[19] Die Schlucht
DIE VIER REISENDEN schlugen weiter ihren Weg durch die Dickichte und gaben dabei aufeinander Acht. Der alte Hanuman wechselte zwischenzeitig immer wieder seine Position auf Taruns Rücken und wurde schließlich von Narami übernommen.
»Ich bekomme sonst wunde Stellen im Pelz«, flüsterte Tarun seiner Freundin zu.
»Nur, dass man solche in meinem hellen Fell sehr viel deutlicher sehen würde, du Möchtegern-Kavalier«, scherzte wiederum die weiße Tigerin.
Cheeky, der freche Halsbandsittich flog indes weiterhin über unsere Freunde hinweg und hielt Ausschau nach möglichen Feinden, Beutetieren oder Unterschlupfmöglichkeiten.
»Der Dschungel wird hier immer dichter. Ich kann kaum noch eine Pfote vor die andere setzen«, bemerkte Tarun nach einer Weile. »Cheeky, kannst du von da oben sehen, ob wir bald offenere Ebene erreichen? Es wird so langsam ganz schön ungemütlich in diesem Dickicht«, rief er dem grünen Vogel zu.
»Keine Sorge, dort hinten kann ich wegsames Gelände erkennen! Es ist nicht mehr weit. Ihr müsst nur über diese Schlucht springen und dann wird es für euch leichter«, antwortete Cheeky und freute sich über seine vermeintlich positive Auskunft.
»Was meinst du mit Schlucht, Cheeky?«, fragte Narami und sie befürchtete nichts Gutes.
»Da ist ein breiter Fluss, der sich durch das Tal schlängelt und der hat einen Graben ins Gestein geschürft. Dahinter ist dann eine Grasebene. Also los, trödelt nicht, meine Freunde!«, antwortete Cheeky und flatterte erneut ganz verzückt umher.
»Tarun, er hat gesagt wir müssen über eine Schlucht. Denkst du wirklich, dass dieser Vogel eine gute Wahl als Begleiter war?«, wandte sich Narami skeptisch an ihren Verlobten.
»Es wird kein besonders breiter und tiefer Abgrund sein, sonst wäre er sich nicht so optimistisch, dass wir da rüberkommen können«, vertraute Tarun seinen gefiederten Freund.
»Da bin ich mir nicht so sicher. Vergiss nicht, dass wir Hanuman dabei haben. Wir können ihn hier nicht zurücklassen.«
»Zurücklassen, Liebes? Was meinst du damit?«, schreckte der betagte Affe schließlich auf und schaute sich aus reiner Gewohnheit mit seinen jedoch blinden Augen in der Gegend um. »Gibt es denn irgendwelche Schwierigkeiten?«
»Nein, Hanuman. Alles in Ordnung. Ich habe alles unter Kontrolle. Krall dich ab jetzt einfach noch etwas fester an Naramis Fell.«
Tarun stolzierte entschlossenen Schrittes voran und trat bereits nach kurzer Zeit aus dem Dickicht heraus und zog erst einmal die frische Luft ein, die ihm nun um die Nase wehte.
»Es ist schön, wieder Sonnenlicht zu sehen und eine frische Brise auf dem Fell zu spüren. Komm, Narami, weiter gehts!«, rief er seiner Freundin zu, die aber nur zögernd aus dem Dickicht kam.
Langsam setzte die Weiße eine Tatze vor die Nächste und schaute mit weit aufgerissenen Augen nach links und nach rechts.
»Ähm, Tarun. Wo ist denn die Stelle, über die wir diese Schlucht überspringen können?«, fragte sie zögerlich.
Erst jetzt begann Tarun, näher an die Schlucht vor ihm heranzutreten und traute seinen Augen kaum. Die von Cheeky angekündigte Schluft war breit – sehr breit. Ebenso war sie tief. Die glatten und steilen Wände mündeten in einen reißenden Strom. Unmöglich, selbst für den fittesten Tiger, dieses Hindernis zu überqueren.
»Cheeky, was soll das? Du hast uns geradewegs in eine Sackgasse geführt. Wir können diese Schlucht nicht überqueren. Das ist unmöglich. Wir müssen einen neuen Weg finden«, sagte Tarun enttäuscht.
»Warum baut ihr euch keine Brücke?«, stellte Cheeky eine Gegenfrage, anstatt sich, wie erwartet einsichtig zu zeigen.
