gefährden. Niemals könnte ich das so jemanden wie Bill antun. Er hatte ohne Anstalt, die seine Probleme den Anderen deutlich machen würde, schon genug zu leiden. Vielleicht könnte man dort versuchen, Menschen zu "heilen", aber gesund kann man bei so etwas sowieso nicht werden und das Leben draußen wird nur noch schwerer. Wer will denn gerne einen psychisch Kranken anstellen? Zum ersten Mal dachte ich darüber nach. 

Wir setzten uns. Bill hatte sich wieder gefangen. Es war ihm kaum noch anzusehen, dass er am Boden zerstört war. 

"Kannst du Karate?" Fragend sah er mich an. 

"Nein. Weshalb?" 

"Weil du mir das Messer aus der Hand geschlagen hast", erwiderte er nur trocken. 

"Du warst nicht darauf vorbereitet", versuchte ich mich zu erklären. 

"Früher hatte ich mal eine perfekte Reaktionszeit. Ich wollte Pilot werden." Bill zwang sich zu einen Lächeln. "Damals war ich noch sportlich und hatte gute Augen. Naja. Ist ja auch schon eine Weile her." Dass Bill so gesprächig sein konnte. 

"Wieso solltest du das alles nicht mehr haben? Da ändert sich bestimmt nicht so viel dran", mutmaßte ich.  

"Doch. Wenn man nachhilft." Bill blickte zu Boden. 

"Nachhilft?" Eigentlich wollte ich nicht fragen. Es rutschte mir einfach so heraus. 

"Wenn man raucht, geht das schon", antwortete er nur barsch. Irgendwie erschien mir das unlogisch. Außerdem hatte ich ihn bislang noch kein einziges Mal rauchen gesehen. 

"Wieso rauchst du dann?" Ich hätte mich für diese Fragen köpfen können. Bill blieb wirklich erstaunlich ruhig. 

"Um zu vergessen. Wenn man sich verkleidet, fällt es am wenigsten auf." Ich fühlte mich betroffen. "Du müsstest mich eigentlich für einen Unmenschen halten, richtig? Gib es zu. Du hattest Angst vor mir!" Im ersten Moment konnte ich nicht beurteilen, ob es ein wütender oder ein verzweifelter Aufschrie war. 

"Nein. Tu ich nicht." Es fühlte sich wie eine Mischung aus Wahrheit und Lüge an. "Warum verkleidest du dich?" Jetzt konnte mich Bill nur noch erwürgen. Das Messer hatte er ja nicht mehr. 

"Weil ich glaube, dass Dracula im Grunde seines Herzens ein sehr bemitleidenswerter, freundlicher Mensch ist." Bill musste lachen. Ich wusste nicht, was ich von seinen plötzlichen Stimmungswandeln halten sollte. "Ich bin kein überzeugter Gothic." Ich war verwirrt. "Ich dachte, bei denen fällt es am wenigsten auf." Betroffen sah er auf seine blutenden Handgelenke. "Ehrlich gesagt kenne ich keinen einzigen Gothic." 

"Wow", murmelte ich ganz leise vor mich hin. Irgendwie sah er dem einsamen Mann unglaublich ähnlich. Wahrscheinlich kam es mir nur so vor wegen der Verzweiflung, die in den Augen beider lag. 

"Bist du eigentlich mit einem gewissen Viggo Rutherford verwandt?" Perplex starrte ich Bill an. Ich musste nach denken. 

"Glaub nicht." Ich kenne bloß einen Viggo und den habe erst vor Kurzem getroffen. 

"Komisch. Du siehst dem nämlich total ähnlich", meinte Bill nachdenklich. 

"Echt? Wer ist das?" Jetzt wollte ich es doch genauer wissen. 

Bill lächelte. "Einer der besten Menschen dieser Welt." 

"Inwiefern?" 

"Viggo und ich waren in einer Klasse, früher. Der ist sonst wie ich. Ich hab mich für den Pilotenjob beworben und der ist kurz vor dem Abschluss durchgebrannt. Der war schon die ganze Zeit völlig zerstört wegen seinem Vater." Er seufzte. "Meine Eltern, also Micks Eltern eigentlich, die haben mich adoptiert, waren da nicht so extrem. Mick war denen natürlich wichtiger als ich. Der ist deswegen Punk geworden. Weil sein Vater mir ins Gesicht geschlagen hat, weil er meine vernarbten Arme gesehen hat. Meine Nase hat geblutet und Mick ist durchgedreht. Natürlich hassen seine Eltern mich dafür. Die haben gesagt, so bekomme ich nie eine Arbeit. Damit hatten sie Recht. Die Menschen am Flughafen haben das bemerkt und dann war es aus. Micks Eltern haben gemeint, ich wäre undankbar. Als ob ich so was absichtlich mache, um sie zu ärgern. Ich wollte perfekt sein." Bill schwieg. 

"Aber wieso machst du es denn dann? Wenn du nicht willst, dann hör doch auf!" Ja, ich weiß, es war nicht gerade der Tipp des Jahrhunderts. 

"Kann ich nicht mehr. Ich kenne den Anfang nicht mehr. Das ist laut Psychologen der Anfang vom Ende, wenn man sich dann nicht professionelle Hilfe holt. Aber das will ich nicht. Sonst bist du völlig unten durch. Dann halten dich alle für bekloppt und unzurechnungsfähig. Dann kannst du den Rest deines Lebens vergessen." Für eine Weile schwiegen wir beide. Ich hatte fruchtbare Schmerzen. Warum nur? 

"Mein Bruder. Er lebt da drüben. Deshalb komme ich immer wieder hierher. Um nahe bei ihm sein zu können. Er ist furchtbar alleine." Bill deutete auf das Haus. Genau das Haus, in dem der einsame Mann wohnte. Ich erschrak innerlich. 

"Warum besuchst du ihn nie? Ich habe ihn zufälligerweise kennengelernt. Der Typ ist am Vereinsamen", sprudelte es aus mir heraus. 

"Wenn ich kommen würde, würde ich mich nicht zurückhalten. Früher oder später würde ich ihm schon erzählen, dass wir Brüder sind. Wer weiß, ob er das überleben würde." 

"Wieso sollte er das nicht überleben?" Ich verstand nur noch Bahnhof. 

"Weil er sich absichtlich zurückgezogen hat. Ich glaube nicht, dass er gestört werden möchte." 

"Ach was! Bei uns hat er sich so über den Besuch gefreut. Er wollte uns gar nicht mehr gehen lassen." Ich wollte jetzt das Bestmögliche für den einsamen Bruder rausholen. Wenn Bill schon wegen ihm hierher kam, dann sollte der Mann wenigstens etwas davon haben. 

"Mein Bruder hat schwierige Zeiten durchlebt. Muss ich das denn jetzt alles im Einzelnen erläutern?" Natürlich nicht. Beschämt sah ich zu Boden. Noch bevor ich noch etwas erwidern konnte, fuhr Bill bereits fort. 

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