Viertes Honigbonbon

Montgomery bewegte sich beim Sitzen peinlich berührt hin und her. Seine Schultern sanken nach unten und er wich ihrem Blick aus.

„Ähm ...", machte er, nicht wissend, was er erwidern sollte.

„Artikuliere dich richtig! Sitz aufrecht! Hör auf, wie ein kleines Kind zu zappeln! Oder versagt Hektors Unterricht bei dir?", schnauzte Amme Belinda ihn an.

„Nein." Montgomery setzte sich starr wie ein Baum hin, drückte den Rücken durch und räusperte sich. „Ich weiß nicht, wo Montasser ist, Amme Belinda."

„Und wieso nicht? Er ist dein jüngerer Bruder, du solltest auf ihn aufpassen."

„Ich wollte ihn begleiten, aber er ist schon verschwunden, und ..."

„Montgomery." Belindas Stimme klang vernichtend und die Drohne musste sich beherrschen, nicht wieder ihre Haltung zu verlieren. „Als der Ältere von beiden bist du verpflichtet, auf Montasser aufzupassen."

„Uns trennt eine halbe Stunde", murmelte Montgomery vor sich hin.

„Es ist egal, ob eine halbe Stunde, ein halber Tag oder ein ganzes Jahr. Du hast Pflichten", erinnerte Belinda ihn mit gestochen scharfer Stimme. Da Montgomery wusste, dass eine Diskussion mit ihr zwecklos war, senkte er nur den Kopf.

„Natürlich, Amme Belinda. Entschuldigt mein Verhalten, es wird nicht wieder vorkommen."

Ein kleines Lächeln breitete sich auf ihren schmalen, runzeligen Lippen aus.

„Einsichtigkeit ist eine Tugend, Montgomery. Deswegen habe ich nur Gutes von Hektor über dich gehört. Sehr fleißig. Immer höflich und zuvorkommend. Äußerst intelligent. Du bist eine Vorzeigedrohne, von der sich andere eine Scheibe abschneiden könnten."

Es war klar, dass sie mit Letzterem Troy meinte.

„Ich bin mir sicher, dass auch diese Drohnen eines Tages einsichtig sein werden", behauptete Montgomery, wobei seine zweifelnden Gedanken an Troy diese Worte eine Lüge straften.

Amme Belinda schien noch etwas sagen zu wollen, aber da wurde ihre Aufmerksamkeit von etwas Anderem gefesselt.

„Ah, Drohne 667. Wie schön, dass du ebenfalls eingetroffen bist."

Montgomery sah, wie sein Bruder neben ihn trat und sich ebenfalls hinkniete. Die Hände sittsam auf die Oberschenkel abgelegt und den Kopf gesenkt, saß Montasser da und sagte: „Entschuldigt meine Verspätung, Amme Belinda. Aber ich wartete auf meinen Bruder, doch mir war nicht bewusst, dass er bereits ohne mich losgezogen war!"

Dieser miese ...!

Wenn Troy jetzt hier wäre, würde er Montasser anfahren und ihn dazu auffordern, die Wahrheit zu sagen, egal, ob Amme Belinda zuhörte oder nicht. Und auch Montgomery wären die Worte beinahe von der Zunge gehüpft, doch schnell genug hielt er sich im Zaum und schluckte seine aufkeimende Wut herunter. Seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt und die Drohne zwang sich dazu, sich wieder zu entspannen. Montasser tat alles, um ihn in ein schlechtes Licht zu rücken, doch glücklicherweise verhielt Montgomery sich so vorbildlich, dass es kaum etwas ausmachte.

„Ich habe das Gefühl, die Kommunikation zwischen euch beiden ist nicht so, wie sie sein sollte", schalt Amme Belinda sie beide. „Ihr seid Zwillinge. Ihr solltet miteinander auskommen."

