[08] Jagderfolge und Rätsel
IN DER ZWISCHENZEIT versuchten Tarun und Narami sich etwas zu fressen zu verschaffen. Ihr erster gemeinsamer Jagdversuch war zwar mächtig schiefgegangen, aber um Narami zu beweisen, dass es nicht ihre Schuld war, dachte sich Tarun einen Plan aus, wie sie künftig mehr Erfolg haben würden. Denn Narami brauchte dringend etwas Vernünftiges zu essen. Sie hatte die letzten Jahre fast ausschließlich von kleinen Säugern, Reptilien und Vögeln gelebt oder von dem, was andere Räuber übrig gelassen hatten. Sie war für ihr Alter viel zu klein und dünn, fand Tarun. Das wollte er ändern.
»Siehst du dort vorne die Felsen?«, fragte er seine Freundin.
»Ja, natürlich. Was ist denn damit?«, antwortete sie und verstand nicht, auf was Tarun hinauswollte.
Tarun baute sich mit stolzgeschwellter Brust vor Narami auf. »Das ist deine Chance, dich als Jägerin zu beweisen!«, sagte er und grinste sie keck an.
Narami schaute ungläubig und war nicht sicher, was er ihr damit sagen wollte. »Wie? Ich verstehe nicht ganz. Soll ich uns einen Stein fangen, oder was?«, fragte sie und blickte sich in der Gegend um, ohne zu erkennen, was Tarun meinte.
»Ach, nein!«, antwortete Tarun und zeigte mit seiner linken Vorderpfote auf ein paar Schweinshirsche am Waldrand. »Siehst du die Hirsche dort? Ich schleiche mich aus dem Wald von hinten an sie heran, denn im Wald bin ich besser getarnt als du«, erklärte Tarun und dann erkannte Narami die kleine Gruppe Schweinshirsche im dichten Urwald und schaute daraufhin wieder ein bisschen traurig.
»Du hast doch gesehen, was beim letzten Mal passiert ist, Tarun. Sie werden mich entdecken, ehe du überhaupt in ihre Nähe gekommen bist«, sagte sie.
»Nein, hör mir weiter zu!«, beruhigte Tarun sie sofort, als er ihre Unsicherheit bemerkte. »Ich werde die Hirsche zu den Felsen dort drüben hetzen. Die Sache ist die ...«, fing er an, geheimnisvoll zu reden, und Narami hörte wieder aufmerksam zu. »Ich kann mich dort nicht verstecken und den Hirschen auflauern. Die Felsen sind viel zu hell. Sie würden mein braunes Fell und die dunklen Streifen sofort bemerken. Verstehst du?« Tarun schaute Narami erwartungsvoll an.
Endlich begriff sie, was ihr Freund ihr zu erklären versuchte. »Ich verstehe! Oh, Tarun! Du bist genial.« Narami sprang wie ein junges Kätzchen vor Tarun herum. »Ich bin in diesen Felsen gut getarnt mit meinem weißen Fell und deswegen soll ich den Hirschen dort auflauern und aus dem Hinterhalt zuschlagen, richtig?«
»Goldrichtig!« Tarun war sichtbar stolz auf seinen Plan und freute sich, als er sah, dass er Narami damit einen Gefallen getan hatte.
Diese schlich sofort zu den Felsen, um ihre Stellung einzunehmen. Tarun war verblüfft, als er sah, wie gut Narami dort tatsächlich verborgen war. Er hatte Mühe, sie noch ausfindig zu machen. Als sie ihm ein Zeichen gab, schlich sich Tarun langsam an die Schweinshirsche heran. Diese waren zwar aufmerksam, aber sahen ihren Feind durch dessen gute Tarnung im hohen Gras nicht auf sich zukommen. Nachdem Tarun nah genug an seine Beutetiere herangeschlichen war, sah er den geeigneten Zeitpunkt für den Angriff. Der junge Prinz schoss mit einem großen Satz aus dem Unterholz geradewegs auf sein Ziel zu. Die Hirsche setzten sich fluchtartig in Bewegung. Mühelos hätte er sich eines der schwächeren Tiere schnappen können, aber er wollte Narami den Jagderfolg lassen, damit sie endlich mehr an ihre eigenen Fähigkeiten glaubte. Die weiße Tigerin machte sich bereit. Sie lag regungslos hinter einem der hellbeigen Felsen und fixierte starr ihre Beute, die in ihre Richtung lief. Nur ihre Schwanzspitze wippte vor Anspannung hin und her.
