[13] Das Monster im Wasser

FERNAB ALLER SORGEN und Nöte, die diese unbekannte Krankheit verbreitete, verbrachten Narami und Tarun einen gemeinsamen Tag im Dschungel. Die beiden jungen Katzen wollten so viel freie Zeit nutzen, wie es ihnen möglich war. Wenn in drei Vollmonden erst ihre Hochzeit stattgefunden hatte, würde Taruns Ausbildung zum König beginnen. Dann wird er Pflichten zu erfüllen haben, dass ihnen kaum noch Gelegenheiten für derartige Abenteuer bleiben werden. Der Prinz hatte sich nach langem Überlegen dazu entschlossen, das Amt zu übernehmen, welches ihm seit seiner Geburt zustand, obwohl er sich selbst zeitlebens nicht in dieser Rolle gesehen hatte. Zahlreiche Tiere waren in den vergangenen Wochen zu ihm gekommen und hatten ihm ihr Vertrauen ausgesprochen. Er konnte sie nicht enttäuschen, die Tiere und vor allem nicht Narami. Sie hatte mehrmals betont, dass sie sich keinen besseren König vorstellen konnte als ihn.

Doch sie beide wussten, dass sie einen Großteil ihrer Freiheit und Unbeschwertheit aufgeben mussten, sobald sie Herrscher und Herrscherin über den Dschungel sein würden. Weder Narami, noch dem abenteuerlustigen Tarun gefiel dieser Gedanke. Doch sie waren es den Tieren schuldig. Als Paar standen sie für Aufopferung und Toleranz und davon wollten ihre Untertanen profitieren. Die ersten Tiere, die wegen einer äußerlichen Besonderheit von ihresgleichen verstoßen wurden, hatten bereits im Königreich um Asyl gebeten und Tarun setzte sich bei seinem Vater dafür ein, ihnen diese Gunst zu gewähren.

Aber bis er selbst endgültig auf dem Thron des Dschungels Platz nehmen würde, wollte Tarun sein Leben noch etwas genießen. Vor drei Tagen schnappte er sich seine Narami und entführte sie auf eine ausgedehnte Wanderschaft durch seines Vaters Land.

»Ich hätte nie gedacht, dass dein Königreich so weitläufig ist. Und auch so schön«, staunte die Weiße und ließ ihre aufgerissenen fahlblauen Augen in der Umgebung hin und her schweifen. »Hier wären so viele Verstecke gewesen, die bedeutend besser sind, als meine dunkle Höhle.«

»Du musst dich niemals wieder irgendwo verstecken, Narami. Dafür werde ich sorgen, solange ich lebe«, versprach Tarun seiner Schönsten mit entschlossenem Blick.

Narami schmiegte ihren geschmeidigen Körper an den muskulösen von Tarun, während über ihnen die Vögel ihre Liebeslieder sangen. Allerdings mischten sich auch Worte der Missgunst unter den Gesängen. Davon bekamen die beiden verliebten Tiger jedoch nichts mit, zu sehr hatten sie all ihre Sinne einzig und allein aufeinander konzentriert.

Als sie ihren Weg fortsetzten und leichtfüßig wie auf Wolken durch den dichten Dschungel wandelten, blieb Narami unerwartet stehen und bewegte ihre Ohren in unterschiedliche Richtungen.

»Was hast du? Witterst du eine Gefahr?«, wunderte sich Tarun über das Verhalten seiner Freundin.

»Hörst du nicht dieses Rauschen?«, fragte Narami zurück und ging ein paar Schritte rückwärts.

Tarun überlegte kurz und zog dann die Stirn kraus. »Du hast recht, Narami. Ich höre es auch«, flüsterte er und duckte sich ab. »Ich kann dir nicht sagen, was das ist. Aber ich hörte Gerüchte über ein großes tigerfressendes Monster, welches in diesem Teil des Dschungels leben soll. Es lauert hinter den Bäumen und wartet auf seine Opfer, um sie dann in einem Stück zu verschlingen. Daran hätte ich denken sollen. Wir dürften gar nicht hier sein.« Tarun sprach mit düsterer Stimme und zeigte mit seiner Vorderpfote in die Richtung, aus der das Rauschen kam.

Narami erschauderte. »Dann lass uns lieber ganz schnell von hier verschwinden, ehe das Monster uns entdeckt«, flüsterte sie ihrem Freund zu und kauerte sich, so tief sie konnte auf den Boden.

»Nein, Narami. Ich habe es bereits mit der alten Shiva aufgenommen, dieses Monster wird für mich keine Herausforderung sein. Ich werde es hier und heute ein für alle Mal erledigen und dann kann es keinem Tiger mehr etwas zuleide tun«, verkündete Tarun mit stolzgeschwellter Brust und ging entschlossenen Schrittes dem Rauschen entgegen.

