[27] Narami ist verschwunden
DIE NACHT HATTE sich über das Herrschaftsgebiet der Löwen gelegt. Tarun und Jagannath haben sehr lange über alles gesprochen, was in den vergangenen Wochen in Deveshs Reich vorgefallen war. Der junge Tiger hatte ihm von dem Fluch erzählt, der das Leben aller Tiere gefährdete. Auch wusste der Löwe schließlich darüber Bescheid, dass die weiße Tigerin als Auslöser für die Epidemie angesehen wurde.
»Und deswegen müssen wir in den Norden reisen, um mit Karma zu sprechen. Er oder sie soll uns helfen können. Ich hoffe, dass Ihr uns Verständnis für unsere Situation entgegenbringen könnt und unser Eindringen entschuldigt.« Tarun verneigte sich tief.
Jagannath baute sich vor dem jungen Tiger auf. Seine imposante Mähne ließ ihn noch größer wirken. »Jetzt, nachdem ich eure ganze Geschichte kenne, ist es mir eine Ehre, euch in meinem Reich willkommen zu heißen, Tarun, Deveshs Sohn.« Nun war es der Löwe, der sich verbeugte. »Bleibt, so lange, wie ihr mögt. Ruht euch aus. Kommt zu Kräften. Wir teilen unsere Beute mit euch und gewähren euch Schutz. Nur eins können wir nicht.« Der König schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Auch wir haben von einem weisen Geschöpf namens Karma gehört. Doch mehr, als ihr wisst, ist uns ebenfalls nicht bekannt. Es tut mir sehr leid, dass mein Rudel in diesem Punkt nicht weiterhelfen kann. Ich wünsche euch bei der Suche viel Erfolg und hoffe, dass die Gerüchte und Legenden sich als wahr erweisen und Karma eine Lösung parat hat. Mir blutet das Herz, wenn ich daran denke, was euer Volk, dein Volk, gerade durchmacht. Du bist der rechtmäßige König, Tarun. Es besteht kein Zweifel, dass du ein gerechter und guter Herrscher sein wirst. Nun leg dich zur ruh. Du wirst all deine Kraft brauchen.«
Trotz seiner Größe und Stärke bewegte sich Jagannath nahezu lautlos durch das Unterholz. Hinter einem Baum konnte Tarun Königin Mahlia sehen, die ihrem Gemahl und König den leicht gesenkten Kopf entgegenstreckte. Jagannath rieb sein Gesicht an das ihre und Seite an Seite schritten sie zu ihrer Schlafstelle.
»Wir mögen verschieden aussehen, aber sie sind nicht anders, als wir«, hörte Tarun Naramis Stimme hinter sich. »Ich bin froh, dass wir den Weg gegangen sind und uns nicht von den Warnungen der Languren haben verängstigen lassen.«
»Da hast du recht, Narami. Nun komm, wir sollten dringend schlafen. So sicher wie in dieser Nacht, waren wir lange nicht und wer weiß, wann wir das wieder sein werden, sobald wir unsere Reise fortgesetzt haben.« Tarun und Narami kuschelten sich unter eine Pappel-Feige und schliefen sofort ein.
Doch nicht jeder in Jagannaths Reich konnte in dieser Nacht Ruhe finden. Vanita und Lokesh sowie zwei weitere halbwüchsige Löwen hatten sich auf einer Lichtung außerhalb des Rudels zusammengefunden. Lupesh war gerade zu ihnen gestoßen und blickte seine Geschwister mit aufgerissenen Augen an.
»Was ist, Lup? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Konntest du hören, worüber dieser Tiger mit Vater gesprochen hat?«, quetschte Vanita den Junglöwen aus. Dieser musste sich zunächst setzen und tief einatmen.
