16
Der Cadillac war schnell zum Campingplatz geschafft. Friedlich parkte er neben dem Multivan. Unterdessen saßen Che und ich auf zwei nicht mal so unbequemen Plastikklappstühlen und löffelten irgendwelche Dosensuppen. Das hier war wirklich dänisches Buffet. Frei nach dem Motto: Nehmt so viel ihr wollt. Ausnutzen musste man eine solche Gelegenheit, wenn sie sich einem schon bot. Im Internat hätte das bestimmt Terror gegeben. Als würden Dosensuppen die Gesundheit gefährden oder als würde man davon auf der Stelle tot umfallen. Im Moment war mir dieses ganze gutbürgerliche Leben so egal. Das stank ohnehin bis zum Himmel. Da waren alle anderen Lebensformen zusammen ehrlicher. Neben uns hatten sich die zwei Männer niedergelassen.
"Wie heißt ihr beiden eigentlich?" Der Blonde war echt deutlich gesprächiger als sein Begleiter.
"Ich bin Che.", sprudelte es sofort aus Che heraus.
"Wie Che Guevara?" Nie zuvor hatte ich so leuchtende Augen gesehen wie die des Blonden in diesem Moment.
"Jip." Die Antwort war ungewöhnlich knapp ausgefallen.
"Gefällt mir." Der Blonde lachte. "Und du?" Die Frage musste an mich gerichtet gewesen sein.
"Mein Name ist James. Also man kann natürlich auch Jay sagen." Inzwischen gefiel mir mein neuer Spitzname, den mir Che verpasst hatte, sowieso besser als mein eigentlicher.
"Alles klar." Der Blonde schien die gleiche Angewohnheit wie Che zu haben, sich über alles und jeden zu freuen. Manchmal konnte man sich nur wundern, dass solche Menschen nicht in anderen Plätzen anzutreffen waren. Im Internat, zum Beispiel, hatte ich noch nie einen von der Sorte "überglücklicher Weltverbesserer und Philosoph" gesehen.
Die beiden Männer waren auf der Suche nach sich selbst. Instinktiv hoffte ich, dass ich mich auch endlich mal finden würde. Solche Fragen waren tatsächlich deutlich schwieriger als jeder mathematische Zusammenhang. In der Mathematik gibt eine richtige und eine falsche Antwort. Wurde einmal etwas bewiesen, steht dies fest für die Ewigkeit. Bei der Philosophie muss jeder seinen eigenen Weg finden. Gerade das ist das Interessante daran. Es regt einen richtig auf. Man fühlt sich in den Fragen ohne Antworten wie gefangen und gleichzeitig wieder grenzenlos frei. Es ist total seltsam. Niemand kann das nachvollziehen, der noch nicht in einer solchen Dilemmasituation gewesen ist.
"Wie heißt ihr eigentlich?" Zum Glück hatte ich Che, der sich weiterhin um die Unterhaltung kümmerte.
"Ich bin Viggo", stellte sich der Blonde vor. "Ist dänisch. Deswegen klingt es so seltsam." Er lachte.
"Und ich Chad", antwortete der Braunhaarige. Er war dabei weniger enthusiastisch. Dennoch kann man nicht behaupten, dass er traurig wirkte. Im Gegenteil. Auch auf seinen Lippen lag dieses ständige Grinsen.
"Und woher kommt ihr?" Dieses Mal war es sogar Chad, der fragte.
"Also Jay und ich sind aus Florida. Ich komme aus so einem kleinen Dorf in der Näher des Chattahoochee Rivers. Ist aber völlig unbekannt. Und ihr?"
"Aus Australien. Genau genommen aus Sidney. Ich mache hier sozusagen nur Urlaub", erwiderte Chad.
"Nicht schlecht", gab ich zu und lächelte.
"Und ich bin ein gebürtiger Amerikaner aus New York City." Viggos Antwort überraschte mich echt völlig.
"Wie kommst du denn dann hierher aus der Großstadt?" Ich konnte diese Frage einfach nicht zurückhalten. Aber ich glaube, bei solchen Menschen macht es auch nichts aus, einfach gerade heraus zu fragen, was man im Moment wissen wollte.
"Hab die Schule geschmissen. Seitdem hassen sie mich da. Chad hab ich sozusagen auf der Durchfahrt kennengelernt. Dem gehört auch die geile Karre." Zum ersten Mal bemerkte ich Anzeichen von Sorgen auf Viggos Gesicht. Angestrengt bemühte er sich, dies zu überspielen. Vor allem bei dem Wort hassen hatten sich kaum erkennbare winzige Fältchen auf seiner Stirn gezeigt. Ganz so, als wolle er seufzen.
"Die Staaten sind wirklich das Land der unbegrenzten Möglichkeiten." Chad lächelte, während er sprach. "Leider muss ich bald wieder zurück nach Down Under. Aber da gefällt es mir ja auch. Sonst würde ich hier bleiben. Dann beende ich zu Hause mein Studium und dann geht's los! Jetzt sind gerade eh Sommerferien."