»Nein, Tarun. Tu's nicht!«, versuchte Narami den wagemutigen Prinzen an seinem Vorhaben zu hindern. »Mir musst du nichts mehr beweisen. Ich weiß, dass du stark und mutig bist. Dieses Monster ist eine ganz andere Nummer, als die alte Elefantenkuh. Es wird dich fressen und was wird dann aus mir?«

»Hab keine Angst, meine Liebste. Dein tapferer Verlobter besiegt gleich ein blutrünstiges Scheusal. Bleib hier, bis ich dich rufe«, riet Tarun seiner Angetrauten und schlich weiter durch das Dickicht.

Mit einem todesmutigen Sprung überwand der Tiger einen letzten Busch und war dann verschwunden. Alles, was Narami noch hörte, war ein komisches Geräusch, das wie ein dumpfes Platschen klang. Sie war sich sicher, dass Tarun geradewegs in den Schlund des gefräßigen Untieres gesprungen war und zitterte am ganzen Leib.

»Tarun?«, rief sie zögerlich. »Tarun, bist du noch da? Geht es dir gut? Antworte doch!« Bis auf das immerwährende Rauschen und Vogelgezwitscher drang kein weiteres Geräusch an Naramis Ohren.

Sie malte sich das Schlimmste aus, war gleichsam aber misstrauisch, da außer dem Platschen keine weiteren Kampfgeräusche zu hören waren. Nachdem sie lange auf ein Rufen des Prinzen gewartet hatte, traute sie sich schließlich auf leisen Pfoten ihm hinterherzuschleichen.

Narami durchbrach die dichten Farnbüsche und bemerkte, dass der Boden dahinter viel steiniger war, als auf ihrem bisherigen Weg. Außerdem wurde das Rauschen, mit jedem Schritt, den sie ging, lauter. Die Tigerin atmete einmal tief ein, stellte sich in voller Größe auf und setzte ihren Weg fort. Sie konnte Tarun, nach allem, was er für sie getan hatte, nicht im Stich lassen.

Nach weiteren Schritten, die sie betont trittsicher setzte, erblickte sie einen See und das Rauschen war nun fast ohrenbetäubend laut.

»Tarun? Bist du hier? Antworte endlich! Tarun!« Narami rief sich die Kehle aus dem Leib, doch sie konnte weder Tarun noch ein tigerfressendes Monster finden.

Aber dann bewegte sich etwas unter der Wasseroberfläche genau auf sie zu. Narami trat zurück, spannte ihre Muskeln an und fuhr ihre Krallen aus. So plötzlich wie er aufgetaucht war, verschwand der Schatten im Wasser wieder. Die weiße Tigerin ging einen Schritt auf das Ufer zu und wurde völlig unvermittelt von etwas Großem ins Wasser gezogen.

Narami blieb beinahe das Herz stehen. Sie schaffte es dennoch, sich aus den Fängen des Ungetüms zu befreien, und keuchend paddelte sie zurück an Land, wo sie zunächst ihr pitschnasses Fell trocken schüttelte. Das unbekannte Wesen ließ aber nicht locker und näherte sich erneut.

Die Gerüchte um das tigerverschlingende Monster scheinen wahr zu sein, dachte sie bei sich. Narami legte ihr gefährliches Raubtiergebiss frei und erwartete den nächsten Angriff.

Dann sah sie etwas Grünes und Glitschiges aus dem Wasser herausragen. Es tauchte langsam immer weiter auf und schien die Form einer Katze zu haben. Soll das Monster etwa selbst ein Tiger sein? Ein Tiger der Tiger frisst? Narami zog sich der Magen zusammen, bei diesem Gedanken. Sie machte sich trotz allem auf einen bevorstehenden Kampf gefasst. Als das Monster langsam an Land kroch, kamen ihr ein paar Details an dessen Körper jedoch äußerst bekannt vor.

»Tarun? Bist ... bist du das?«, fragte sie mit einer Mischung aus Misstrauen und Wut.

Das vermeintliche Ungeheuer schüttelte sich ebenfalls das Wasser und die Algen aus dem Fell und zum Vorschein kam ein hämisch grinsendes Tigerprinzchen.

»Du mieser Fiesling! Wie konntest du mir nur so einen Schrecken einjagen?«, fauchte Narami ihren schadenfrohen Verlobten an und drehte sich beleidigt um. »Mir wäre fast das Herz stehen geblieben! Mach das nie wieder oder unsere Hochzeit wird abgesagt. Jawohl!«

»Narami, es tut mir leid. Bitte sei mir nicht böse. Ich konnte einfach nicht widerstehen, dich ein wenig zu erschrecken«, versuchte sich Tarun nicht wirklich ehrlich zu entschuldigen.

