[04] Der Geist in der Höhle
INS INNERE DER HÖHLE drang kein einziger Strahl der aufgehenden Morgensonne. Taruns Augen weiteten sich, um den Weg, der vor ihm lag, erkennen zu können. Nachdem die Schritte der Fremden verklungen waren, breitete sich eine gespenstische Stille aus. Diese wurde nur durch das Heulen des Windes unterbrochen, welcher durch kleine Löcher in der Höhlenwand hereinwehte. Der junge Tiger erschrak, als eine durch die Decke herunterwachsende Wurzel seinen Kopf streifte. Es war eine unheimliche Umgebung. Mehrmals durchfuhr Tarun ein Schaudern und sein Fell entlang des Rückens stellte sich auf. Es fiel ihm schwer, dem Drang zu widerstehen, sofort den Rückzug anzutreten und diesen Ort und auch die weiße Tigerin so schnell wie möglich wieder zu vergessen. Aber die Neugier war stärker als der Fluchtinstinkt. Er wollte wissen, wer sie war und vor allem, was sie war. Verhalten setzte Tarun eine Pfote vor die andere und schlich tiefer in den Bau hinein. Seine Nase zog unaufhörlich jedes noch so kleine Duftmolekül auf. Er konnte den fahlen Geruch von Kragenbären wahrnehmen. Auch viele Spuren kleinerer Säugetiere hafteten der Höhle an. Keines der Tiere schien in letzter Zeit zurückgekehrt zu sein. Am ausgeprägtesten war der Geruch eines Tigers zu riechen. Einer Tigerin. Nach einer Weile fand er die Weiße, die es sich in einem Seitenarm der Höhle bequem gemacht hatte. Behutsam trat Tarun an sie heran.
»Sind wir allein hier drin?«, fragte der Prinz mit angelegten Ohren.
»Ja«, antwortete die Tigerin und nickte. »Das ist mein Versteck. Seit einer langen Zeit. Bisher hat die Höhle außer mir niemand mehr betreten. Na ja, ausgenommen von dir.«
Das weiße Tigerweibchen blickte zu Boden und scharrte mit der rechten Vorderpfote auf dem felsigen Untergrund, während sie sprach. Ihr Fell lag eng an ihrem Körper an und ihre Ohren zuckten mit der Schwanzspitze im Einklang. Tarun war überrascht, denn er hatte sich die Stimme und das Benehmen von Geistern bisher anders vorgestellt. Jedenfalls erzählten sich die ältesten Tiere des Dschungels oft Schauergeschichten über heulende, schrill kreischende und krächzende Gespenster, die nachts ins Reich der Lebenden kamen, um unartige Tiere zu bestrafen, und zu sich zu holen. Tarun hatte später beschlossen, zu alt für solche Märchen zu sein, aber nach diesem seltsamen Traum und der Begegnung mit der Fremden zweifelte er an dieser Überzeugung. Das konnte kein Zufall sein. Doch musste er sich eingestehen, dass diese ungewöhnliche Tigerin ganz und gar nicht klang, wie ihm die Geisterstimmen beschrieben wurden. Im Gegenteil! Als er die sanfte Stimme der Tigerdame hörte, bekam Tarun einen Kloß im Hals. Ob die Antilope gestern Abend nicht gut war?, dachte er sich, denn der junge Prinz konnte die Reaktionen seines Körpers nicht einordnen. Fühlt sich so Angst an? Dann habe ich bisher nie echte Furcht gespürt.
Die Tigerin schien seine Unsicherheit zu spüren. Sie wendete den Blick von Tarun ab und schloss ihre Augen. Nach einer Weile des gegenseitigen Schweigens atmete sie tief ein und trat näher an den Prinzen heran. »Vielen Dank, dass du mich gerettet hast. Das würde sonst niemand für mich tun«, sagte sie und in diesem Augenblick drang ein Sonnenstrahl durch die Öffnung in der Höhlendecke und fiel genau auf ihr weißes Gesicht.
