[02] Ein sonderbarer Traum

DÄMMERUNG LEGT SICH allmählich über den Wald und die letzten Vogelgesänge verstummten. Tarun, der noch keine einzige Pause eingelegt hatte, spürte, dass Hunger seinen Magen verkrampfen ließ.

Der junge Tiger stellte sich gegen den Wind, streckte seinen Hals und hielt die Nase hoch, um die Luft tief einzuatmen. Er begann zu flehmen, indem er seine Oberlippe nach oben zog. Dabei nahm er eine Vielzahl von Düften auf, die den Dschungel erfüllten. Augenblicke witterte Tarun den Geruch von Beute. Er legte sich auf die Lauer, denn in der Nähe schienen Antilopen zu sein. Tarun spitzte die Ohren und spähte mit seinen bernsteinfarbenen Augen aufmerksam durch die Nacht. Dann hörte er das Scharren und Trappeln zierlicher Hufe.

»Eine Antilope zum Abendbrot wäre genau das Richtige. Ich hoffe, dass mir niemand in die Quere kommt«, dachte der Prinz und schlich, immer der Nase nach, in Richtung Beute.

Er gab besonders gut Acht. Leichtfüßig setzte er eine Pfote vor die andere. So still, dass selbst ein Kaninchen ihn nicht hätte hören können. Dann endlich sah er eine Herde Antilopen vor sich. Sie bereiteten sich gerade auf die Nachtruhe vor. Einige der jüngeren Tiere schliefen bereits. Ein älteres Tier stand abseits der Herde.

»Ja, geh nur weiter. Das ist genau die richtige Richtung.« Tarun näherte sich langsam der alten Antilope. Diese dachte an nichts Schlimmes und graste leichtsinnig vor sich hin und bewegte sich, ohne es zu wissen, dem Feinde entgegen.

Tarun duckte sich, so tief er konnte. Sein Bauch lag so dicht über dem Boden, dass dieser ihn beinahe berühren konnte. Jeder seiner Muskeln war angespannt und seine Schwanzspitze wippte rhythmisch hin und her. Bald würde es soweit sein. Nur noch wenige Augenblicke und er konnte einen Angriff wagen.

Ein Windzug rauschte durch das Gebüsch am Rande der Lichtung. Die Antilope schreckte auf und sah in Taruns Richtung. Seine Augen reflektierten das letzte Tageslicht. Dadurch bemerkten erst diese und schließlich alle anderen Antilopen ihren heimlichen Beobachter. Durch die aufkommende Panik fingen auch die Affen und Vögel in den Bäumen an, Lärm zu machen. Im Bruchteil einer Sekunde wusste wohl die ganze Umgebung, dass hier ein Tiger auf der Jagd war.

Ehe Tarun realisieren konnte, was geschehen war, stürmte die Antilopenherde in Richtung Urwald. Instinktiv und ohne darüber nachzudenken, setzte sich auch der junge Tiger in Bewegung. Tarun lief, so schnell er konnte, doch er hatte große Mühe, den Vorsprung seiner Beutetiere einzuholen.

Endlich verloren einige ältere und schwächere Tiere an Geschwindigkeit und den Anschluss an ihre Herde. Tarun sammelte all seine Kraft, sprang vor und streckte seine rechte Vorderpfote nach dem hintersten Beutetier aus. Er streifte es mit seinen scharfen Krallen, doch die Antilope konnte sich durch einen letzten Sprung zur Seite von ihm losreißen.

Als bereits alles verloren zu sein schien, geschah etwas Unerwartetes. Das geschwächte Tier blieb mit dem linken Hinterhuf in einer Wurzel hängen. Das war die Gelegenheit! Tarun nahm Anlauf und sprang mit einem eleganten Satz, wie ihn nur ein indischer Königstiger beherrschte, zu seiner Beute und landete treffsicher auf ihr. Sofort wandte er den bei Raubkatzen beliebten Kehlbiss an. Die Antilope hatte keine Chance. Sie zuckte noch ein paarmal, bevor sie regungslos neben dem Jäger liegen blieb.

»Wunderbar! Da sag mal jemand etwas von einem verwöhnten Prinzen. Die vielen Abenteuer haben sich gelohnt, ich komme sehr gut allein zurecht. Ich bin geboren, um frei zu sein.« Tarun war stolz auf seinen Jagderfolg und überzeugt davon, mit seiner geplanten Flucht von zuhause das Richtige zu tun.

Rasch brachte er seine Beute zu einem geschützten Ort. Andere Raubtiere könnten das Blut aus großer Entfernung riechen und würden schon bald aus allen Ecken des Waldes kommen, um Tarun das Abendessen streitig zu machen. Was aber noch schlimmer wäre: Ein fremder Tiger könnte auftauchen! Tarun war mit seinen knapp vier Jahren nicht in der Lage, einen Zweikampf mit einem älteren Artgenossen gewinnen zu können. Eine derartige Begegnung wäre fatal für ihn. Wenn er hier draußen überleben wollte, musste er sich von anderen Raubkatzen fernhalten. Er konnte nur darauf vertrauen, dass seine Eltern die Grenzen ihres Reiches gut genug markiert hatten und, dass fremde Tiger dies auch respektieren würden und sich fernhielten.