»Eine was? Cheeky, halt uns nicht zum Narren! Es ist gefährlich für uns hier draußen zu sein. Wir haben uns auf dich verlassen«, Tarun ging wieder vom Rand der Schlucht zurück und ließ dabei Kopf und Schwanz gleichermaßen tief hängen.
»Kopf hoch, Tarun, mein Junge. Kein Grund, Trübsal zu blasen. Es gibt niemals nur einen Weg«, gab Hanuman seinen Senf dazu.
»Ich blase kein Trübsal. Nein, ich gehe aufrecht und mit stolzgeschwellter Brust und habe bereits einen Plan. Jawohl!«, behauptete Tarun, der sich die Blöße nicht geben wollte, dass Hanuman seine Enttäuschung auch ohne Augenlicht erkennen konnte.
»Und wie sieht dein Plan aus, oh kluger, stets optimistischer Tarun?«, wollte Narami wissen und stupste ihren Freund mit ihrer rosafarbenen Nase an.
»Na, ganz einfach. Wir bauen eine Bröcke«, verkündete Tarun selbstbewusst.
Daraufhin fingen die drei anderen an, herzhaft zu lachen.
»Was? Der Vogel hat doch gesagt, dass uns eine Bröcke helfen kann«, rümpfte Tarun die Nase und schaute verlegen aus den Augenwinkeln zu seinen Freunden.
»Brücke! Es heißt Brücke!«, korrigierte ihn Cheeky und landete zwischen Taruns Vorderpfoten. »Die Menschen, bei denen ich gelebt habe, haben solche Brücken gebaut. Damit kann man Flüsse, Gräben und auch Schluchten überqueren. Alles was wir dafür brauchen sind ein paar lange und stabile Bäume«, Cheeky unterstrich seine Erklärungen mit einem überzeugten Kopfnicken.
»Bäume? Ja, ähm. Also Bäume sind da hinten im Wald mehr als genug. Wie gehts weiter? Was sollen wir mit den Bäumen anstellen?«, erkundigte sich Tarun nach Cheekys Bauanleitung.
»Ihr müsst sie fällen, aneinanderbinden und über die Schlucht platzieren. Dann könnt ihr bequem drüber laufen. Ganz einfach«, zuckte Cheeky mit den Flügeln.
»Bäume fällen, ganz einfach? Du bist vielleicht 'ne Murmel! Das mögen deine Menschen beherrschen, aber nicht wir. Wie soll ein Tiger einen Baum fällen und eine Brö-, Brücke bauen? Tut mir leid, Cheeky. Ich bin dankbar, dass du uns helfen willst, dennoch fürchte ich, wir müssen doch eine andere Lösung finden«, resignierte Tarun.
»Lasst mich das machen. Bin gleich wieder da!« Cheeky flog geradewegs zurück in den Dschungel, ohne auch nur den leisesten Hinweis darauf zu geben, was er vorhatte.
Narami und Tarun sahen sich fragend an.
»Was hat er denn jetzt vor? Ich hoffe, er holt keine dieser Menschen. Ich weiß nicht warum, aber ich habe ein ungutes Gefühl bei diesen Tieren. Sie verändern ihre Umwelt und bauen komische Sachen, das ist unheimlich irgendwie«, meinte Narami.
»Vielleicht sollten wir die Gelegenheit nutzen und uns heimlich davonschleichen, ehe uns dieser Vogel in Schwierigkeiten bringt«, schlug Tarun vor und war schon halb auf dem Sprung, als sich im dichten Dschungel überraschend etwas bewegte.
»Oh, wow! Tarun! Was ist das? Die Bäume bewegen sich auf einmal. So was habe ich noch nie gesehen!«, rief Narami erstaunt.
»Beschreibt es mir, beschreibt es mir! Ich will es mit meinen geistigen Augen sehen können!«, flehte Hanuman, der bei diesem optischen Spektakel leider wieder leer ausging.
Was die Tiger sahen, hatte den unmöglichen Anschein, als würden die Bäume aus dem Dschungel laufen. Doch nach einer Weile erkannten sie, dass es zwei halbwüchsige Elefantenbullen waren, die die Bäume mit ihren Rüsseln trugen. Ihre kräftigen Schritte ließen Staub auf dem harten und trockenen Boden aufwirbeln und ihr tiefes Grummeln erfüllte die Luft. Über ihnen flatterte ein uns wohlbekannter grüner Vogel und gab selbstbewusst Kommandos.
