[11] Der Kronprinz
DAS DUNKEL DES ABENDS HATTE sich bereits über den Dschungel gelegt und ihn in einen kühlen Blauton getaucht. Das Zwitschern der Vögel wurde lauter und gleichzeitig breitete sich eine friedliche Stille aus. Narami hörte weit hinter sich den Lärm der feiernden Gäste. Sie alle waren ihretwegen gekommen, das wusste die Tigerin. Es waren Neugier, Freude aber auch ein wenig Angst, die sie in den Augen dieser Tiere erkennen konnte. In den Augen des jungen Prinzen Tarun jedoch konnte sie noch viel mehr lesen und wurde gleichzeitig nicht schlau aus ihm.
Was war ihm tatsächlich wichtig? Seine Freiheit und Unabhängigkeit? Warum hatte er das Fest verlassen, ohne sich von mir zu verabschieden? Damit der Abschied für mich nicht zu schwer werden würde oder für sich selbst?
Je weiter Narami lief und Tarun nicht finden konnte, desto sicherer war sie, dass ihr Lebensretter seinen ursprünglichen Plan, sein Königreich zu verlassen in die Tat umgesetzt hatte.
Aber Tarun hatte nicht vor abzuhauen! Er benötigte nur ein wenig Zeit, um nachzudenken. Denn in seinem Kopf schwirrten Gedanken über seine Zukunft herum. Bis vor Kurzem gab es für ihn bloß eine Option: Abhauen und nie mehr wiederkommen. Er wollte seinem Bruder Najuk den Thron überlassen, der offensichtlich danach geiferte und sich stets als Streber in Sachen Prinz sein hervortat. Aber etwas hatte Tarun verändert - jemand. Viel zu sehr würde er Narami vermissen, wenn er nicht mehr bei ihr wäre. Doch könnte er von ihr verlangen, die gerade erst gewonnene Heimat wieder zu verlassen, um mit ihm zusammen ein neues Leben aufzubauen? Würde sie mit ihm gehen, nur, um bei ihm sein zu können? Wäre er für Narami wichtiger, als ein sicheres Zuhause oder würde Tarun sich für eine Seite entscheiden müssen?
Wie würde ich mich entschließen, wenn ich an ihrer Stelle wäre?, dachte der junge Tiger nach.
Tarun spürte einen unangenehmen Stich in der Brust, als er daran dachte, wie es wäre, künftig ohne Narami leben zu müssen.
Das kann ich nicht mehr.
Ihm war bewusst geworden, dass er in die außergewöhnliche Tigerin verliebt war. Das war alles, was zählte.
Wenn sie meine Empfindungen erwidert, dann wird es eine Lösung für uns beide geben, redete der Prinz sich Mut zu.
Er wusste, dass er seine Freundin schon bald darauf ansprechen musste, ehe es jemand anderes tat. Denn Narami erfreute sich während des Festes der Aufmerksamkeit vieler Tigermännchen. Er konnte sich gut vorstellen, dass einige von ihnen sich sehr gerne mit ihr schmücken wollen, wie mit einer seltenen Trophäe.
Sie sehen alle nur ihr weißes Fell und erkennen nicht die eigentliche Schönheit, die darunter liegt.
Auf einmal hörte Tarun hinter sich Schritte. Er drehte sich blitzschnell um und erwartete den ersten Kontrahenten, der sich mit ihm um Naramis Gunst messen will. Aber es war Narami selbst und sie kam allein. Nun wackelten dem Kater einmal mehr die Knie.
»Hallo, Narami«, fing Tarun an zu stottern. »Ich hoffe, dir gefällt es hier bei uns.«
Narami spürte seine Unsicherheit, trotzdem setzte sie sich genau neben ihn und fing zu allem Übel an, von den anderen Tigern zu schwärmen.
»Es ist schön hier, wirklich. Besonders die vielen Tiger. Ich bin noch nie so freundlich empfangen worden. Bislang hat jeder Tiger einen großen Bogen um mich gemacht. Hier habe ich endlich Freunde gefunden. Vielen Dank, dass du mich hierher gebracht hast.«
Als Tarun ihre Begeisterung für seine Artgenossen bemerkte, wurde er etwas mürrisch. »Dann wünsche ich dir weiterhin viel Spaß mit den anderen Tigern«, antwortete er ihr grummelig, ohne sie anzusehen.
Narami bemerkte seinen Unmut und stocherte weiter in seiner Wunde herum.
»Und du?«, fragte sie ihn. »Gehst du jetzt wieder in die große Welt hinaus, um dir eine Partnerin zu suchen, so wie es dein Vater befohlen hat? Hoffentlich findest du eine, die dir gefällt. Bis dann!« Narami drehte sich kurzerhand um und tat so, als ob sie zum Fest zurückgehen wollte. Dabei tänzelte sie wie ein junges Hirschkalb und hielt ihren Schwanz hoch in die Luft.