Jetzt sah Tarun sie zum ersten Mal deutlich und bemerkte sogleich ihre fahl-blauen und ausdrucksstarken Augen. Derartiges hatte er noch nie zuvor gesehen. Tarun stand wie angewurzelt in der Höhle und traute sich, weder zu bewegen, noch ein weiteres Wort zu sagen. Vielleicht irrten sich die alten Weiber in seinem Reich und Geister waren nicht gruselig, hässlich und schrill kreischend, sondern freundlich und bildhübsch? Sicher wollen sie auf diese Weise ihre Opfer in die Falle locken. Der sonst so mutige Tigerbursche wollte nach dieser Erkenntnis den Rückzug antreten, doch die weiße Tigerin ließ nicht locker.
»Wie heißt du?«, fragte sie ihn und jedes Wort durchfloss den Prinzen wie tausend Blitze.
»I-i-ich ha-heiße, ich heiße Tarun!«, antwortete er stammelnd. Ich sollte lieber nicht mit ihr reden. Bestimmt belegt sie mich dadurch mit einem Zauberbann.
Zitternd setzte er die linke Hinterpfote einen Schritt zurück in den Gang, es fühlte sich jedoch so an, als würde sein Körper ihm nicht mehr gehorchen. Eine Flucht schien für den Tiger unmöglich geworden zu sein. Wäre ich doch niemals in diese Höhle gegangen.
»Tarun«, wiederholte die Tigerin seinen Namen, als wollte sie probieren, wie er sich auf ihrer Zunge anfühlte. »Ein schöner Name. Ich bin Narami«, sagte sie schließlich und setzte sich vor Tarun hin.
Narami ... diesen Namen würde Tarun in seinem ganzen Leben nicht wieder vergessen, das wusste er.
»Wo kommst du denn her, Tarun?«, fragte Narami weiter und wippte aufgeregt mit dem Schwanz hin und her.
Oh je, sie lässt mir keine Auszeit. Sie scheint es zu genießen, dass ich stotterte. Hoffentlich merkt sie nicht, dass ich Angst vor ihr habe. Eben wurde sie Zeuge, wie ich mich mutig gegen Shiva gestellt habe, um sie zu retten. Jetzt kann ich vor ihr keine Schwäche zeigen. Allerdings dachte ich bis dahin, sie sei eine gewöhnliche Tigerin. Aber nichts an ihr ist gewöhnlich. Vielleicht hilft es, einen Geist einzuschüchtern, indem man ihm seine königliche Herkunft offenbart? Nicht mal eine gespenstische Kreatur wie Narami würde es wagen, einen Königssohn zu entführen!
»Ich bin ein echter Prinz!«, rief Tarun prompt und reckte seine Schnauze in die Höhe. »Ich lebe im Königreich Deveshs, meinem Vater.« Er nickte wild mit dem Kopf, um seiner Aussage mehr Bedeutung zu verleihen.
Das muss sie einfach umhauen. Sie wird sich eingeschüchtert zurückziehen und dann fliehe ich, so schnell ich kann.
Die Weiße kniff ein Auge zusammen und musterte Tarun skeptisch. »Ach so, ein echter Prinz also. Na dann, vielen Dank, Majestät, dass Ihr die Güte hattet, mich vor Shiva zu beschützen«, sagte Narami schmunzelnd und legte den Kopf schief. Dann jedoch sah sie ihrem Retter aufrichtig ins Gesicht. »So einen mutigen Tiger habe ich noch nie getroffen. Ein ausgewachsener Elefant ist kein leichter Gegner.«
Als ob Tarun nicht schon nervös genug gewesen wäre, folgte des Ganzen Höhepunkt, als die hübsche und gleichwohl unheimliche Narami ihm quer über die linke Wange schleckte. Seine Beine wurden daraufhin weich wie Honig und Tarun dachte, dass dies jetzt der Augenblick war, indem der Geist ihn in seine Welt zog.