»Siehst du, du verrückter Vogel? Wir haben dir doch gesagt, dass so ein paar Bäume kein Problem für uns sind. Entschuldigst du dich jetzt bei uns? Sonst holen wir dich vom Himmel und spielen mit dir Ball«, verwarnte einer der Elefanten unserem gefiederten Freund und drohte mit seinem Rüssel in Cheekys Richtung.
»Nein, nein, alles gut, ihr beiden. Ihr seid wahrhaftig die stärksten Elefanten, die ich je gesehen habe. Meinen größten Respekt. Ich habe mich getäuscht, als ich sagte, ihr könnt nicht zwei Bäume auf einmal tragen. Nehmt meine Entschuldigung an.« Cheeky verbeugte sich tief und daraufhin stapften die Jungbullen wieder zurück in den Urwald.
»Da habt ihr eure Bäume«, sagte Cheeky zu seinen Freunden und landete selbstgefällig auf einem davon und fing an, die Rinde zu benagen.
»Erstens wissen wir trotzdem nicht, wie wir diese vier großen Bäume zusammenbinden sollen und zweitens, warum knabberst du ständig an Rinde herum? Das ist widerlich!«, war Tarun noch immer nicht zufrieden.
»Erstens wachsen dort drüben genug Lianen, mit denen ihr die Bäume umwickeln könnt. Benutzt doch einfach mal eure großen Mäuler und tapsigen Tatzen! Zweitens ich bin ein Papagei. Ich nage und knabbere nun einmal. Punkt. Sonst wächst mein Schnabel. Punkt. Außerdem macht es Spaß. Punkt.«
Cheeky drehte sich um und setzte seine Nagearbeit fort, während Tarun sich an Narami und Hanuman wandte.
»Dann lasst uns mal Lianen sammeln und gucken, was dieser überschlaue Vogel uns noch für Anweisungen geben wird. Los, auf gehts.«
Gemeinsam sammelten die Freunde viele besonders lange und stabile Lianen ein und gaben sie Hanuman, der sie mit seinen geschickten kleinen Händen festhielt. Als sie mit einer ansehnlichen Menge an Lianen zurückkehrten, nahm Cheeky ein Ende einer Liane in seinen gebogenen roten Schnabel und flog damit zu dem Bäumen zurück.
»Los, ihr beiden Miezekatzen! Hebt die Bäume ein Stück an, damit ich darunter hindurch fliegen kann«, befahl Cheeky und hüpfte ungeduldig auf der Stelle.
Narami und Tarun taten wie ihnen geheißen und wuchteten jeder zwei der Bäume ein Stück hinauf. Gerade soweit, dass der Sittich mit der Liane im Schnabel darunter hindurch fliegen und auf der anderen Seite wieder herauskommen konnte.
»Jetzt kann uns der blinde Affe seine Dienste erweisen. Seine Hände funktionieren schließlich noch und die sind denen der Menschen verdammt ähnlich. Er muss es irgendwie schaffen, einen Knoten in die beiden Enden zu binden«, erklärte der Grüne, woraufhin Narami den alten Hanuman vorsichtig zu den Bäumen und den Lianen führte.
»Hier sind die zwei Endstücke. Tu einfach das, was dieser Vogel zu dir sagt. Ich hoffe, er weiß, was er tut«, sagte Narami und übergab den hilflosen Primaten in die Obhut des Vogels.
»Lege jetzt das eine Ende über das andere«, fing Cheeky an zu erklären und leitete Hanumans Hände sanft mit den Flügelspitzen an.
Nach einer Weile hatte es der alte Affe tatsächlich geschafft, die Enden der Liane so miteinander zu verbinden, dass sie fest zusammenhielten. Auf diese Weise arbeiteten sich die vier immer weiter den Bäumen entlang, bis diese schließlich alle solide verbunden waren. Das beeindruckte Tarun und Narami und so langsam wurde ihnen klar, was die Funktion einer Brücke war.
»Wahnsinn! Das ist wie ein verlängerter Weg, über den wir gehen können. Auf so was Geniales muss man erst mal kommen. Vielleicht sind diese Menschen doch nicht so dumm, wie ich dachte«, staunte Narami und ging vorsichtig ein paar Schritte über ihre erste selbst gebaute Brücke.