Keine der beiden Drohnen antwortete. Belinda war sehr geschickt darin, einem das Wort im Mund umzudrehen und man musste bei ihr äußerst vorsichtig sein

„Ich weiß, der Konkurrenzkampf unter euch beiden ist besonders groß", fuhr die Amme fort und lehnte sich in ihrem Sessel zurück, faltete die Hände in ihrem Schoß. „Eine Zwillingsdrohne zu sein ist wahrlich kein einfaches Leben, wenn man ständig mit seinem eigenen Spiegelbild verglichen wird. Aber ihr dürft euch nicht als Konkurrenten sehen. Wir sind eine Gemeinschaft, ein Kollektiv. Jeder stützt den anderen. Fällt eine Säule, droht alles zusammenzubrechen. Ihr befindet euch in einer speziellen Situation, aber ihr seid nicht die Ersten, denen es so geht. Es ist euch bewusst, dass am Ende eine Drohne übrigbleiben wird – aber dies muss keine von euch sein."

„Bisher blieb immer eine Zwillingsdrohne übrig", wagte Montasser es, zu bemerken und sprach dabei genau Montgomerys Gedanken aus.

„Vielleicht ist es dieses Mal anders. Jeder Stock schreibt seine eigene Geschichte", meinte Amme Belinda mit sanfter Stimme. „Euer Konkurrenzdenken ist Gift für das Kollektiv. Legt dies ab, kommt miteinander klar. Und alles andere wird sich ergeben. Lebt im Hier und Jetzt, nicht in der Zukunft. Und selbst, wenn einer von euch übrigbleibt, dann wird demjenigen die ehrenwerte Aufgabe übertragen, die neuen Drohnen auszubilden. Das ist ein wichtiger Aspekt im System und darf niemals vernachlässigt werden."

Es war beruhigend, den Worten der Amme zu lauschen. Ihre Stimme klang mit einem Mal so einlullend und beruhigend wie eine warme Decke um seine Schultern, nicht mehr so eisig wie die Temperaturen, die in dem fernen Land Pagonos herrschten.

„Wir verstehen, Amme Belinda", sagten die beiden knienden Drohnen im Chor. Dennoch bezweifelte Montgomery, dass Montasser sein Verhalten ihm gegenüber ändern würde. Es war nicht nur das Konkurrenzdenken, das zwischen ihnen stand, sondern die grundsätzliche Antipathie, die sie füreinander hegten.

Sie waren nur wenige Drohnen, doch alle von einem sehr unterschiedlichen Charakter. Und auch, wenn ihnen beigebracht wurde, sich gegenseitig zu mögen, war das nicht einfach. Manchmal war es unter den Drohnen so, als würden zwei verschiedene Welten aufeinanderprallen und teilweise entbrannten große Diskussionen aufgrund von Meinungsverschiedenheiten.

Dank ihrer Ausbildung und ihrer Nahrung waren Drohnen, auch wenn sie eine weitaus geringere Anzahl als die Arbeiterinnen besaßen, sehr vielschichtiger und – auch das musste Montgomery zugeben – intelligenter als die Arbeiterinnen, die oft nichts anderes als ihre Aufgaben im Kopf hatten. Sie erledigten ihre Arbeit bis an ihr Lebensende, niemand machte ihnen ihren Platz streitig oder kritisierte ihr Handeln. Nur wenige Arbeiterinnen entwickelten individuelle Persönlichkeiten, denn für sie bestand kaum eine Möglichkeit, sich zu entfalten. Aber das brauchten sie auch nicht, um gut zu arbeiten.

Die Drohnen hingegen besaßen mehr Zeit, sich um sich selbst Gedanken zu machen. Sie entwickelten verschiedene Charaktere, Montgomery und Montasser waren das perfekte Beispiel dafür, wie unterschiedlich Drohnen nur sein konnten. Daher gab es mehr Streitigkeiten unter ihnen, auch wenn diese, verglichen mit anderen Völkern, immer noch sehr selten auftraten. Und dennoch bedeutete ein Streit stets neue Disharmonien, die sie sich, als eingeschworene Gemeinschaft, eigentlich nicht leisten konnten.

Und dennoch war es so.

