[15] Najuks Verrat
»DA SIND SIE«, sagte Veda mit ernster aber gefasster Stimme zu ihrem Gemahl, als sie ihren Sohn und dessen Verlobte auf sie zukommen sah. »Sie sehen aus, als ob sie schon etwas gehört hätten. Narami tut mir unendlich leid. Sie hat das nicht verdient.«
»Nein, das hat sie nicht. Aber unser Volk hat diese furchtbare Krankheit genauso wenig verdient. Vielleicht finden wir eine andere Lösung. Ihr Tod kann nicht die einzige Möglichkeit sein«, offenbarte König Devesh seinen Wunsch, der weißen Tiger nicht ihr Leben nehmen zu müssen.
»Vater, du wolltest mit mir sprechen?«, begann Tarun sofort das Gespräch, nachdem er seine Eltern erreicht hatte. Auch er erkannte in ihren angespannten Gesichtern, dass es wenig Sinn machen würde, lange um den heißen Brei herumzureden.
»Kommt mit, ihr beiden. Lasst uns irgendwohin gehen, wo uns keine unerwünschten Ohren belauschen können«, schlug der König vor und ging voran in eine Art Felsring, der unweit der königlichen Residenz lag und oft als Gerichtsplatz diente.
Die vier Tiger setzten sich innerhalb des steinernen Platzes und kurze Zeit später trafen auch drei Languren ein. Der alte Hanuman und seine beiden Begleiter.
»Was ist los in unserem Reich, Vater? Mutter?«, begann Tarun seine Frage zu stellen, noch ehe der König die Runde offiziell für eröffnet erklärt hatte.
»Geduld, mein Sohn. Darum sind wir hier. Ich werde gleich alle Karten offenlegen«, versuchte Devesh seinen Sohn zu beruhigen, doch dieser blieb ungeduldig.
»Wir wurden auf dem Weg hierher mit Stöcken und Zweigen beworfen. Ein Nashorn machte meine Verlobte für die Krankheit verantwortlich, die derzeit hierzulande grassiert und sogar mein eigener Bruder macht Andeutungen, die mir nicht gefallen. Suchen die Tiere jetzt aus Verzweiflung einen Schuldigen und da kommt ihnen Narami mit ihrem weißen Fell gerade ganz gelegen?«
»Tarun, hör mir zu!«, ermahnte Devesh seinen Sohn forsch zur Vernunft. »Wir haben es momentan leider nicht nur mit ein paar Gerüchten und Vermutungen zu tun. Es ist etwas an die Öffentlichkeit gelangt, das unsere Familie seit Generationen geheim gehalten hat«, begann der König zu erklären.
»Der Fluch von dem Najuk sprach? Liegt über unsere Familie etwa wirklich ein Fluch?«, fragte Tarun und schaute seine Eltern abwechselnd an. »Ihr wollt mir doch jetzt kein Märchen erzählen.«
»Leider ist dem so, mein Sohn. Der Fluch der Nagas ist kein Märchen«, begann der König zu erklären. »Unsere Familie wurde vor vielen Jahren von einer Gruppe Schlangen, die Nagas, verflucht. Dieser Fluch wurde durch einen dreizeiligen Vers überliefert, der sogenannten Prophezeiung. Doch niemand konnte je sagen, was genau damit gemeint ist, sodass wir bislang nichts tun konnten, um die Wirkung des Fluchs vorsorglich zu verhindern.«
Devesh erzählte seinem Sohn und Narami alles, was er selbst über den Fluch der Nagas wusste und auch, was Narami damit zu tun hatte.
»Mit Schön und fahl wie der Mond, bringt Verhängnis und Tod soll Narami gemeint sein? Das ist doch völlig am Fell herbeigezogen!«, rief Tarun und wendete sich wütend von seinen Eltern ab.