Nichts dergleichen geschah. Die Tigerdame fühlte sich völlig normal an. Real. Lebendig. Nicht wie ein Gespenst. Narami roch auch nicht anders, als andere Tiger. Oder doch? Sie riecht ziemlich gut, stellte Tarun verwundert fest. Diese Feststellung verunsicherte ihn noch mehr. Das ist die Wirkung ihrer dunklen Magie. Taruns Herz begann erneut zu schlagen, als würde es von einer Herde Wasserbüffel verfolgt werden. Er versteifte sich am ganzen Körper und zog erschrocken seinen Kopf nach hinten.
Narami wich daraufhin ein paar Schritte vor ihm zurück und blickte verlegen zur Seite. Sie saß nun wieder im Schatten der Höhle und wurde von der Dunkelheit verschlungen, wie jedes andere Tier. Ihr blütenweißes Fell wirkte jetzt grau. Da war kein Eigenleuchten, wie bei der geisterhaften Gestalt in seinem Traum. Tarun konnte sie atmen hören und stellte fest, dass Narami genauso nervös war wie er selbst. Sie hat Angst vor mir.
In diesem Augenblick wurde Tarun bewusst, dass diese jugendliche Tigerin kein Geist sein konnte. Sie war aus Fleisch und Blut. Sie war ein Lebewesen, genau wie er. Aber warum lebt sie hier allein in der Dunkelheit? Sie ist noch so jung. Wo ist ihre Familie? Bin ich der erste Tiger, den sie seit langer Zeit getroffen hat? Ob mein Vater weiß, wer ihre Eltern sind? Ich muss ihr helfen.
Tarun fasste den Entschluss, Narami mit nach Hause zu nehmen. Bis gestern war es sein Plan gewesen, dort so schnell nicht mehr zurückzukehren. Aber er hatte das Gefühl, dass dieses Mädchen nicht in diese kalte und dunkle Höhle gehörte. Sie brauchte den Schutz und die Wärme, die auch er sein Leben lang genießen durfte. Er war sich sicher, dass seine Eltern ihr helfen werden. Nach einem tiefen Atemzug nahm der Prinz all seinen Mut zusammen und sprach die weiße Tigerin an, um mehr über sie herauszufinden.
»Warum lebst du hier allein in dieser finsteren Höhle, Narami? Wo ist deine Familie?«, fragte Tarun und setzte sich zu seiner neuen Freundin, vor der er eben noch so viel Angst gehabt hatte, dass ihm die Beine schlackerten.
Narami wurde still und blickte ins Leere, als sie seine Frage hörte. Nur zögerlich begann sie, Tarun zu antworteten.
»Ich habe keine Familie mehr. Meine Eltern sind bei einem Waldbrand ums Leben gekommen. Das war vor über zwölf Monden. Meine Geschwister haben schon bald Anschluss bei verwandten Tigerfamilien gefunden, aber mich haben sie nicht gewollt.«
Tarun erschrak. Nie könnte er sich vorstellen, warum man ein so schönes Geschöpf wie Narami verstoßen sollte. Es sei denn ...
»Warum das denn?! Dachten sie auch, du wärst ein Geist?«, fragte er fassungslos und bereute dies bereits im selben Augenblick.
»Ein Geist? Wie meinst du das? Nein, es war ... na ...«, fing sie stotternd an. »Na, weil ich ... weil ich weiß bin. Ich bin hässlich, sagten sie. Missraten. Ein Fehler der Natur.« Naramis leerer Blick schweifte zu ihren Pfoten.
Tarun sprang empört auf und vergaß alle Ängste und Bedenken, die er bis eben selbst noch gehegt hatte. »Nein, du bist wunderschön!«, rief er ihr zu.
Erst als es längst ausgesprochen war, merkte er, was er zu dieser jungen Tigerin gesagt hatte. Nun war es ihm ein bisschen peinlich, aber es ist geschehen und es entsprach der Wahrheit. Narami war bildschön, wie der aufgehende Mond am Nachthimmel.
»Nein«, erwiderte Narami kopfschüttelnd und wandte sich von Tarun ab. »Das sagst du jetzt nur, weil du nett zu mir sein willst.«
Tarun konnte kaum glauben, was er da hörte. Doch sie ließ ihm keine Gelegenheit zum Widerspruch.