»Schön, schön. Aber wie bekommen wir das Ding jetzt über die Schlucht? Hast du dafür auch einen Masterplan, Herr Neunmalklug?«, wies Tarun die Anwesenden sogleich auf das nächste Problem hin.
»Lasst mich nur machen. Ich finde schon jemanden, der uns hilft. Wartet hier!«, rief Cheeky und flatterte erneut davon in die Tiefen des Dschungels.
»Als ob wir hier wegkommen würden«, grummelte Tarun und legte sich wartend auf den Boden.
Die Freunde warteten an der Schlucht auf die Wiederkehr des grünen Vogels, doch so sehnsüchtig sie auch in den Dschungel starrten, er kam nicht mehr zurück. Die Sonne sank bereits tiefer und viele Vögel begannen ihr Abendlied zu singen. Hanuman fielen die trüben Augen zu und Narami scharrte ungeduldig auf dem staubigen Boden.
»Er hat uns zum Narren gehalten. Der kommt nicht wieder und lacht sich irgendwo schlapp über unsere Blödheit, diesen Schwachsinn mit der Bröcke zu glauben«, fing Tarun an zu fluchen.
»Brücke! Und nein, ich glaube nicht, dass Cheeky uns reingelegt hat. Er mag närrisch sein, aber er hat eine ehrliche Haut, wie ich finde«, legte Narami ein gutes Wort für ihren gefiederten Freund ein.
»Die Haut kannst du doch gar nicht sehen vor lauter Federn«, nuschelte Tarun zurück, sodass Narami ihn kaum verstehen konnte.
»Wir warten noch eine Weile. Ich bin sicher, er kommt wieder«, sagte Narami und legte sich ein wenig aufs Ohr.
Er dämmerte bereits, als die drei Freunde von einem seltsamen Geräusch geweckt wurden. Es klang wie ein Schnauben und Fauchen, das immer näher auf sie zukam. Schnell nahm Tarun den alten Hanuman wieder auf seinen Rücken und dann stellte er sich ganz dicht zu seiner Freundin, die bereits ihr blankes Gebiss preisgab.
Aus den Büschen und Sträuchern flatterte ihnen jedoch zunächst Cheeky entgegen. Ihm folgte allerdings noch eine weitere Bewegung im Dickicht, deren Ursprung anfänglich nicht auszumachen war.
»Cheeky, wen hast du denn jetzt wieder im Schlepptau?«, fragte Tarun und spähte zum Dschungel.
»Nur ein paar Freunde von mir, die ich letztens hier in der Nähe getroffen habe«, antwortete der Sittich und zuckte unbeeindruckt mit den Flügeln.
»Da sogar Typen, wie wir deine Freunde sind, möchte ich nicht wissen, was du sonst noch für Leute kennst«, spekulierte Narami.
In diesem Moment teilte sich die dichte Vegetation in dem Dschungel und etwas großes Graues kam zum Vorschein. Aber es waren nicht erneut die beiden jungen Elefanten, sondern zwei alte Bekannte.
»Das ist die Panzernashorn-Dame, die wir letztens in deinem Reich getroffen haben, als wir von dem Ausflug zum Wasserfall zurückkamen«, tuschelte Narami.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ausgerechnet die beiden uns helfen werden«, verdrehte Tarun die Augen. »Das wars dann wohl.«
»Denen da helfe ich nicht!«, brummte die Nashorn-Kuh und erfüllte damit Taruns Erwartungen.
»Aber ihr habt es versprochen. Ihr wolltet meinen Freunden hilfreich sein.« Cheeky verstand die Welt nicht mehr.
»Wir haben nicht gewusst, dass du diese Schwerverbrecher meintest. Ihretwegen habe ich meine Mutter und mein Zuhause verloren«, schnaufte das Nashorn. »Die Weiße bringt Tod über uns alle. Halte dich von ihr fern. Und der da unternimmt nichts gegen diesen Umstand – der holde Prinz.«
»Tod? Prinz? Was redest du denn da? Ich verstehe kein Wort. Diesen drei wurde ihre Heimat ebenfalls genommen, genau wie uns. Sie sind nicht böse. Tarun, weißt du, wovon sie spricht?«, wollte Cheeky wissen, der kraftlos am Boden hockte.