»Wir verstehen, was du darüber denkst und auch wir sind nicht davon überzeugt, dass es zwischen diesen alten Zeilen, deiner Freundin und der Krankheit einen Zusammenhang gibt«, versuchte Devesh seinen Sohn zu beschwichtigen. »Aber die Tiere, die noch Wissen darüber hatten, sehen das leider anders. Sie haben Narami und den Fluch schnell als Ursache ausgemacht und bedauerlicherweise auch nicht vermieden, diesen Verdacht in Umlauf zu bringen. Eine, die ganz vorne mitspielte in der Gerüchteküche, war die Padma, die Kobra, die schon lange bekannt dafür ist, Unruhe unter den Tieren zu verbreiten, aber auch die alte Shiva kam gestern zu mir und ...«
»Padma hatte mich auch angesprochen, am Tag als ich mit Narami nach Hause kam. Sie sprach undeutlich und in Rätseln, allerdings schien sie bereits von Narami gewusst zu haben und auch, dass ich von ihr träumte in der Nacht, in der ich sie zum ersten Mal sah«, unterbrach Tarun seinen Vater.
»Du hast von mir geträumt? Das hast du mir nie erzählt, Tarun«, wunderte sich Narami über Taruns Aussage.
»Ich hielt es nicht für wichtig und zu absurd, um es jemandem zu sagen«, antwortete Tarun verlegen.
»Hast du deswegen gedacht, ich sei ein Geist?«, neckte Narami ihren Freund.
»Ich habe nie gedacht, dass du ein Geist wärst. Ehrlich!«, beteuerte Tarun, doch Narami wusste, dass es ihm bis heute peinlich war, welche Angst er zu Beginn vor ihr gehabt hatte.
»Nun, Padma kam am Abend eurer Rückkehr auch zu mir und warnte mich. Ich muss euch leider gestehen, dass die kursierenden Gerüchte nicht überraschend für mich sind«, fuhr der König fort. »Dennoch glaube ich nicht daran. Ich will nicht daran glauben. Das Problem ist, dass es die Tiere nicht interessiert, was ich glaube oder nicht. Sie verlangen von mir als ihren König, dass ich etwas gegen diese Seuche unternehme, die ein Todesopfer nach dem andern fordert.« Devesh stoppte nach dem letzten Satz, denn es fiel ihm schwer, seinem Sohn und der weißen Tigerin zu sagen, welche Tat das Volk von ihm verlangte.
»Eine Flucht ohne Wiederkehr, der König bleibet hehr. Ich verstehe«, sagte Narami stattdessen.
»Du verstehst was, mein Kind?«, fragte Veda und schaute die Weiße verwundert an.
»Man wollte mich noch nie irgendwo haben. Wie konnte ich also denken, dass es hier anders sein könnte? Ich werde gehen. Ich verlasse dieses Reich und mit mir wird der Fluch und die damit verbundene Krankheit gehen. Die Tiere können aufatmen«, sagte Narami entschlossen und stand auf.
Tarun rutschte das Herz in die Pfoten, als er die Worte seiner zukünftigen Frau hörte.
»Du willst gehen? Du willst mich verlassen? Narami, das kannst du nicht tun!«, flehte er sie an.
»Es ist die einzige Möglichkeit. Eine Flucht ohne Wiederkehr. Um der Prophezeiung gerecht zu werden, muss ich dieses Königreich verlassen. Der König bleibet hehr. Dein Vater und du behaltet die Gunst eures Volkes und könnt weiter regieren. Mit einer anderen Königin an deiner Seite - irgendwann. Ich bin sicher, du findest eine.«
Narami senkte den Kopf und verdrückte eine Träne.
»Aber ich liebe dich, Narami. Nur dich. Ich werde niemals eine andere Königin haben können«, protestierte Tarun.
»Der Familie junge Triebe, verdammt durch ewige Liebe, Tarun. Du musst loslassen, sonst bist du verloren. Uns bleibt keine andere Möglichkeit«, erinnerte Narami ihren Prinzen an die erste Zeile der Prophezeiung.
»Das Mädchen spricht weise Worte, Eure Majestäten«, meldete sich endlich der alte Hanuman zu Wort, der eine Muschel zur Verstärkung der Geräusche an sein Ohr hielt.
»Für wahr, aus dieser Sicht hatten wir das noch nicht betrachtet, zumal ..., obwohl ... Padma sprach davon ...« König Devesh begann zu stottern.
