12

Ich zuckte zusammen und hielt schützend die Hand vor mein Blatt. Selbst den Stift hatte ich fallen lassen. Bescheuerte Reaktion. Linkshänder waren sicherlich nicht dümmer als Rechtshänder. Und eine Krankheit war es doch auch nicht. 

Interessiert sah Che mir über die Schulter. "Hab ich dich erschreckt?" 

"Geht", erwiderte ich knapp.  

"Was wird das?", hakte Che nach. Langsam schob ich die Hand beiseite. 

"Voll hübsch!", staunte er. Ich wurde rot. Normalerweise hassten alle es, wenn ich kreativ wurde. "Du bist ein echtes Talent", ging der Lobesregen weiter. 

Angestrengt begutachtete ich meine eigene Zeichnung, um nichts erwidern zu müssen. Ein Lagerfeuer. Daneben zwei Jungs unter einem Baum. Der eine streckte das Bein in die Höhe. Das war ich. Über Ches Kopf lag der Cowboyhut. Lange Schatten warf das Lagerfeuer auf unsere Körper und den Boden. Der Cadillac stand ebenfalls da. Über uns der dunkle Sternenhimmel. Die Nacht schien uns vollständig einzunehmen. Bloß der Schein des Feuers und der Sterne erhellte das Bild. Merkwürdigerweise waren zwei Pferde mit ins Bild geraten, die aus dem kleinen Wäldchen galoppiert kamen. Sie waren einfach zu süß geworden. Ich hatte sie nicht weglassen können. Ein kleiner Hund spickte hinter einem Baumstamm hervor. Den hatte ich auch noch gebraucht. 

Che grinste. "Du magst Pferde und Hunde, nicht?" 

"Hab die nur gezeichnet, weil die ganz niedlich aussehen." Mein ganzes Leben lang träumte ich von einem Hund und einem eigenen Pferd. Bei unserem Nachbarn hatte ich früher häufig kostenlos reiten dürfen. Das war super gewesen. Ich würde es gerne noch mal tun. Aber im Internat gab es weder Hunde noch Pferde. Leider. In diesem Moment bemerkte ich erst, wie sehr mir meine großen vierbeinigen Freunde fehlten. 

"Bei meinem Opa kannst du reiten, wenn du magst. Da kann man nur auf seine Kosten kommen." 

Über mein Gesicht breitete sich ein großes Lächeln aus. "Gerne." Es klang nicht so glücklich, wie ich eigentlich war. "Ich meine das ernst", fügte ich daher schnell hinzu. 

"Glaub ich gleich", erwiderte Che. "Du bist nie so enthusiastisch. Du freust dich still." 

"Gut möglich." Ich packte das Zeichenzeug weg und legte mich hin. 

"Bist du denn gar nicht müde?", fragte Che. 

"Doch", antwortete ich knapp. 

"Aber?" Ches Gesichtsausdruck wirkte fragend. 

"Ich kann nicht schlafen", gab ich schließlich geschlagen zu. 

"Dann lass uns ein Schlaflied singen. Das kann jeder. Sing mit." Che stimmte Nashville Nights an. Bis dahin hatte ich das Lied noch nicht gekannt. Als ich nicht mitsang, kam er auf eine neue Idee. "Wenn du nicht singen willst, kenn ich ein besseres Lied. Da brauchst du nur zuzuhören." Ich war einverstanden. Che sang eigentlich ganz gut. "Das ist das Kälbchenwiegenlied von den Cowboys." 

Schon begann er zu singen. Es klang echt wie ein Schlaflied für kleine Kinder. Oder eben für kleine Kälbchen. "Singen wir auf dem Trail immer", berichtete er schließlich. War irgendwie niedlich. Einschlafen konnte ich davon leider trotzdem nicht. 

"Du bist echt eine harte Nuss", meinte Che belustigt, "Normalerweise pennen da immer alle sofort ein." 

Wir begannen die Sterne zu betrachten. "Wer als Erster den Kojoten findet!", rief Che. 

"Was ist das?" 

"Ein Sternbild", stellte Che fest, als wäre es das Offensichtlichste der Welt. 

"Aha." Vom Kojoten hatte ich noch nie was gehört. 

"Guck, da oben." Che deutete mit dem Finger auf eine Ansammlung an Sternen, die zwar eine besondere Konstellation aufwiesen, aber dennoch nicht im Geringsten einem Kojoten ähnelten. 

"Kennst du überhaupt Sternbilder?"

"Ja, schon. Ich find aber nie welche. Bin selten draußen", gab ich zu. 

"Schade." Che drehte sich auf seinem Deckenlager um. "Dann denk dir eins aus." 

Ich dachte nach. Es gab viele besondere Sterne. "Dieser Stern ist der schönste. Der bildet zusammen mit denen da das grasende Pferd." 

"Sieht tatsächlich so aus", meinte Che. Mit ein bisschen Fantasie konnte man sich das wirklich vorstellen.

"Weißt du, wie die Erde entstanden ist?", wollte Che nach einer Weile wissen. 