"Was studierest du denn?", wollte Che wissen. Ihm schien Viggos Miene vorhin nicht aufgefallen zu sein.
"Physik und Wirtschaft. Ich werde später den Betrieb meines Vaters übernehmen", prahlte Chad.
"Cool." Bewunderung sprach aus Ches Gesichtsausdruck.
"Entschuldigt mich bitte." Viggo stand auf und nahm im Vorbeigehen eine Flasche mit, bei deren Inhalt es sich vermutlich um Alkohol handelte. Er lächelte übertrieben.
"Und was ist das für ein Betrieb?" Wieso bemerkte Che nicht, dass da mit Viggo etwas nicht stimmte? Er war doch sonst so sensibel dafür. Na toll.
"Ich komm gleich wieder", sagte ich blitzschnell.
"Wohin willst du denn?" Mit einem Mal interessierte sich Che für Andere außer Chad.
"Will bloß schnell was holen und, na ja, ihr wisst schon." Ich macht eine vieldeutige Geste. Sollten sich gefälligst aussuchen, was sie wussten.
"Ja klar. Verstehe. Bis gleich." Che wandte sich wieder Chad zu, der pausenlos von Australien und dem Betrieb erzählte. Zumindest die beiden waren beschäftigt. Ich lief ein Stückchen weg Richtung Cadillac, sodass Chad und Che mich nicht mehr erkennen konnten. So sah es auch so aus, als wolle ich tatsächlich etwas holen. Ohnehin waren die beiden unglaublich in ihr Gespräch vertieft. Dies ließ mir zusätzlich ein wenig Zeit.
Erst als ich außer Sichtweite war, begann ich mich nach Viggo umzusehen. Allerdings konnte ich ihn nirgendwo ausfindig machen. Wo steckte er bloß? Mit einem Mal erblickte ich hinter einer kleinen Ansammlung an Bäumen eine Gestalt. Ich ging auf denjenigen zu. Hinter den Bäumen kam ein künstlicher Minisee zum Vorschein. Die untergehende Sonne spiegelte sich darin. Sie war nicht so rot wie gestern. Das bedeutete, dass es noch nicht so spät war. Hier hatte ich mein Zeitgefühl komplett verloren. Im Internat brauchte ich keine Uhr. Stets wusste ich die genaue Uhrzeit. Da war der Alltag auch echt strikt geregelt. Oder besser ausgedrückt, getaktet. Hier geschah jeden Tag etwas Aufregendes. Wie sollte man sich da noch auf die Uhrzeit konzentrieren? Wenn ich die ungefähre Tageszeit kannte, war ich hier schon heilfroh.
So geräuschlos wie möglich näherte ich mich Viggo. Er bemerkte mich keines Wegs. Ich setzte mich neben ihn. Die Flasche in seiner Hand verhieß nichts Gutes. Jedoch war sie noch nicht mal angebrochen. Er hielt sie einfach nur fest und schaute mit leerem Blick in die Ferne.
"Ich versteh das." Verwirrt sah mich Viggo an.
"Was verstehst du?" Vor Überraschung schrie er fast ärgerlich.
"Das mit deiner Familie", versuchte ich es geduldig.
"Woher willst du denn wissen, dass es meine Familie ist?" Es klang beinahe abschätzig.
"Weil es offensichtlich ist."
"Hat aber vor dir noch nie jemand bemerkt." Seine Laune hatte sich von aggressiv zu melancholisch gewandelt.
Ich fasste den Entschluss auch mal etwas Einfühlsames zu sagen. "Mir geht es genauso."
"Wirklich?" Sofort hellte sich Viggos düsterer Gesichtsausdruck auf.
"Ja", gab ich nur zurück.
"Schule geschmissen, weil die Lehrmethoden da nicht mit deinen Idealen übereingestimmt haben?" Sein Blick füllte sich immer mehr mit Freude, einen Gleichgesinnten gefunden zu haben.
"Nicht die Schule geschmissen. Aber abgehauen. Eigentlich wäre ich jetzt bei meinem Onkel."