»Hast du die ganze Zeit die Luft angehalten?«, fragte sein Bruder Lokesh ihn. »Bist du irre?«
»Wir sind verloren!«, keuchte Lupesh. »Es war ein großer Fehler, diese Fremden in unser Reich zu lassen.«
»Ja, das war es. Aber so sehen es die Gesetzte unseres Vaters nun mal vor.« Vanita rollte mit den Augen. »Es sind nur ein Haufen Jungtiere, warum sollten wir verloren sein? Wenn die uns angreifen, reißen wir sie schneller in Stücke, als dieser nervige grüne Vogel Piep sagen kann.«
»Sie haben uns bereits angegriffen«, erklärte Lupesh mit gedämpfter Stimme. »Es sind nicht ihre Zähne oder Krallen, die sie dafür brauchen.«
»Red nicht um den heißen Hasen rum und sag endlich, was du gehört hast«, verlor Lokesh weiter die Geduld.
Ein Strauchschmätzer landete auf einem Ast über den jungen Löwen. Der kleine dunkle Vogel mit dem kastanienbraunen Schwänzchen, welches er immer wieder auf und absenkte, ließ Lupesh zusammenschrecken.
»Hey, du! Vogel! Was machst du mitten in der Nacht hier draußen? Geht es dir nicht gut? Bist du krank? Was fehlt dir? Musst du sterben?«
»Lupesh, jetzt ist aber mal gut mit dem Schwachsinn«, fauchte Vanita, woraufhin der Vogel die Flucht ergriff. »Was ist denn in dich gefahren? Du benimmst dich wie der letzte Idiot. Hast du irgendwelche Beeren gefressen?«
»Nein, Vanita. Wir sind alle in großer Gefahr«, setzte Lupesh seine Warnungen fort. »Der Grund, warum Tarun sein Königreich verloren hat, ist seine farblose Begleiterin.«
»Die weiße Tigerin?«, hakte Priya, eine der jüngsten Löwinnen des Rudels nach. »Aber hat er nicht gesagt, dass sein Bruder sich mit Shiva verbündet und den König gestürzt hat?«
»Das ist nur die halbe Wahrheit. Tarun führt uns alle hinters Licht und bringt uns in Gefahr.« Erneut machte Lupesh eine Pause. Den anderen Löwen war die Anspannung deutlich anzumerken. Immer schneller wippten ihre Schwanzspitzen von links nach rechts und zurück. »Die Weiße hat das ganze Königreich verflucht!«, rückte er endlich mit der Sprache raus.
»Verflucht? Wovon sprichst du?« Vanitas trat einen Schritt auf ihren Bruder zu.
Lupesh berichtete seinen Geschwistern von der Krankheit, die in Deveshs Reich ausgebrochen war, und von der Prophezeiung, welche Narami vermeintlich als Schuldige daran auswies.
»Also hat Najuk nur das Richtige getan und das Reich und seine Bewohner gerettet«, schlussfolgerte Lokesh. »Und jetzt wollen diese Bastarde uns alle infizieren und unser Reich einnehmen.«
»Davon ist auszugehen«, gab Vanita ihrem jüngeren Bruder recht. »Warum sonst sollte ein Prinz und Thronfolger in ein anderes Reich eindringen?«
»Aber Vater vertraut ihm«, mischte sich Priya in das Gespräch ein. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Tiere Böses im Sinn haben. Sie sehen so mager und fertig aus.«
»Du bist zu gutherzig, Priya. Du und Isha. Aus euch werden niemals anständige Löwinnen, die in der Lage sind, unser Reich zu verteidigen«, fauchte Vanita ihre jüngeren Schwestern an. Diese senkten daraufhin die Köpfe und behielten ihre Gedanken fortan für sich.
»Wir müssen uns etwas einfallen lassen, um die Eindringlinge loszuwerden«, schlug Lokesh vor.
»Das werden wir, verlasst euch darauf.« Mit einem hinterhältigen Lächeln auf der Schnauze kehrte Vanita zu ihrer Nachtwache zurück.