"Klar. Da war der Urknall und so. Und dann haben sich diese Massen zusammengetan. Erst hat sich der flüssige, heiße Erdkern gebildet. Und dann zum Schluss die Atmosphäre und so." 

"Das meine ich doch nicht." Heftig schüttelte Che den Kopf. 

"Gott hat in sieben Tagen die Welt erschaffen? Und Adam wurde aus Lehm geformt und Eva aus seiner Rippe, oder was?" 

"Ach Quatsch. Daran glaube ich doch nicht", erhielt ich als Antwort. 

"Wie denn dann?" Genervt sah ich zu Che hinüber. Was wollte er jetzt schon wieder hören? 

"Ich kenne eine Schöpfungsgeschichte." 

"Dann erzähl", forderte ich ihn auf. 

"Die Erde hängt eigentlich an Seilen vom Himmel. Wenn sie reißen, stirbt alles auf ihr. Es gibt deshalb eine obere und eine untere Welt, deren Jahreszeiten verschieden sind. Wenn bei uns Winter ist, ist bei denen Sommer und umgekehrt. Die Tiere wohnten anfangs im Paradis. Galunlati nennen wir das. Allerdings vermehrten sie sich zu schnell. Irgendwann war nicht mehr genug Platz für alle. Man sann nach einer Lösung. 

Damals gab es bloß Wasser. Der Enkelsohn des Mutigen, Dayunisi, kam also zum Wasser, tauchte hinab, um zu sehen, was darunter wäre. Er brachte weichen Schlamm mit und formte daraus die Insel, die wir heute als Erde kennen. Aber den Tieren war es zu weich. Sie trauten sich nicht auf die Erde. 

Da flog der Vorfahre aller Bussarde aus und erkundete diese neue Insel. Als er das Land der Cherokee erreichte, hatte er fast keine Kraft mehr. Ständig sank er ab und erhob sich wieder. Dort, wo seine Flügel den Boden berührten, sind heute Täler. Wo er aufstieg, gibt es nun Berge. Die Tiere riefen ihn schnell zurück, da sie fürchteten, er würde die Erde zerstören. 

Als die Tiere nun auf die Erde kamen, war sie kalt und trocken. Also verformte ein Fisch sein Fleisch, doch die Sonne war zu heiß. Deshalb schoben die Tiere die Sonne sieben Mal weg, bis ihre Stelle richtig war. Sie sollte jeden Tag einmal diese Stelle überqueren. Von Osten nach Westen. Und einmal verschwinden. 

So geschah es. Die Tiere, Pflanzen und Menschen kamen alle auf die Erde. Sie beteten sieben Tage und Nächte und wechselten sich dabei ab. Daher erhielten sie das Licht und ihre heutigen einzigartigen Eigenschaften. Diejenigen, die nicht gebetet hatten, mussten seitdem immer jeden Winter ihr Fell verlieren. 

Zuerst gab es als Menschen bloß einen Bruder und eine Schwester. Ihnen wurde geheißen, sich zu vermehren. Und so geschah es. Alle sieben Tage kam ein neuer Mensch dazu. Daher wuchs ihre Anzahl sehr schnell. Deshalb durften die Frauen seit jeher nur noch ein Kind pro Jahr zur Welt bringen. So entstand die Erde und ihre Bewohner wirklich.", beendete Che seine Erzählung, wobei er lachte. "Süße Geschichte, nicht? Die hab ich von meinem Opa. Man erzählt sie sich in unserem Stamm seit Generationen. Selbst in der Zeit, in der es verboten war." 

"Das mit den sieben Tagen und dem riesigen Meer ist lustig", entfuhr es mir völlig in Gedanken versunken. 

"Wieso?" 

"Weil es das irgendwie in voll vielen Schöpfungsmythen gibt. Vor allem das mit der, sagen wir mal, Sintflut ist schon auffällig. Das gibt es überall! Glaubst du, so eine Flut gab es tatsächlich mal?", wollte ich wissen. 

"Wenn alle unabhängig von einander das berichten, wird es schon einen wahren Kern bei der Sache geben. Wer weiß, vielleicht eine unerklärliche Katastrophe der Naturgewalten." 

"Kann schon sein. Ich glaub ehrlich gesagt daran."  Schöpfungsgeschichten waren doch wirklich viel greifbarer als solche naturwissenschaftlich korrekte Lösungen. Mit einem Mal gefiel mir so was. Obwohl ich ein geschworener Atheist war. Gebt euch das!

Die Sterne funkelten mir ins Gesicht. Sehr schön. Ich schloss die Augen. Bloß zum Entspannen. Es roch gerade so gut nach frischer Luft. Am liebsten wäre ich für mein restliches Leben lang wach geblieben. 

Irgendwann musste ich dann wohl doch eingeschlafen sein. Als ich die Augen wieder öffnete, schien mir die Sonne bereits mitten ins Gesicht. Ihre Strahlen hatten mich sanft auf der Haut gekitzelt und schlussendlich geweckt. 

Verschlafen rieb ich mir die Augen. Wie viele Stunden es hier wohl dunkel gewesen war? Wie lange hatte ich wohl geschlafen?

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