»Ist schon gut«, fuhr sie fort. »Wir beide wissen doch ganz genau, dass ich nicht normal bin. Ein Tiger ist braun und ich bin schneeweiß. Es ist besser, dass ich versteckt lebe und niemand mich sieht. Ich will nicht, dass sich jemand vor mir fürchtet. Die allermeisten Tiger leben allein. Mach dir keine Sorgen.«
Tarun stand mit geöffnetem Maul vor Narami und ihm fehlten die Worte. Sie hatte schon recht – ein Tiger war niemals weiß, jedenfalls hatte er noch nie zuvor einen solchen gesehen. Ja, er hatte geglaubt, sie wäre ein Geist und sich vor ihr gefürchtet. Aber er hat sich der Angst gestellt und Narami kennengelernt und begriffen, dass sie ein normaler Tiger war! Ein Tier, welches nicht in einer Höhle lebt und sein Leben lang Artgenossen meidet. Selbst jene nicht, die es vorzogen, als Einzelgänger in eigenen Revieren zu leben.
»Ich möchte nicht, dass du hier drin ein einsames Dasein fristest!«, rief Tarun. »Mein Vater ist ein weiser Herrscher. Er würde niemals zulassen, dass du verstoßen wirst. In unserem Königreich haben alle Tiere einen Platz, die uns und der Gesellschaft freundlich gesonnen sind. Komm mit mir! Bei mir wird dich niemand derart schlecht behandeln und wer es wagen sollte, bekommt es mit mir zu tun!«
Narami sah Tarun verwundert an. Sollte dieser junge Tiger wahrlich der Sohn eines Königs sein und sie so nehmen, wie sie ist? War sein Vater wirklich so gutmütig, wie er behauptete? Wie würden die anderen Tiere auf sie reagieren?
»Ich weiß nicht so genau«, antwortete sie schüchtern.
Andererseits war es für Narami natürlich keine schöne Vorstellung, ewig in dieser dunklen Höhle hausen zu müssen und immer aufzupassen, von keinem Tier gesehen zu werden. Aber für eine endgültige Entscheidung war es zu diesem Zeitpunkt noch zu früh.
»Lass mich darüber nachdenken, Tarun. Versteh mich nicht falsch, aber nach dem, was ich durchgemacht habe, fällt es mir sehr schwer, jemandem zu vertrauen«, sagte Narami und schaute Tarun traurig an.
»Ich gebe dir Zeit, so viel du willst«, versprach Tarun. »Aber nur, wenn ich mich hier drin noch etwas ausruhen darf?«, ergänzte er und lächelte Narami müde an.
»Natürlich, mein Retter. Fühl dich wie zuhause«, antwortete Narami und kicherte, während sie zu ihrem mit trockenem Laub ausgepolsterten Schlafplatz ging.
Tarun zwinkerte der schüchternen Tigerin zu und legte sich in eine andere Ecke der Höhle und schloss erschöpft die Augen. Als er eingeschlafen war, stand Narami auf, ging tiefer in die Höhle hinein und sah durch eine kleine Öffnung nach draußen. Sie genoss die Sonnenstrahlen, die hineinfielen und es wurde ihr ganz warm um das rosa Näschen.
»Ich habe viel zu lange in der Dunkelheit gelebt. Tarun hat recht. Vielleicht sollte ich einen Neuanfang starten und endlich aus meinem Versteck kommen. Wenn sein Vater ein weiser und gütiger König ist, wird er mich mit Sicherheit nicht verstoßen – hoffe ich«, sagte sie zu sich und dachte über ihr bisheriges Leben nach, welches ihr nur Kummer, Leid und Einsamkeit beschert hatte.
Nach einer Weile ging Narami zu ihrem Schlafplatz zurück, legte den Kopf auf ihre Vorderpfoten und beobachtete den schlafenden Prinzen. Er hat sein Leben für mich riskiert und hat mir eine Chance gegeben, obwohl er dachte, ich wäre ein Geist. Sie schmunzelte bei diesem Gedanken und schlief nach einiger Zeit ebenfalls ein.
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