Tarun bekam es mit der Angst zu tun. Was meint sie denn damit? Hat sie wirklich schon jemand anderen kennengelernt, der ihr wichtig ist?
Wenn er jetzt nicht aktiv werden würde, hätte er es vermasselt und das konnte er nicht riskieren. Entweder Narami oder keine. So viel stand für den Prinzen fest.
»Wa- warte mal, Narami!«, begann Tarun endlich die Weiße anzusprechen und trottete ihr auf unsicheren Pfoten nach.
Narami blieb erwartungsvoll stehen und hob ihre Augenbrauen.
»Ich hab mir das noch mal überlegt«, stammelte Tarun und kratzte mit einer Kralle auf dem Erdboden herum. »Ich, ich meine - also wenn du nichts, ach nein. Vergiss es. Ich dachte nur, wir beide, wir verstehen uns doch eigentlich ganz gut und, und willst du nicht vielleicht, wenn du magst dann, also ... ähm, ich würde mich jedenfalls freuen, wenn, also, du und ich, ähm ...«
Narami fand Taruns Stottern sehr amüsant und wusste genau, was er fragen wollte.
»Es wäre mir eine Ehre deine Partnerin zu sein, Prinz Tarun«, antwortete sie, noch ehe dieser seine Frage überhaupt stellen konnte.
Tarun konnte sein Glück gar nicht fassen. Wo er sich doch so ungeschickt angestellt hatte und auf dem Fest so viele andere gut aussehende Kater herumliefen, hatte sich Narami dennoch für ihn entschieden.
Wenn ich das meinem Vater erzähle, wird er Luftsprünge machen, freute sich der junge Tiger und genau danach war auch ihm selbst zu Mute.
Doch als zukünftiger Ehemann wollte er sich ein bisschen zusammenreißen und schluckte seine Freude und Nervosität herunter.
»Du willst also wirklich mit mir Dickschädel zusammenbleiben?«, fragte er zur Sicherheit noch einmal nach, denn ganz geheuer war ihm die Sache längst nicht.
»Ohne deinen Dickschädel wäre ich jetzt nicht mehr am Leben«, beruhigte Narami den Prinzen.
Nun war Tarun jedoch noch mehr verunsichert. »Aber du willst mich nicht nur deshalb, weil ich dir das Leben gerettet habe? Du musst mir deswegen nichts schuldig sein. Hörst du? Wenn dir einer der Tiger da drüben besser gefällt, dann steh ich euch mit Sicherheit nicht im Weg«, versprach Tarun und ging mit eingezogenem Schwanz und gesenktem Kopf ein paar Schritte von seiner Angebeteten zurück.
»Aber Tarun!«, kicherte Narami. »Was kümmern mich die anderen? Die versuchen sich nur einzuschleimen, weil ich mit meinem weißen Fell gerade das große Gespräch bin. Sie wollen durch mich die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenken. Glaubst du, ich bin so dumm und falle auf solche Leute herein? Die sind weder so klug wie du, noch so mutig. Sie sehen auch nicht annähernd so gut aus wie du«, versicherte Narami Tarun ihre Gefühle und ging die Schritte auf ihn zu, die der junge Prinz gerade von ihr weggegangen war.
Wenn Tarun kein Fell hätte, würde er jetzt wahrscheinlich den Dschungel rot erleuchten, so verlegen machten ihn Naramis Worte. Als seine Schönste ihm dann auch noch zärtlich über das Gesicht schleckte und ihr Köpfchen an das seine rieb, wäre er fast vornübergefallen, konnte sich aber im letzten Moment fangen.
»Und was wäre, wenn ich wirklich vorhätte, diesen Dschungel zu verlassen? Ich würde mir nie verzeihen, dir die einzige Heimat wegzunehmen, die du je hattest.« Tarun wurde wieder nachdenklich und unsicher, doch darüber mussten sie gesprochen haben, bevor sie den nächsten Schritt gingen.
»Du bist das, was ich Heimat nenne, Tarun«, hauchte Narami ihm ins Ohr und für den Kater war das alles, was er hören wollte.
»Wollen wir es gleich verkünden?«, fragte er seine Verlobte in spe ungeduldig. »Meine Eltern werden sich sehr darüber freuen.«
»Ach, würden sie das?«, Narami legte ihren Kopf schief und blickte Tarun aus zusammengekniffenen Augen an. »Willst du nur mit mir zusammen sein, weil deine Eltern wollten, dass du eine Tigerin heiratest?«
Autsch, das hatte gesessen. Narami hatte es ihrem Freund heimgezahlt, indem sie ihn mit dem gleichen Zweifel konfrontiert hatte, wie er sie. Tarun schluckte schwer und rang nach Worten, die er nie zuvor gedacht, geschweige denn ausgesprochen hatte.
