[16] Der König ist tot. Lang lebe der König

NAJUK LIESS SICH nicht aufhalten und startete erneut einen Angriff auf Narami. Tarun stürzte sich mutig dazwischen und kassierte von seinem eigenen Bruder einen Schlag ins Gesicht, woraufhin er mit einer blutenden Wunde am Auge bewusstlos zusammenbrach.

»Tarun! Was hast du mit ihm gemacht, du Bastard?«, fauchte Narami und beugte sich über ihren Freund.

»Wer nicht hören will, muss fühlen, meine Liebe. Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie mein egoistischer Bruder schwachsinnig geworden herumturtelt und damit das Ende unseres Volkes in Kauf nimmt. Jetzt bist du dran!« Najuk trat einen weiteren Schritt auf Narami zu, welche ihn vergebens versuchte, mit ihrer Pfote abzuwehren.

Die weiße Tigerin hatte in ihrem bisherigen Leben nicht genug Erfahrungen im Zweikampf mit einem Artgenossen sammeln können und schien ihrem Angreifer unterlegen zu sein. Najuks Augen waren rot unterlaufen und man konnte jeden seiner angespannten Muskeln unter seinem Fell erkennen. Narami legte sich auf den Rücken, um ihrem Gegner den schutzlosen Bauch zu offenbaren. Doch Najuk ließ sich von dieser beschwichtigenden Geste nicht beeindrucken und fletschte seine scharfen Zähne, um sie der weißen Tigerin mit einem gezielten Biss in die Kehle zu rammen. Aber König Devesh war es, der seinen Sohn in letzter Minute daran hindern konnte, dem Mädchen das Leben zu nehmen.

Najuk ließ von der Tigerin ab und kämpfte stattdessen gegen seinen eigenen Vater und keiner von beiden war bereit, nachzugeben. Devesh war zutiefst enttäuscht vom Verhalten seines Sohnes, der ihm und allen anderen jahrelang etwas vorgespielt hatte, nur um in der Thronfolge an die Stelle seines Bruders zu rücken. Jetzt offenbarte der jüngste Prinz sein wahres, rücksichtsloses Gesicht.

»Es kann nur einen Gewinner geben, nur einen König!« Najuk schien so sehr von seinen Plänen besessen zu sein, sich als Retter im Kampf gegen die mysteriöse Krankheit hervorzutun, dass er nicht davor zurückschreckte, seinen eigenen Vater schwer zu verletzen. Mit einer klaffenden Wunde an der Flanke brach Devesh schließlich keuchend zusammen.

»Najuk, bitte hör auf! Er ist dein Vater. Dein König«, flehte Veda, seine Mutter, aber Najuk warf ihr nur ein verachtendes Lachen zu.

»Der König ist tot, lang lebe der König«, fauchte der Verräter und holte anschließend zum letzten Schlag aus.

Najuks mächtigen Fangzähne bohrten sich in den Hals seines Vaters, welcher kurz darauf tot zusammenbrach.

»Devesh! Nein! Was hast du getan, Najuk? Mein Junge, das bist doch nicht du«, klagte Veda unter Tränen und lief zu dem leblosen Körper ihres Gemahls.

»Du hast recht Mutter. Das bin nicht ich gewesen, den du kanntest. Ich habe euch allen etwas vorgespielt, um eines Tages meinen Machtanspruch stellen zu können. Dieser Tag ist heute. Ich bin jetzt der König«, triumphierte Najuk und kletterte auf den größten Felsen der Runde, auf dem sonst König Devesh gesessen hatte, um Gericht unter den Tieren zu halten.

»Du bist besessen, Najuk. Dein Bruder ist König, nicht du. Du bist nichts weiter als ein Mörder!« Veda ließ ihren jüngsten Sohn mit einem markerschütternden Brüllen wissen, was sie von ihm hielt.

In diesem Moment kam Tarun langsam wieder zu sich. Er konnte seinen Augen nicht trauen, als es sah, was in der Zeit seiner Ohnmacht geschehen war.