Am nächsten Morgen erwachte Tarun aus einem langen und erholsamen Schlaf. Er fühlte sich ausgeruht und dennoch waren ihm die Glieder seltsam schwer. Auch plagte ihn ein leichter Schwindel.
»Narami. Narami, bist du schon wach? Wie fühlst du dich? Ich glaube, ich bin so viel Schlaf nicht mehr gewohnt. Der ganze Urwald dreht sich vor meinen Augen. Narami?« Doch die weiße Tigerin gab keine Antwort.
Erst nach und nach fand sich der junge Prinz im Hier und Jetzt wieder. Der Platz zu seiner Linken, auf dem in der Nacht seine Verlobte gelegen hatte, war leer.
»Sicher ist sie bereits auf den Beinen und wollte mich nicht wecken«, dachte Tarun und quälte sich auf alle viere. Er folgte dem Geruch frischen Blutes. Die Löwen waren auf der Jagd. »Sie jagen zusammen. Das scheint sehr effektiv zu sein. Allerdings ist es stets der Rudelführer, der sich als erster satt fressen darf. Diejenigen, die das Tier erlegt haben, müssen warten.« Tarun war sich nicht sicher, ob die Lebensart der fremden Großkatzen etwas für ihn wäre. Damals hatte er gemeinsam mit Narami gejagt. Aber wie würde er sich fühlen, wenn er die ganze Arbeit hätte und am Ende nur die Reste abbekäme?
»Auf diese Weise stellen wir sicher, dass unser König kräftig genug ist, uns vor Gefahren zu beschützen.« Eine ältere Löwin schien Taruns Gedanken über die Lebensweise des Rudels erraten zu haben. »Ich bin Saira. Königin Mahlias Mutter. Du bist sehr mutig, Prinz Tarun. Ich habe noch nie zuvor von einem Tiger gehört, der für das Leben und den Schutz anderer so viel aufgibt und riskiert.«
»Und ich für meinen Teil bin positiv überrascht von der Gastfreundlichkeit der Löwen. Ich kannte Geschichten über euch. Nun kann ich selbst welche erzählen.«
»Lass uns aber ein bisschen was von unserem schlechten Ruf, sonst bekommen wir bald wöchentlich neue Gäste.«
»Das werde ich«, schmunzelte Tarun. »Aber könnt Ihr mir möglicherweise verraten, wo sich Narami, meine Verlobte gerade aufhält. Sie war heute Morgen nicht an meiner Seite.«
»Das tut mir leid. Ich habe sie noch nicht gesehen. Aber die Bärin und der Vogel haben sich dort vorne ein paar Früchte zum Frühstück gesammelt. Vielleicht können sie dir helfen.«
Tarun bedankte sich mit einer leichten Verbeugung bei der Löwin und steuerte seine Freunde Ajala und Cheeky an.
»Guten Morgen ihr zwei! Fühlt ihr euch auch so, als wären die ganze Nacht Elefanten auf euch herumgelaufen?« Tarun streckte sich kräftig, konnte das komische Gefühl in seinen Muskeln aber nicht abschütteln.
»Morgen, Tarun! Nein, mir ging es nie besser. Seit Wochen hatte ich keinen derart erholsamen Schlaf gehabt«, antwortete Ajala, die sich anschließend ein paar Mangos in den Schlund schaufelte. Auch Cheeky sah aus, wie das blühende Leben.
»Und wie geht es Narami? Hat sie zusammen mit den Löwinnen gefrühstückt?«, stellte Tarun die Frage, die ihm am meisten unter den Pfoten brannte.