Wie soll ich ihr bloß erklären, warum ich sie so sehr mag, ohne, dass es schwülstig oder aufgesetzt klingt?
Der Tiger tapste auf einer Stelle herum, leckte sich die Lippen und peitschte mit dem Schwanz in der Luft.
Aus unserem kleinen Rebellen war in kürzester Zeit ein echtes Sensibelchen geworden. Wenn ihm jemand vor ein paar Tagen gesagt hätte, dass die Worte einer Tigerin ihn einmal so aus der Fassung bringen würden, hätte er wahrscheinlich nur laut gelacht. Aber das Leben steckt eben voller Überraschungen, auch für einen Tiger wie Tarun.
»Nein! Narami, bitte glaub mir. Das ist nicht der Grund, ich würde niemals ...«
»Ist schon gut! Ich wollte dich nur ein bisschen ärgern«, unterbrach in die weiße Tigerin kichernd. »Du weißt doch, seitdem ich dich so verängstigt in der Höhle gesehen habe, kann ich gar nicht genug von dem bibbernden Tarun bekommen.« Naramis klares Lachen brachte Taruns Nerven wieder zur Ruhe.
»Sehr witzig, Narami. Das bekommst du wieder!«
»Oh, ich zittere jetzt schon!«
»Wirst schon sehen!«, drohte Tarun und stupste seine Freundin mit der Pfote an. »Dann, wenn du es am wenigsten erwartest.«
»Ich freue mich drauf.«
»Also was ist, wollen wir zurück zur Feier gehen?«, fragte der Prinz anschließend, doch Narami schlug ihm spielerisch auf die Schulter und lief in die entgegengesetzte Richtung.
»Nein! Noch nicht«, antwortete sie und sprang wie ein Kätzchen herum. »Lass uns lieber noch ein bisschen frei sein und Abenteuer suchen. Komm mit!«
Narami hüpfte fröhlich in den Dschungel und animierte Tarun es ihr gleichzutun. Diese Art gefiel dem wagemutigen Prinzen an seiner zukünftigen Frau. Er hätte nie gedacht, dass er einmal eine Tigerin finden würde, die ihn verstand und mit der er gemeinsam auf Abenteuersuche gehen konnte. Genau so sollte sein Leben auf ewig sein, wünschte er sich. Gemeinsam verschwanden Narami und Tarun in die Nacht, nur der Vollmond schaute ihnen nach.
DAS FEST GING auch ohne die beiden frisch verliebten Turteltiger weiter, bis Königin Veda nach einer Weile bemerkte, dass ihr Sohn abermals verschwunden war.
»Tarun ist schon wieder weg«, sagte sie zu ihrem Mann. »Denkst du, er ist erneut auf Abenteuersuche? Ich hatte so sehr gehofft, dass er durch Narami ruhiger werden würde.«
König Devesh blieb wie immer gelassen. »Mach dir keine Sorgen, Liebes. Er ist nicht allein gegangen. Oder siehst du die Weiße hier noch irgendwo?«
Die Königin schaute sich suchend um. »Du hast recht. Narami ist auch fort. Denkst du, die beiden sind gemeinsam unterwegs?«
Der König lächelte zuversichtlich. »Ich glaube schon. Ist dir nicht aufgefallen, wie unser Sohn die Kleine angesehen hat, als ich ihn nach einer Partnerin gefragt habe und wie Narami über seine Heldentat gegen Shiva geschwärmt hat? Wir sollten den beiden noch ein wenig Zeit für sich lassen. Sie werden schon früh genug zurückkehren. Du weißt doch noch, wie das bei uns damals war. Es hat ewig gedauert, bis ich dich meinen Eltern als meine zukünftige Mitregentin vorstellen konnte.«
Die alte Königin wurde verlegen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann der König zum letzten Mal über ihre gemeinsame Jugend gesprochen hatte.
»Das werde ich wohl nie vergessen, mein Lieber«, sagte sie und schmiegte sich an seine starke Flanke. »Du hast gezittert wie ein junges Ferkel.«
»Oh, hahaha! Veda, lass das niemanden hören. Was soll denn unser Volk über ihren König denken?«
Gemeinsam lachte das Paar noch eine Weile über vergangene Tage und schaute sich das fröhliche Fest an. Als sie auch den letzten Gast verabschiedet hatten, legten sie sich zur Ruhe.