»Vater, was ist passiert?«, fragte Tarun noch etwas benommen, als er sich zu dem Körper des einst zu kräftigen Tigers schleppte.

»Dein Vater ist tot, Tarun. Najuk hat ihn getötet«, antwortete die Königin verbittert.

Tarun betrachtete seinen Vater traurig. Er versuchte, seine Wunden trocken zu lecken und stupste ihn immer wieder an.

»Vater, bitte. Steh auf! Du kannst nicht fort sein. Ich habe noch so viele Fragen an dich. Du wirst gebraucht, hörst du? Du bist der König. Du bist mein Vater und irgendwann wirst du der Großvater unserer Kinder sein. Los, steh auf. Ich bitte dich, Vater.«

Aber der König stand nicht auf. Seine bernsteinfarbenen Augen starrten ins Leere und aus seiner offenen Wunde floss unablässig Blut. Najuk, lag auf dem Felsen und beobachtete seine trauernde Familie mit ausdruckslosem Blick.

In diesem Augenblick kam eine kleine Gruppe Rhesusaffen vorbei und sahen, wie Tarun mit blutverschmierter Schnauze neben dem leblosen Körper des Königs hockte und kamen daraufhin neugierig näher.

»Der König ist tot! Prinz Tarun hat ihn umgebracht!«, rief der jüngste der Affen und alle anderen stimmten sogleich in diesen Irrtum ein.

»Nein, nein! Ihr irrt euch. Ich habe meinen Vater nicht umgebracht!«, versuchte Tarun den Fehler aufzuklären, aber in diesem Moment begannen bereits die ersten Vögel die Meldung im Dschungel zu verbreiten.

Es war nicht mehr aufzuhalten. Wenn die geschwätzigen Vögel erst einmal los zwitscherten, erreichten Nachrichten in Windeseile jeden Winkel des Waldes und schon bald würde jedes Tier wissen, was geschehen war, ohne die Wahrheit zu kennen.

»Ja, verbreitet nur die Kunde von Tarun, dem Königsmörder! Jeder soll es wissen. Prinz Tarun hat nicht nur einen schrecklichen Fluch über sein Volk gebracht, sondern auch den König, seinen eigenen Vater ermordet, um sich die Herrschaft früher als geplant unter die Kralle zu reißen. Tarun, der Tyrann! Tarun, der Unheilvolle. So soll man ihn künftig nennen!«, rief Najuk gespielt schwermütig in den Dschungel hinaus und auch diese Worte wurden sofort von Vögeln und Affen weitergetragen.

Bald schon würden die ersten Tiere eintreffen, um sich selbst ein Bild von diesem Drama zu machen und Tarun aus dem Dschungel zu vertreiben.

»Najuk, hör bitte auf, diese Lügen zu verbreiten. Du warst es. Du bist der Vatermörder. Der Königsmörder!«, redete Veda ihrem Sohn abermals ins Gewissen.

»Das sagst du, Mutter. Dir wird man nicht glauben. Tarun war immer dein Lieblingssohn. Jeder im Dschungel weiß das. Klar, dass du lieber mir die Schuld zuschiebst, um ihn zu schützen. Dieser weißen Teufelin wird man genauso wenig glauben. Ich schätze, damit ist es dann amtlich. Ich bin der neue König. Ich, König Najuk!«, verkündete Najuk stolz und ließ mit einem Brüllen deutlich werden, dass er keinen Widerspruch duldete.

»Der alte Hanuman war auch hier. Er hat mitbekommen, was wirklich geschehen ist«, fauchte Tarun seinen Bruder an.

»So, hat er das? Blind und nahezu taub wie er ist. Fragen wir ihn doch«, entgegnete Najuk weiterhin selbstbewusst, sprang vom Felsen herab und kam auf den Languren zu.