»Ähm, also wenn du das nicht weißt, Tarun«, antwortete Ajala und kratzte sich an der Stirn. »Ihr seid doch unzertrennlich. Ist Narami denn nicht bei dir?«
»Nein, ist sie nicht!« Allmählich schlich sich ein ungutes Gefühl in Taruns Magengegend. »Ich habe sie seit gestern Nacht nicht mehr gesehen. Hat sie niemandem gesagt, wo sie hingegangen ist?«
»Bleib ganz ruhig, Tarun. Vielleicht ist sie wieder zu der schönen Wasserstelle gegangen, um ihr hübsches Fell zu putzen. Wir sind hier sicher. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr etwas passiert ist.«
Damit sprach Ajala das aus, was Tarun bisher noch nicht einmal gewagt hatte, zu denken. Es sah der weißen Tigerin nicht ähnlich, einfach so zu verschwinden. Aber Ajala hatte recht. Es war noch zu früh, in Panik zu verfallen. Narami hat in den vergangenen Wochen viel Mut und Selbstvertrauen gewonnen. Es wurde Zeit, loszulassen und ihr zu gestatten, auch mal ihre eigenen Wege zu gehen.
Er selbst hatte keine Kraft, weite Strecken zurückzulegen. Noch immer war ihm duselig zumute und Tarun hatte keine Ahnung, was los war. Hatte er sich damals in der Höhle vielleicht schwerer verletzt, als er zunächst annahm? Kamen jetzt, wo er ein bisschen zur Ruhe kommen konnte, die eigentlichen Schäden erst zu Tage? Nun begann sein Herz zu rasen. Nicht auszudenken, was aus seinen Freunden werden würde, wenn er starb. Falls dies geschehen sollte, musste er zuvor unbedingt Narami finden. Doch wo steckte sie nur?
Es war bereits Mittag geworden. Tarun hatte noch immer nichts gegessen. Das komische Gefühl im Bauch war, allen Anscheins nach nicht allein auf die Sorge um Narami zurückzuführen. Er war krank, eindeutig.
»Prinz Tarun, ich hoffe, dass du gut geschlafen hast und dich ausruhen konntest.« Jagannath stand neben dem Tiger und bedachte ihn mit einem milden Lächeln. Unglaublich, wenn man bedenkt, wie aufgebracht er bei ihrem Kennenlernen war. Tarun ahnte, dass diese wilde Seite noch immer in dem Anführer steckte. Seine Sorgen behielt er vorerst für sich.
»Vielen Dank, Eure Majestät. Ich weiß eure Gastfreundlichkeit sehr zu schätzen und hoffe, dass ich mich eines Tages bei euch revanchieren kann.«
»Alles zu seiner Zeit. Obwohl, jetzt wo du es sagst.« Jagannath kniff seine Augen zusammen und blickte sich um. »Ich habe meine Tochter Vanita und ihre Brüder Lokesh und Lupesh heute noch nicht einmal gesehen. Sie sollten längst von ihrer Wache zurückgekehrt sein. Hättest du die Güte, nach ihnen Ausschau zu halten und sie zu mir zu schicken?«
»Mit dem größten Vergnügen.« Tarun erhob sich schneller auf seine vier Pfoten, als es ihm guttat. Dennoch ließ er sich seine Schwäche vor dem fremden König nicht anmerken. Es war ohnehin an der Zeit, endlich nach Narami zu suchen, vielleicht würde er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Der Tiger quälte sich durchs Buschwerk. Muskelschmerzen und Übelkeit machten ihm weiterhin zu schaffen. Doch der Drang, die Liebe seines Lebens wiederzusehen, war stärker als jedes körperliche Leiden. Von den Bäumen beäugten ihn zahlreiche Vögel. Er verstand ihre Sprache nicht, dennoch war sich Tarun sicher, dass seine Anwesenheit im Reich der Löwen jetzt überregional die Runde machen würde.
Zwei Muntjaks sprangen mit großer Eile aus dem Unterholz. Tarun folgte der Richtung, aus der sie kamen und konnte versteckt hinter Bananenbäumen und Sträuchern die spärlichen Mähnen von Lupesh und Lokesh ausmachen.
So schnell es ihm in seinem Zustand möglich war, trabte er zu ihnen. Als er sie erreichte, sollte er eine böse Überraschung erleben.
»Narami? Was haben sie mit dir gemacht?«
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top