13

Ich fühlte mich gleichzeitig todmüde aber auch wieder hellwach und gut ausgeruht. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Umständlich stand ich auf und sah mich um.

Che war weg. Na super! Kaum kennengelernt, lässt mich dieser Arsch hier auch noch allein in der Wildnis sitzen! Das geht ja mal gar nicht.

"Che?" Es raschelte im Gebüsch. Eine Gestalt, die Che sehr ähnelte, kam zum Vorschein.

"Komm her!", rief er. Verwundert fuhr ich mir durch die Haare und ging auf Che zu. Was er nun schon wieder vorhatte? Ganz ehrlich, manchmal ähnelte er schon einem Hippie. Er war dauergutgelaunt und lebte getreu nach dem Motto: "Make love, not war!" Zumindest den Tieren gegenüber. Die bat er ja sogar um Verzeihung, wenn er ihr Fleisch aß.

Che hob die Motorhaube des Cadillacs an. Vorsichtig öffnete er den Behälter mit dem Kühlwasser. "Jetzt waschen wir uns mal." Ohne mit der Wimper zu zucken, begann er sich mit dem kühlen Nass vollzuspritzen. Alles klar. Leider gab es hier abgesehen von diesem Wasser kein anderes, das wir hätten verwenden können. Der Rest bildete schließlich unser Trinkwasser. Na gut.

Ich wusch mir ebenfalls das Gesicht. Che trocknete sich einfach an seinem Hemd ab. Ich tat das Gleiche. Gab ja sonst auch nicht viel Auswahl. Wenn mich jetzt meine Etepetete-Tante sehen könnte. Die würde durchdrehen.

"Bist du eigentlich immer so locker drauf?", hakte ich nach. Che grinste. "Nein. Bin ich bloß, wenn ich unterwegs bin. Da lohnt es sich nicht, sich aufzuregen. Mit jeder Situation, die kommt, muss man fertig werden. Da gibt es nichts zu ändern. Man kann nur aus allem das Beste machen."

"Du bist ein richtiger Hippie!", stieß ich aus.

"Nein. Bin ich nicht", verneinte mein Begleiter.

"Warum nicht? Du bist doch voll der Pazifist und hast lange Haare und denkst nicht gerade weit. Sieht man vor allem am nicht abgeschlossenen Auto." Ich war verwirrt.

"Aber Hippies haben noch so Blumen und nehmen Drogen, um Spaß zu haben. Glaub mir, das brauch ich nicht. Viel zu teuer. Ich kann auch so glücklich sein. Zufrieden mit mir und der Welt. Wer bloß noch mithilfe solcher Mittelchen sein Leben in bunten Farben sehen kann, der lasse sich begraben, denn seine Gefühle sind mit seiner Freiheit gestorben." Klare Ansage. Er zog sein Hemd aus, um es auszuschütteln. Sein Oberkörper war so dermaßen durchtrainiert, dass es sogar mir auffiel, obwohl ich gar nicht genau darauf achtete.

"Gehst du oft ins Fitnessstudio?"

"Wohin?" Che war mit dem Schütteln fertig und zog sich sein Hemd wieder über.

"Ins Fitnessstudio", wiederholte ich.

"Was ist das?" Das konnte doch nicht sein Ernst sein.

"Da geht man hin, um sich Muskeln anzutrainieren. Klingelt's?" Che zuckte nur verständnislos mit den Achseln.

"War noch nie da. Ist es einen Besuch wert?", erkundigte er sich interessiert.

"Kommt drauf an. An deiner Stelle nicht", stellte ich fest. Ist ja auch wahr.

"Wieso?"

"Weil du da nicht mehr Muskeln kriegst, als du ohnehin schon hast, ohne trainiert zu haben." Che lachte.

"Kommt vom Arbeiten. Ich helfe meinem Vater manchmal aus. Und meinem Opa natürlich sowieso. Da kommt vielleicht schon Einiges zusammen. Kommt bloß die Schule manchmal zu kurz." Er lachte. "Ich könnte besser sein."

"Ich nicht." Ich versuchte zu grinsen. Aber es wurde nur eine schiefe Grimasse daraus.

"Natürlich könntest du! Du bist nicht auf den Kopf gefallen. Du brauchst bloß mehr Freizeit. Du scheinst dir einen ganz schönen Stress aus allem zu machen." Ja Che, genau! So ist das.

"Woher willst du das denn wissen?", gab ich eingeschnappt zurück.

"Weil du so entspannt bist hier. Überleg mal. Wärst du in der Schule oder bei deinen Eltern, willst du ein wahres Musterkind sein. Hier nicht. Deshalb bist du relaxt. Du schaust immer, was die Anderen machen. Und daran orientierst du dich. Das kann schon nicht falsch sein, denkst du dir. Die machen es ja auch. Du solltest mehr selbst denken. Mir brauchst du nicht zu gefallen. Ich finde dich eh schon perfekt, wie du bist. Ich denke nur, dass du noch viel besser wärst, wenn du noch mehr du selbst wärst."

"Ich lass mir von dir doch nichts sagen!", blaffte ich ihn an. Was bildete er sich eigentlich ein, mir so was zu unterstellen?

"Genauso will ich das hören." Che grinste. "Steig ein."

Wir packten unsere Sachen in dem Cadillac und fuhren weiter. "Nächsten Sommer geht es dann nach San Francisco. Wir kaufen uns so Woodstock-Musik und stecken uns knallbunte Plastikblumen ins Haar. Dann fall mindestens ich nicht mehr unter den ganzen Hippies auf."