»Cheeky, es tut mir leid. Wir hätten dir von Anfang an ehrlich zu dir sein müssen. Wir haben unser Zuhause nicht einfach so verloren, wir mussten fliehen«, begann Tarun seine Geschichte zu erzählen.
Nach einer Weile hatte der ehemalige Thronfolger die ganze Angelegenheit geschildert. Von dem uralten Fluch und der überlieferten Prophezeiung, über sein erstes Treffen mit Narami, zum Hochverrat seines jüngeren Bruders bis hin zu ihrer Flucht vor ihm und der alten Shiva. Aber nicht nur der Sittich hörte aufmerksam zu. Auch Frau Panzernashorn kam bei Taruns Erzählungen ins Grübeln.
»Mein Prinz, so hat man mir diese Geschichte nie erzählt. Ihr habt genauso viel verloren, wie wir und tragt keine Schuld daran. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ihr Euch dabei fühlen müsst, und auch Ihr, Lady Narami. Dieser uralte Fluch benutzt Euch nur als Sinnbild und Sündenbock. Das eigentliche Übel geht nicht von Euch aus. Das sehe ich jetzt ein«, gestand die Nashorn-Kuh.
»Es erfüllt mich mit Freude, das zu hören, meine Dame«, bedankte sich Tarun und verfiel zum ersten Mal wieder in seinen royalen Tonfall.
»Also steht unsere ehemalige Heimat fortan unter den Fittichen deines verräterischen Bruders, der seinen eigenen Vater ermordet und seine Mutter eingesperrt hat? Es scheint mir, als sei er das eigentliche Übel und vermutlich war es, in Hinblick dessen, am Ende doch ganz gut, dass wir das Reich verlassen haben. Ich möchte nicht unter solch einem König leben. Devesh war uns immer ein guter und gerechter Herrscher gewesen. Es tut mir leid, dass ich voreilig über Euch geurteilt habe, mein Prinz, meine Lady.« Das Nashorn verbeugte sich tief vor Tarun und Narami.
»Da brat mir doch einer einen Storch! Ich bin mit einem waschechten Prinzen befreundet«, staunte Cheeky und bekam seinen Schnabel nicht mehr zu.
»Ich war ein Prinz. Das ist Vergangenheit, Cheeky. Lass uns das vergessen. Ich habe mein Königreich verlassen, um ein neues Leben zu beginnen, als ein ganz normaler Tiger. Ich möchte lediglich Ruhe und meinen Frieden und irgendwann meine eigene Familie mit Narami gründen. Ich hoffe aus tiefstem Herzen, dass auch die anderen Tiere in Najuks Königreich seinem Schrecken entfliehen können. Im Moment kann ich ihnen nicht helfen«, stellte Tarun noch einmal klar.
»Vielleicht kannst du das eines Tages. Ich erkenne viel von deinem Vater in dir. Geh jetzt und suche dein Glück in der Ferne. Aber vergiss niemals, wo du herkommst, Tarun. Ich wünsche dir Glück und Erfolg auf deinem Weg und auch deiner wunderschönen Frau«, drückte die Nashorn-Dame ihr Vertrauen aus. »Wie konnte ich nur glauben, dass sie Böses über uns brachte?«
»Ich danke Ihnen vielmals. Wollen sie uns nicht auf unserem Weg begleiten? Für den Kleinen bietet die Welt da draußen sicher viele Möglichkeiten«, fragte Tarun und schaute auf das Nashorn-Kalb, welches schüchtern zu ihm aufblickte.
»Das ist eine liebe Geste, aber ich habe mich in dieser Gegend bereits häuslich eingerichtet. Hier leben mehrere Dickhäuter und nur wenige Raubtiere. Wir bleiben hier. Hier wird mein Sohn zu einem stattlichen Bullen heranwachsen können. Außerdem können wir diesen Abgrund unmöglich überqueren«, sprach das Nashorn endlich das eigentliche Problem wieder an.
»Ihr müsst uns bloß helfen, diese Brücke über die Schlucht zu wuchten«, mischte sich Cheeky ein.
»Und wie sollen wir das bewältigen?«
»Hebt die Bäume an und die Tiger stützen sie von hinten. Dann müssen wir es schaffen, die Brücke bis zum Rand der Schlucht zu schieben. Folgend platzieren wir sie so, dass das andere Ende der Brücke auf der gegenüberliegenden Seite aufkommt. Anschließend könnt ihr drüber gehen«, erklärte Cheeky und flog zur Demonstration seines Plans zu anderen Seite rüber.