Als es schon fast eingeschlafen war, hörte das Königspaar ihren Sohn und Narami zurückkehren. Die jungen Tiger schlichen sich an ihnen vorbei und legten sich gemeinsam unter die alte Akazie und schliefen friedlich ein. Zufrieden fanden schließlich auch Veda und Devesh ihren wohlverdienten Schlaf. Endlich schien sowohl die Thronfolge, als auch die neue Königin bestimmt zu sein und die beiden konnten einem ruhigen Lebensabend entgegensehen.
Schon am nächsten Morgen verkündeten Tarun und Narami ihren Entschluss heiraten zu wollen. Der alte König und die Königin waren über diese Nachricht hoch erfreut, denn endlich konnten sie ihrem Volk offiziell den zukünftigen König und die Königin ihres Reiches vorstellen.
Für Tarun bedeutete dies allerdings auch, dass er sich dafür entschieden hatte, seinen ihm vorbestimmten Weg zu gehen und die Thronfolge anzunehmen. Dieser Gedanke bereitete ihm nach wie vor Bauchschmerzen. Doch mit Narami hatte er eine starke Partnerin an seiner Seite, die ihn unterstützen wird und auch die Eigenart an ihm verstand, die sich nach Freiheit und Unabhängigkeit sehnte.
Aus dem Schatten des Urwalds sah der Kronprinz plötzlich die Augen seines jüngeren Bruders aufblitzen. Najuk hatte sich bislang weder mit ihm, noch mit Narami unterhalten und schien in letzter Zeit seltsam zurückhaltend zu sein.
Doch Tarun hatte keine Zeit, über seinen Bruder nachzudenken. Schon drei Tage später wurde erneut ein großes Fest gefeiert. Die Verlobung des unzähmbaren Junggesellen sollte gebührend zelebriert werden. Dieses Mal ging die Feier eine ganze Woche lang, denn immer wieder kamen neue Gäste an. Manche von sehr weit her, andere brauchten einfach nur etwas länger, weil sie langsam oder schon alt waren oder nicht mehr gut laufen konnten.
Für Narami war es eine große Freude. Niemals zuvor hatte sie so viele verschiedene Tiere getroffen und nicht eines von ihnen sah sie als ungewöhnlich oder gar hässlich an. Endlich konnte sie glücklich sein.
Auch Tarun war der zufriedenste Tiger des Dschungels. Er war fest davon überzeugt sich mit der schönsten, klügsten und vor allem abenteuerlustigsten Tigerin der Welt verlobt zu haben.
Doch immer wieder wurde seine Freude getrübt, denn ab und zu musste er noch an die seltsamen Zufälle denken, die er in der letzten Woche erlebt hatte. An den Traum mit der weißen Tigergestalt und vor allem an diese geheimnisvolle Kobra, die anscheinend alles über ihn und diese Vorfälle wusste.
Zudem hatte der Thronfolger bemerkt, dass der alte König die weiße Tigerin oft mit einem besorgten Blick betrachtete und immer häufiger in Gedanken versank, die selbst seine Gemahlin Veda nicht kannte.
»Vater?«, begann er eines Abends das Gespräch mit Devesh.
»Was bedrückt dich, mein Sohn?« Auch der König hatte längst bemerkt, dass der Prinz immer wieder in tiefen Gedanken versank, während alle anderen ausgelassen das Fest genossen.
»Kennst du eine Kobra mit Namen Padma?«, fragte Tarun und hoffte, dass sein Vater lachen würde, wie er denn auf diese senile Spinnerin käme.
Doch der König erschrak beim Klang dieses Namens, sagte zunächst aber nichts.
»Ich habe vor einiger Zeit eine getroffen, weißt du«, fuhr Tarun fort und spürte sein Herz schneller schlagen. »Sie war fast komplett schwarz und meinte, sie würde mich kennen und ich müsste sie nicht kennen und so ein wirres Zeug. Und was am seltsamsten war ...«
Nun unterbrach der Vater seinen Sohn. »Tarun, mach dir nicht zu viele Gedanken. Es gibt Dinge hier im Dschungel, über die selbst ein weiser König nichts weiß. Wir sollten versuchen, die Geheimnisse des Waldes geheim zu lassen. Ich weiß nicht warum, aber irgendetwas tief in mir sagt, dass es besser so ist. Und jetzt geh wieder zu Narami, sie sucht dich bestimmt schon.«
Tarun spürte, dass sein Vater mehr wusste, als er zugab, aber er wollte ihm nicht widersprechen und war entschlossen, das zu verdrängen, was er im Wald erlebt hatte. Welche Bedrohung könnte denn schon von diesem alten Kriechtier ausgehen? Wenn sie mir hätte wehtun wollen, hätte sie mich an Ort und Stelle gebissen. Der junge Tiger folgte dem Rat des Königs und feierte ausgelassen mit den anderen Tieren in den neuen Tag hinein.
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