»Ein wenig zu erschrecken?«, wiederholte Narami wütend seine Worte. »Ich dachte, das Monster hat dich gefressen und ich würde die Nächste sein!«

»Du hast die Geschichte mit dem Monster wirklich geglaubt? Ich dachte, dass du so einen Blödsinn sofort als Nonsens entlarvst«, schmunzelte Tarun.

»Gut, dann weißt du ja jetzt, dass ich nicht nur weiß, sondern auch dumm bin.« Narami ging beleidigt von dannen und ließ einen sichtbar betrübten Tarun zurück. Dieser Streich schien gehörig nach hinten losgegangen zu sein.

»Narami, bitte warte! Das war nicht bös gemeint, glaube mir. Ich weiß ganz sicher, dass du alles andere als dumm bist«, rief er ihr hinterher, aber seine Freundin zeigte ihm lediglich ihre Kehrseite. »Ich wollte dich in Wahrheit mit diesem Ort überraschen. Ehrlich! Du hast noch gar nicht gesehen, wie schön es hier ist. Narami! Bleib stehen, bitte«, flehte er sie an.

Narami blieb tatsächlich stehen, verdrehte aber bei den vergeblichen Bemühungen, sich bei ihr zu entschuldigen, nur die Augen. »Tarun, versuch es gar nicht erst. Für heute will ich nichts mehr von irgendwelchen Überraschungen wissen. Das ist nur wieder eine deiner miserablen Streiche.«

Tarun ergriff die kleine Chance, die er hatte, um Narami nachzulaufen und einen erneuten Versuch zu starten. »Nein, wirklich. Dieses Mal ist es kein Scherz. Schau mal da vorne, da ist die wahre Ursache für dieses komische Rauschen«, versuchte der Prinz die junge Tigerin aufs Neue zu überzeugen und deutete mit der Schnauze in Richtung des Lärms.

Narami drehte sich langsam um und traute ihren Augen nicht, als sich vor ihr ein wahres Wunder der Natur erstreckte. Das mysteriöse Rauschen kam wirklich nicht von einem Ungeheuer, sondern von mächtigen Wassermassen, die eine mehr als dreihundert Meter hohe Felswand herunterpreschen.

»Kein Monster, Narami. Wasserfälle sind für diese Geräusche verantwortlich. Man nennt sie die Jōga Jalapāt. Sind sie nicht wunderschön?«, erklärte Tarun. »Ich war oft hier, als ich allein in den Dschungel hinausging. Ein magischer Ort.«

Narami stand nach wie vor mit geöffnetem Maul da und nickte lediglich mit dem Kopf. Wie konnte sie diese Schönheit nur übersehen haben? Schließlich fand sie doch noch ein paar Worte an Tarun, ohne dabei den Blick von den Fällen zu lassen.

»Das hättest du mir aber auch zeigen können, ohne mich vorher in Todesangst zu versetzen«, fauchte sie.

»Ich mach's wieder gut, versprochen. Und jetzt komm mit, wir schauen uns die Wasserfälle aus der Nähe an.« Tarun stupste die Dame seines Herzens an und rannte voraus. Narami folgte ihm.

Die beiden Tiger blieben ganz nah an den Wasserfällen stehen und konnten bei deren Lärm kaum ihr eigenes Wort verstehen. Außerdem kitzelte ihnen das aufspritzende Wasser an den Nasen.

»Die Jog-Wasserfälle setzen sich aus vier einzelnen Kaskaden zusammen. Siehst du?«, beschrieb Tarun den Ort und ging mit seiner Pfote die einzelnen Fälle ab.

»Jede der Kaskaden hat einen Namen. Ganz links ist der Raja Fall, was der König bedeutet. Man nennt ihn so, weil ihm ein würdevoller und erhabener Charakter nachgesagt wird. Daneben siehst du den Roarer, der Tosende. Er macht von allen Kaskaden den meisten Lärm. Das Monster unter den Wasserfällen sozusagen«, konnte sich Tarun einen erneuten Seitenhieb auf seinen Streich nicht verkneifen. »Der Dritte wird Baaj, der Habicht genannt. Er besteht aus einer sehr großen Wassermasse, die in ungeheurer Geschwindigkeit durch eine winzige Öffnung geschossen kommt. Wie ein Raubvogel, der aus gewaltiger Höhe nach unten schießt. Die letzte Kaskade wird Rani, die Königin oder auch weiße Dame genannt«, schloss Tarun seine Erklärung ab und lächelte Narami am Ende liebevoll an.

»Der König und die weiße Dame. Das ist wundervoll, Tarun. Als ob sie nach uns benannt wurden«, staunte die Tigerin und bekam eine Gänsehaut.

Die zwei verliebten Tiger verbrachten die Nacht in der Nähe dieses romantischen Ortes und verschwendeten keinen Gedanken mehr an Taruns fiesen Streich. Am nächsten Morgen traten sie glückselig den Heimweg an, doch irgendetwas schien anders, als am Tag ihres Aufbruchs zu sein.

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