Ungläubigen Blicken folgten schließlich Taten. Das mächtige Panzernashorn wuchtete sein langes Horn unter die Brücke und begann, diese anzuheben. Auch Mini-Hörnchen half nach seinen Kräften und Möglichkeiten mit. Auf der Rückseite der Brücke standen Narami und Tarun und passten auf, dass die zusammengebundenen Bäume nicht umkippen. Gemeinsam schoben sie das nahezu aufrechtstehende Baumbündel langsam und behutsam zum Rand der Schlucht. Cheeky saß wie ein General oben auf der Brücke und kommandierte das ganze Unterfangen rechthaberisch. Hanuman feuerte seine Freunde aus sicherer Entfernung an, obwohl er nicht sehen konnte, was gerade geschah.
Nach einer Weile hatten die Nashörner und Tiger die Brücke so positioniert, dass Cheeky das Zeichen geben konnte, sie langsam loszulassen, damit sie die Schlucht überführen konnte.
»Uuuund – jetzt!«, rief der Vogel und die Nashörner sprangen zur Seite und daraufhin fiel die Brücke wieder nach vorn und kam auf der anderen Seite der Kluft auf.
Der Weg war bereitet.
»Cheeky, du bist ein Genie! Ohne deine verrückten Ideen würden wir hier festsitzen. Vielen, vielen Danke!«, war Tarun ganz aus dem Häuschen und hüpfte wie ein kleines Reh auf und ab.
»Aber vorher noch zweifeln«, antwortete Cheeky gespielt schnippisch. »Ich möchte, dass man in Zukunft nicht mehr alles hinterfragt, was ich kluger Vogel vorschlage.«
»Es tut mir leid, ich hätte dir von Anfang an vertrauen sollen. Ab sofort werde ich keine Vorbehalte mehr haben, Cheeky«, versprach Tarun.
»Ich werde dich an dein Versprechen erinnern«, flüsterte ihm Narami zu, die ihren Freund inzwischen gut genug kannte, um zu wissen, dass er seine hehren Worte schnell wieder vergaß, wenn es das nächste Problem zu bewältigen gab.
Zu guter Letzt verabschiedeten und bedankten sich die Freunde auch von den Panzernashörnern und wünschten ihnen alles Gute für die Zukunft.
»Mach's gut, Prinz Tarun. Vielleicht auf ein Wiedersehen«, sagte die Dickhäuterin.
Tarun schulterte den alten Hanuman wieder auf und endlich wagten sie sich, vorsichtig über die selbst gebaute Brücke zu gehen.
»Schau nicht nach unten, Narami!«, schlug Tarun seiner Freundin mit zitternder Stimme vor.
»Warum nicht? Ist doch ein schöner Anblick«, erwiderte die Weiße und schlich leichtfüßig mit erhobenem Kopf an ihrem Freund vorbei, der mit eingezogenem Schwanz auf halber Strecke stehen blieb und die Augen zusammenkniff.
Das wollte Tarun, der ehemalige Abenteurer natürlich nicht auf sich sitzen lassen und nahm allen Mut zusammen, streckte Kopf und Schwanz in die Höhe und stolzierte weiter Richtung anderes Ufer. Jedoch ließ ihn ein vorübergehendes Wackeln der Brücke ganz schön zusammenschrecken. Er kreischte kurz auf und hechtete dann mit einem großen Satz auf die andere Seite. Zitternd blieb er dort stehen und schnappte nach Luft.
Der alte Hanuman strahlte bis über beide Ohren.
»Hui, so viel Spaß hätte ich auf meine alten Tage nicht mehr erwartet!«, rief er und wirbelte seine kleine Faust in der Luft herum.
»Ich denke, für Tarun reicht es so langsam mit den Abenteuern«, kicherte Narami.
»Gar nicht war! Ich wollte nur besonders vorsichtig sein, um Hanuman nicht in Gefahr zu bringen«, behauptete Tarun und daraufhin fingen alle vier Freunde an zu lachen.
Schließlich winkten sie den beiden Nashörnern auf der anderen Seite der Schlucht noch einmal zu, bevor diese zurück in den dichten Urwald verschwanden und setzten dann ihre Reise fort.
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