»Hanuman, was habt Ihr mitbekommen, von dem, was in den vergangenen Minuten geschehen ist?«, richtete Veda ihre Frage an den Alten.

»Hanuman ist Zeuge, dass Prinz Tarun seinen eigenen Vater getötet hat, um seine todbringende Freundin zu beschützen und den Thron des Dschungels zu erobern!«, ehe der Blinde selbst antworten konnte, antwortete einer von Hanumans Begleitern.

Najuk grinste diesen merkwürdig an und nickte ihm zu.

»Du hast ihn erpresst? Diese Affen arbeiten für dich?«, schlussfolgerte Veda und konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten.

»Was, was ist hier los? Ich höre nur noch Bruchstücke. Bitte redet deutlicher zu mir!«, beklagte sich der alte Hanuman und bewies damit, dass er in Wahrheit keine Ahnung hatte, was eben geschehen war.

»Tarun hat den König getötet und ist schuld an der Krankheit!«, gab ihm einer seiner Begleiter zur Antwort und flüsterte sie ihm dieses Mal nicht wie sonst ins Ohr, sondern verkündete die Worte laut und deutlich, sodass sie jedes Tier im näheren Umkreis hören konnte.

Schon war ein weiterer Trupp Vögel auf dem Weg und auch zwei Rote Pandas verließen fluchtartig den Ort, als sie von Taruns angeblicher Schreckenstat hörten.

Hanumans Begleiter stellten sich selbstherrlich an Najuks Seite. »Eure Majestät«, sagte einer von ihnen und dann beugten sie vor Najuk die Knie.

»Jetzt liegt die Entscheidung bei mir, was wir mit dir machen, Schätzchen«, wendete Najuk das Wort wieder an Narami. »Ich bin mir sicher, die Tiere werden mich dafür lieben, dass ich sie vor dieser schrecklichen Krankheit befreit habe.«

»Lauft, ihr beiden! Flieht von hier und kommt niemals wieder, sonst tötet er euch!«, rief Veda und wollte ebenfalls geradewegs die Flucht antreten.

»Schön hiergeblieben, Mutterherz. Du wirst doch deinen lieben Sohn und König nicht verlassen wollen?«, stellte sich Najuk ihr in den Weg.

»Du wirst niemals mein König sein und als Sohn bist du für mich gestorben!«, rief Veda und wendete sich von Najuk ab.

»Ich hab das unter Kontrolle«, ertönte plötzlich die Stimme der alten Shiva, die sich bedrohlich vor Veda aufbaute und die Mutterkönigin an der Flucht hinderte.

»Du hast dich mit Shiva verbündet? Wie kannst du deine eigene Familie derart verraten?«

Veda wurde von Shiva immer weiter zurückgedrängt. Najuk plante offenbar, seine Mutter in die sogenannte Schuldhöhle zu sperren, in welche sonst nur Tiere des Dschungels landeten, die vom König für ein begangenes Verbrechen verurteilt wurden.

»Was ist hier los? Bitte helft mir!«, rief der hilflose Hanuman, um den sich in diesem Chaos niemand mehr gekümmert hatte.

»Halt dich an meinem Fell fest, Hanuman«, bot Tarun seine Hilfe an, bevor er zusammen mit Narami die Flucht antrat.

»Bleibt gefälligst stehen und stellt euch eurer Verantwortung!«, rief Najuk seinem Bruder und dessen Freundin nach, aber sie waren bereits zu weit weg, um ihn noch hören zu können.

»Sagt allen Tieren des Dschungels, dass mein Bruder und die weiße Tigerin als vogelfrei gelten. Wer sie findet, kann sie nach seinem eigenen Gutdünken bestrafen«, befahl Najuk den beiden Languren, der Elefantin Shiva sowie drei gerade eintreffenden Streifenhyänen, mit denen er offenbar ebenfalls Geschäfte machte.

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Mehr über das Leben der grimmigen Shiva könnt ihr in meinem Buch »SHIVA - das Leben eines Elefanten« erfahren.

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