Viggo schien es tatsächlich wieder besser zu gehen. "Ich will ja eigentlich gar nicht, dass sie sauer auf mich sind oder traurig wegen mir. Aber in New York war ich so verloren. Klar. Das haben sie nicht verstanden. Mein Vater wollte unbedingt, dass ich weiter auf diese Eliteschule gehe. Ich war der beste Schüler da." Er seufzte. Ich hörte nur ganz still zu. "Ich wollte das zu Anfang auch. So was Spießerisches studieren und so. Aber dann habe ich ihm alles offenbart. Das war einfach nur dumm. Ich hätte das nicht erwähnen dürfen. Ganz ehrlich, seine Reaktion war ja absehbar. Trotzdem hab ich's gemacht. Ich wollte Schriftsteller werden. Weißt du. Ich will es immer noch. Mein ganzes Leben lang. Ich will nur das. Sonst nichts. Bisher hatte ich noch keinen Erfolg. Ich konnte nicht verlegen, weil mir das Geld für das Autorenhonorar gefehlt hat. Fehlt mir leider immer noch. Ich schreibe am liebsten den ganze Tag. Aber ich weiß, große Verlage nehmen dich nicht ohne Namen. Das ist ja gerade das Problem. Theoretisch musst du bereits von oben anfangen, um Erfolg zu haben. Und kreatives Schreiben kann man nur mit Schulabschluss studieren. Hätte ich mir früher überlegen sollen. Nachdem ich aufgehört habe, zur Schule zu gehen, hab ich mal hier mal da gejobbt. Da kam nichts bei rum. Dann kam zum Glück Chad. Bei dem wohn ich seitdem kostenlos sozusagen."
Erneut seufzte er. Trotz seiner etwas konfusen Ausführungen, gab ich mein Bestes, ihm zu folgen. "Ich will ihm nicht zur Last fallen. Außerdem hasse ich Streit, aber dieses Internat hat mich fertig gemacht. Ich konnte zum Schluss nicht mehr schlafen. Das wurde erst auf der Ranch besser. Ganz ehrlich, ich hab ausgesehen wie der Tod. Mein Vater wollte immer weiter machen, immerhin bin ich sein einziger Sohn. Der Stolz der Familie. Später sollte ich Manager werden wie er, aber ich kann mit so was nicht umgehen. Ich versuch es ja, doch es klappt nicht. Es geht nicht. Ich sterbe fast dabei und ihn interessiert das nicht. Er hat mir alle Sachen verboten, damit ich für den Abschluss mehr Zeit zum Lernen hab. Dann hab ich einfach doch eines meiner selbstgeschriebenen Stücke inszeniert und das auch noch im Theater. Das hat ihn unendlich aufgeregt. Er hatte ja alles daran gesetzt, dass so etwas nicht passiert. Danach gab es zwei Möglichkeiten: ihn gnädig zu stimmen und alles zu tun, was er sagt, oder einfach aufgeben. Ich hab mich für aufgeben entschieden. Als ich davon nämlich gehört hab, hätte ich mich beinahe das Schuldach runtergestürzt. So war es schon besser. Außerdem ging es in der Schule nicht nach Intelligenz. Die Reichen wurden bevorzugt, weil sich intelligente Arme eine solche Bildung für ihre Kinder schließlich gar nicht leisten können. Das fand ich sehr unfair. Deshalb bin ich auch gegangen. Mein Vater war sozusagen bloß der Auslöser. Nachdem ich aufgehört habe, hat er sich geweigert, mich noch einmal zu sehen. Da war es endgültig vorbei."
Er schwieg einen Augenblick, um wieder zum Reden anzusetzen. "Leider war ich zu schwach für seinen Ansprüche."
Ich verstand genau, was er meinte. "Man kann nicht für immer eine Rolle spielen", versuchte ich mein Bestes, um ihn aufzumuntern.
"Nein. Leider. Sonst wäre ich Spion." Er lachte, doch es klang nicht schmerzhaft. "Aber mir haben danach auch viele geholfen. Vor allem diejenigen, die am ehesten selbst Hilfe gebraucht hätten. Zum Beispiel der eine Bettler, der nebenbei noch drei Jobs hatte. Und dann sagen alle immer, Bettler wären faul. Der hat sich beinahe totgearbeitet. Und Andere sind reich und legen ihr Leben lang die Füße hoch. Diejenigen, die dir aufhelfen, wissen, wie es ist zu fallen."
Ich nickte. Wohl wahr.
Die Sonne spiegelte sich im See. Das gesamte Wasser verwandelte sich in Orangensaft. Verträumt sahen wir auf den See hinaus. Viel gab es freilich nicht zu sehen. Dennoch liebte ich es. Sowohl Viggo alsauch ich hatten die Flasche Bier geleert. Betrunken waren wir davon natürlich nicht. Allerdings war das auch nicht Sinn und Zweck des Trinkens gewesen. Wir waren schlicht und ergreifend durstig gewesen. Che und Chad hatten sich zu unsgesellt.
Niemand sprach ein Wort. Die Stille drückte alles aus. Kein Zauber hätte eine größere, magischere Wirkung zeigen können. Die Luft roch nach Freiheit. Die Sonne glich einer leuchtenden Kugel, die langsam im Wolkenmeer versank. Die Wolken bildeten eine lange Kette und verschwammen mit dem gelb-orange-roten Himmel, der aussah wie ein flüssiges Feuer. Es war gigantisch.
Chad nahm noch einen Schluck Rootbeer. Früher hatte ich Rootbeer gehasst, doch mittlerweile schmeckte es mir wirklich gut. Hing vielleicht mit diesem Ausflug zusammen. Denn davor war früher.
"Ich komm gleich wieder." Chad stand auf. Was hatte er nur vor.
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