»Dass die Weiße sterben muss, Vater. Sag es ruhig. Vergeude nicht mehr Zeit als nötig«, erhob Najuk das Wort, der hinter einer Palme hervortrat und ein finsteres Funkeln in seinen Augen hatte.
»Was?! Vater, sag, dass das nicht wahr ist. Sag mir, dass Narami nicht sterben muss, um diesen Fluch zu brechen«, flehte Tarun seinen Vater an.
»Das ist das, was Padma mir geraten hat und leider auch das, was unser Volk von mir verlangt. Wenn uns nichts anderes einfällt und die Krankheit nicht endet, werden die Tiere Selbstjustiz üben. Narami ist hier nicht sicher, egal was ich für das Richtige erachte«, gestand Devesh.
»Dann lass es uns hinter uns bringen, Vater. Reden allein hat noch keine Probleme gelöst«, fauchte Najuk und machte einen Satz auf Narami zu.
»Du wirst sie nicht anrühren, Bruder!«, brüllte Tarun und stellte sich schützend vor seine Verlobte.
»Wenn du deine eigenen Bedürfnisse über das Wohlergehen deines zukünftigen Volkes stellst, bist du als König nicht tragbar, Tarun«, fauchte Najuk und fuhr seine Krallen aus. »Das warst du noch nie, wenn wir ehrlich sind. Während du andauernd deinem eigenen Sturkopf gefolgt bist und dich über jede Anweisung unserer Eltern hinweggesetzt hast, war ich stets der Vernünftigere von uns beiden und dem Königspaar treu ergeben. Wie oft hast du gesagt, du willst die Krone des Dschungels nicht erben? Dann triffst du diese holde Maid und schon spielst du den großmütigen und edlen Herrscher? Das ist doch lächerlich«, tönte der Prinz.
»Najuk, Schluss jetzt! Das ist nicht der richtige Augenblick, um solche Streitigkeiten auszudiskutieren. Du standst als Thronfolger nie zur Debatte. Tarun hat niemals öffentlich auf seinen Anspruch verzichtet und ich war auch mal jung und kenne diese Wankelmütigkeit«, versuchte Devesh seinen jüngeren Sohn zur Ordnung zu rufen.
»Dann seid ihr beide als Könige nicht geeignet, Vater. In dieser Situation darf man nicht launenhaft sein, sondern entschlossen handeln«, widersprach Najuk seinem Vater erneut.
»Najuk, hab etwas mehr Respekt vor deinem Vater. Was ist denn nur los mit dir?«, wunderte sich Veda über ihren sonst so fügsamen Sohn.
»Jahrelang war ich euch zu belieben, von diesem Tag an ist Schluss mit dem Theater. Es ist Zeit, das Richtige zu tun.« Najuk schaute Narami erneut bedrohlich an und kratzte mit seinen Krallen auf dem steinigen Boden, was ein unangenehmes Geräusch verursachte.
»Verschwinde jetzt, Najuk. Sofort!«, rief Devesh seinem Sohn zu und stellte sich zusammen mit Tarun vor Narami.
»Ihr seid euch so ähnlich, Vater und du. Bei so viel Schwäche ist es kein Wunder, dass der Fluch in eurer Regierungszeit ausbricht. Jeder Tiger, der bei Verstand ist, hätte diese Abnormität nicht über die Grenzen seines Landes gelassen«, beharrte Najuk auf seine Meinung und deutete mit einer Schwanzbewegung auf die weiße Tigerin.
»Hört auf zu streiten, ich gehe. Ich verlasse dieses Reich, so schnell ich kann. Es war ein Fehler hierher zu kommen. Es tut mir leid«, sagte Narami und rannte davon, ohne sich umzudrehen.
»Narami, nein! Bleib stehen!«, rief Tarun ihr nach und wollte seiner Freundin folgen.
»Wenn du es nicht kannst, werde ich tun, was nötig ist«, knurrte Najuk und nahm ebenfalls die Verfolgung der Weißen auf.
Dann überschlugen sich die Ereignisse.
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