Dann war es soweit: Die Hirsche kamen näher und schnurstracks in ihre Richtung. Narami nahm Schwung und sprang mit einem gezielten Sprung hinter dem Felsen hervor und ... schnappte sich das größte Tier, indem sich ihre scharfen Krallen in sein Fleisch bohrte. Mit einem einzigen Kehlbiss brachte sie es zum Erliegen.
Tarun hatte alles aus der Entfernung mit angesehen. »Narami! Du warst großartig. Ich bin so stolz auf dich!«, rief er ihr überglücklich zu. Endlich hatte die junge Tigerin bewiesen, dass sie ebenfalls eine hervorragende Jägerin war. »Du hast das größte und kräftigste Tier erlegt, Narami. Dank dir können wir uns jetzt satt essen.«
Narami wurde ein wenig verlegen, als sie ihren Erfolg vor sich liegen sah. So etwas Großes hatte sie niemals vorher erbeutet und dazu noch die lobenden Worte von Tarun. Narami konnte zum allerersten Mal sagen, dass sie wirklich glücklich war.
»Das war eine gute Idee von dir, Tarun. Ohne dich hätte ich das nie geschafft. Danke. Ich verstehe gar nicht, warum Tiger nicht öfter gemeinsam jagen. Das macht doch so viel mehr Spaß als alleine.«
Tarun blickte zu Boden und zeichnete mit einer Kralle Kreise in den Sand. »Mir musst du nicht danken. Das ist allein dein Erfolg, Narami. Du hast das Tier erlegt. Jetzt friss dich daran satt.«
Tarun ließ seiner Freundin das meiste von der Beute. Er hatte ja erst gestern gefressen und Narami musste dringend an Gewicht zulegen. Als er sie ansah, kam in ihm zum ersten Mal der fürchterliche Gedanke auf, dass sie vielleicht nicht mehr lange überleben würde, wenn er sie nicht durch Zufall gefunden hätte. Oder war das möglicherweise kein einfacher Glücksfall? Immerhin hatte er diesen Traum. Genau! Jetzt fiel ihm alles wieder ein. Tarun hatte von einer weißen Tigergestalt geträumt, bevor er von dem markerschütternden Trompeten der alten Shiva geweckt wurde. Sollte das etwa Schicksal sein?
»Ach, nein. So ein Blödsinn!«, dachte Tarun laut vor sich hin.
Narami wunderte sich über seinen für sie völlig aus dem Zusammenhang gerissenen Ausruf. »Was meinst du?«, fragte sie ihn.
»Nichts. Ich hab nur laut gedacht«, antwortete Tarun und schwieg daraufhin.
Nach einer Weile, als Narami mit dem Essen fertig war und sich zum Verdauen hingelegt hatte, schlich sich Tarun vorsichtig von ihr weg. Dieser Traum ließ ihn nicht in Ruhe. Er musste weiter darüber nachdenken, obwohl er genau wusste, dass er zu keinem Ergebnis kommen würde. Das kann einfach nicht sein. Ich habe von einem weißen Tiger geträumt, obwohl ich nicht einmal wusste, dass es so etwas wirklich gibt, und kurz darauf treffe ich Narami. Was geht hier nur vor sich?
Tief in Gedanken versunken schlenderte Tarun durch den Wald. Über ihm zwitscherten die Vögel des Dschungels. Sie hatten längst gesehen, mit wem der Prinz unterwegs war. Einige von ihnen hatten bereits von ihrer Existenz gehört, aber keiner der Vögel konnte sich das weiße Fell der jungen Tigerin erklären. Doch Tarun hörte das alles nicht. Er war mit seinen eigenen Zweifeln beschäftigt.
Wie er so tigerte und weder nach rechts noch nach links schaute, bemerkte Tarun auch nicht, dass er von jemandem beobachtet wurde. Vorsichtig schlich sich der Unbekannte an ihn heran. Er kam näher und näher und stand plötzlich aufrecht vor unserem jungen Helden. Erst dann bemerkte Tarun seinen Verfolger und erschrak fürchterlich, denn ein Biss von dem Fremden könnte ernste Folgen für ihn haben. Tarun drehte sich rasch um und rannte zu Narami zurück, aber der Unbekannte rief ihm nach, stehen zu bleiben. Als ob er fürs Erste nicht schon genug Gefahren entgegengesehen hätte, hielt Tarun an und wusste selbst nicht warum. Sein Herz raste, aber er rannte trotzdem nicht weiter.
Der Fremde kam zu ihm und richtete sich erneut vor ihm auf. Es war eine uralte, riesengroße Kobra mit schwarzen Schuppen und einem weißen Mal auf dem Nackenschild, welches sie bedrohlich aufstellte. Die Schlange sah Tarun lange und intensiv in die Augen, bevor sie endlich mit ihm zu sprechen begann.
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