»Was allerdings nicht dazu beitragen wird, dass ich in unserem Königreich einer Tigerin begegne«, musste Tarun schmunzeln. »Mutter hat immer gesagt, ich darf die Grenzen niemals überschreiten. Uns man soll schließlich auf seine Mutter hören. So kann ich innerhalb unseres Gebiets bleiben, bis ich groß und stark genug bin, um es endgültig zu verlassen. Bis dahin haben sie alle Hoffnung auf meine Rückkehr aufgegeben und Najuk hat sich bestimmt schon als neuer Thronfolger angebiedert. Soll er sich doch Gedanken um eine Partnerin machen. Ich will frei sein. Ich werde frei sein - für immer!«

Endlich fand Tarun ein geschütztes Fleckchen, wo er genüsslich und ungestört essen konnte. Fortwährend richtete er seine Ohren in verschiedene Richtungen, um schnell genug einen nahenden Konkurrenten erfassen und die Flucht antreten zu können. Er befürchtete, dass der Tumult, den er bei seiner Jagd losgetreten hatte, andere Raubtiere angelockt haben könnte. Aber unser junger Held hatte Glück. Kein Feind weit und breit.

Nachdem er seine Beute fast restlos verspeist hatte, schleppte er die Überreste ein paar Meter entfernt, um sie an einer geschützten Stelle abzulegen und notdürftig abzudecken. Anschließend legte sich Tarun unter einen dichten Busch, schloss seine müden Augen und schlief bald darauf erschöpft und vollgefressen ein.

Es war mittlerweile späte Nacht und man konnte nicht mehr die Pfote vor Augen sehen. Alles war still, nur die Grillen sangen ihre Liebeslieder und eine leichte Brise wiegte die Wipfel der Bäume. Tarun schlief tief und fest und bemerkte nicht, dass sich eine Schlange zu ihm gesellte und ihn eindringlich anstarrte.

Es war eine Kobra, die auf ihrem Nacken ein sonderbares helles Mal trug. Ansonsten war ihr langer und wendiger Körper nahezu schwarz. Sie umschlängelte Tarun und ließ den Blick dabei nicht von ihm ab. Erst als sie bemerkte, dass der junge Tiger unruhig zu werden schien, flitzte sie mit ihrem beinlosen Leib lautlos in den dichten Urwald zurück.

Tarun ahnte von diesem kriechenden Besuch nichts, denn in jener Nacht hatte er einen seltsamen Traum. Derartiges hatte der Prinz in seinem ganzen Leben noch nicht geträumt.

Tarun sah vor sich ein Wesen, von der Silhouette eines Tigers. Aber diese Gestalt war vollständig weiß, wie ein Geist aus einer anderen Welt. Ihre Augen strahlten in einem himmelblauen Licht und fixierten ihn. Er wollte zu ihr hingehen, doch sie rannte vor ihm davon. Tarun versuchte, sie zu rufen, blieb jedoch stumm. Er lief ihr nach, aber sie hielt nicht an. So plötzlich wie sie aufgetaucht war, verschwand das mysteriöse Geschöpf wieder. Tarun suchte die Tigergestalt, denn er fühlte sich magisch von ihr angezogen, allerdings konnte er sie nicht finden. Stattdessen umgab ihn Dunkelheit, je weiter er sich in den Dschungel vorwagte und wie aus dem Nichts stand ein riesiger Elefant vor ihm und bäumte sich bedrohlich auf.

In diesem Moment schallte das Trompeten der uralten, in Einsamkeit lebenden Elefantenkuh Shiva durch den Dschungel. Tarun schreckte aus seinem Traum auf und wusste sofort, von wem dieser Lärm kam.

Dass Shiva in für Elefantenkühe ungewöhnlichen Lebensumständen lebte, war nicht verwunderlich. Sie war bis weit über alle Grenzen als jähzornig und verbittert bekannt. Keiner kannte den Grund, warum sie so war, denn die Geschichte der vierzig Jahre alten Elefantin war heute niemandem mehr geläufig. Doch alle wussten: Wo Shiva auftauchte, half nur eines - weglaufen, so schnell einen die Beine tragen konnten.

Auch Tarun wusste um die Gefährlichkeit dieses Dickhäuters, aber irgendetwas trieb ihn zu der unfassbar dummen Tat, genau in ihre Richtung zu laufen, und er lief nicht vorsichtig. Nein, er rannte zu dieser Furie, als ob es seine Lebensaufgabe wäre, und dachte nicht einmal darüber nach, was es für Konsequenzen für ihn haben könnte.

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