"Bis dahin haben meine Haare dann die Chance lang genug dazu zu werden", antwortete ich grinsend. Che legte seinen Kopf schief.

"Ja, ein bisschen Zeit braucht das noch", meinte er dann gespielt kritisch.

"Lässt du deine Haare eigentlich immer wachsen?", erkundigte ich mich.

"Nicht immer. Sonst würdest du mich vor lauter Haaren gar nicht mehr sehen. Außerdem sehen zu lange Haare aus wie ein alter Rocker. Solche Haare, wie ich sie hab, sehen aus wie ein junger erfolgloser Rocker. Zumindest der Versuch war es wert, denkt der sich. Die Musikerkarriere kann ja immer noch was werden. Man muss nur fest an sich glauben." Erneut lachte er. Auch ich konnte bei seiner Beschreibung mir ein Grinsen nicht verbergen.

"Willst du denn Musiker werden?", erkundigte ich mich bei ihm. 

"Nein. Dazu bin ich nicht gut genug. Weiß nicht, was ich werden will. Aber große Firmen nehmen eh lieber keine Indianer. Also von daher muss ich mir keine allzu großen Sorgen um einen plötzlichen Aufstieg machen oder darum, dass ich mit Erfolg nicht umgehen könnte." Wie konnte er bei solchen Zukunftsaussichten noch lachen? Seitdem ich klein war, wurde mir eine glorreiche Zukunft vorausgesagt. Schließlich besaß ich einen IQ, der hoch genug dazu sein musste. Schon mein ganzes Leben lang wurde ich gefördert. Auf jede erdenkliche Weise.

Gleich nach der Geburt ging es los. Im Mutterleib, als ich noch unschuldig herumgeschwommen bin, wurde ich mit Mozart beschallt. Danach ging es in die Lesestunden für Kleinkinder. Mit neun oder zehn kann man dann die gesamte Wirtschaftssituation der Vereinigten Staaten erklären. Aber das reicht nicht. Man lernt alle möglichen Sprachen. Je weniger die Kinder spielen, desto mehr können sie lernen. Dadurch werden die meisten ziemlich unkreativ. Doch das spielt keine Rolle. Verrückte Künstler kann man nicht brauchen. Ich seufzte leise. So war das Leben.

Das Schlimmste war, dass es unzählig viele Kinder gab, die noch einen viel höheren IQ besaßen und daher noch mehr von reichen Eltern gefördert wurden. Den Armen gegenüber total unfair. Dafür werden deren Kinder kreativer. Und in vielen Lebenssituationen sogar schlauer als alle Akademiker dieser Welt zusammen. So etwas könnten diese Bildungsstreber schon gar nicht mehr mit ihren winzigen, an den wichtigen Stellen verkrüppelten, angepassten Gehirnen feststellen.

Che hatte Recht! Wenn ich nicht genauso enden wollte, musste ich jetzt handeln. Sapere aude! Kritisch denken und kreativer werden, war gefragt. Das würde ich auch tun! Keiner würde mich so einengen wie diese Weichköpfe, die später für die NSA Codes knacken und Mathegenies sind, aber nicht einmal verstehen wollen, was ihre Arbeit für Auswirkungen auf andere hat. Solche Egoisten! Wo gibt es denn da Freiheit? Worin liegt denn da der Sinn? Wo liegt er überhaupt, der Sinn des Lebens?

Von diesem Gedanken kam ich trotz dem Lied "Stand by your Man", das im Radio dudelte, nicht mehr los. "Was meinst du, was ist der Sinn des Lebens?"

"Hast du mit mir gesprochen?" Che sah mich an.

"Ja schon." Mit wem denn sonst? Sitzt hier noch jemand außer dir?

"Der Sinn des Lebens..." Che dachte nach. "Weiß nicht genau. Du?", fragte er daraufhin. 

"Ich auch nicht. Hab gerade zum ersten Mal darüber nachgedacht."

"Sei froh. Mich verfolgt er schon fast ein halbes Jahr." Ches Augen weiteten sich, während er sprach.

"Echt? So lange?" Ich war entsetzt. 

"Es gibt Philosophen, die ihr Leben der Suche des Sinns darin gewidmet haben. Vielleicht ist das ja der Sinn.", erwiderte Che grübelnd. 

"Was?" Ich hatte ihm nicht ganz folgen können.

"Na die Suche", meinte Che eindringlich.

"Kann sein." Ich brauchte erst mal Zeit, um das zu verdauen.

Doch Che sprach weiter: "Ich denke bisher, dass der Sinn unserer Existenz das Leben selbst ist. Jeder sollte seinem Leben einen Sinn geben. Die einzige Regel, die es dafür gibt, ist, dass man anderen durch seinen Sinn nicht schaden darf."

"Klingt gut." Damit konnte ich mich abfinden. Antwort gefunden. Endlich konnte ich mich wieder den wichtigen Fragen des Lebens widmen.

"Denk darüber nach, bevor du zustimmst. Man kann nur dann zustimmen, wenn man wirklich darüber nachgedacht hat. Sonst spricht man dem Anderen lediglich nach. Das kann jeder. Man sollte es besser machen als andere.", warnte er mich jedoch. 

Ich dachte nach. Inzwischen beruhigte mich Country-Musik ungemein. Wie hatte ich sie früher verabscheuen können? Der Sinn des Lebens...

Mit einem Mal rumpelte es gehörig. 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top