Aber das System arbeitete weiter und auch die Drohnen untereinander respektierten und achteten sich trotz ihrer Vorbehalte. So war es, wenn man zu einem Kollektiv gehörte.

Niemand widersprach den Regeln, die galten.

So wurde ihr Überleben gesichert, so wurde das Überleben aller Stöcke gesichert. Sie waren eine Einheit, eine Gemeinschaft, ein Gesamtbild, das sich niemals veränderte.

Abgesehen von ...

Montgomery schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken loszuwerden. Nein, er durfte nicht an die schwarzen Schafe der Stöcke denken. Der Rest von Tartaros sprach schon genug darüber, da mussten die Melisaden selbst es nicht auch noch tun. Doch die anderen Völker mischten sich nicht ein, denn solange die Stöcke ihre Ware lieferten, waren sie unentbehrlich.

Und dieser Zustand musste aufrechterhalten werden, egal, was passieren würde.

„Aber ihr seid nicht hier, damit ihr euch den Vortrag einer alten Frau anhört." Amme Belinda lächelte sie sachte an. „Ihr wisst wahrscheinlich, wieso ich euch kommen ließ."

„Der Hochzeitsflug", hauchte Montgomery und beugte sich ein wenig vor. „Unser einundzwanzigstes Lebensjahr ist beendet."

„Wir dürfen endlich teilnehmen", ergänzte Montasser und in seinen blauen Augen sah Montgomery die gleiche Freude, die er selbst verspürte.

„Richtig. Der bedeutsamste Tag im Leben einer Drohne. Ihr wurdet einundzwanzig Jahre lang auf dieses Ereignis vorbereitet und nun ist es so weit. Der Hochzeitsflug unserer Königin Anita findet in einem halben Monat statt. Bis dahin erhaltet ihr eure Kleidung und ein Einzelgespräch mit Hektor, der euch noch einmal intensiv darauf vorbereitet. Der erste Hochzeitsflug für Drohnen ist immer etwas ganz Besonderes."

„Ich kann es gar nicht erwarten." Montasser sah auf einmal wie ein kleines, aufgeregtes Kind aus. Aber Montgomery war sich sicher, dass er gerade nicht anders wirkte und er konzentrierte sich darauf, nicht ebenfalls zu zappeln, sondern hielt seine starre Haltung mit geradem Rücken bei.

„Eine sehr gute Einstellung", lobte Amme Belinda. „Ihr wisst, wozu der Hochzeitsflug gut ist?"

„Die Königin sucht sich eine Drohne aus, die ihr neue Melisaden in den Bauch pflanzt", antwortete Montgomery wie aus der Pistole geschossen.

„Die wirklich wahre Pflicht einer Drohne", stimmte Belinda zu. „Den Fortbestand der Gesellschaft zu sichern. Eine überaus wichtige und ehrenvolle Aufgabe, sobald ihr ausgewählt werdet. Dank euch wird Stock 58 auf ewig Bestand haben und jeder Probe standhalten."

„Unsere Kinder werden die Ehre weitertragen", wisperte Montasser voller Ehrfurcht. „Unsere Seelen werden in den neuen Drohnen weiterleben."

„Wir sterben nie", murmelte Montgomery zusätzlich und sah auf seine Finger.

„Der Tod ist eine Befreiung für euch", meinte Belinda und schloss die Augen. „Ihr gebt eure Leben, um Platz für neues zu schaffen. Ein ewiger Kreislauf, in sich geschlossen."

„Ein perfektes System." Erneut sprachen die beiden Zwillingsdrohnen im Chor. Es war ein ewiges Mantra, das ihnen seit ihrer Geburt vorgesprochen wurde. Es war in den Köpfen von allen Drohnen eingebrannt.

Niemand hatte Angst vor dem Tod.

Montgomery hatte gelesen, dass die anderen Völker nicht so leicht damit umgingen, ja, teilweise sogar traurig darüber waren, wenn jemand starb. Aber für die Melisaden war es die Erfüllung ihres Lebens. Sie mussten sterben, damit das Kollektiv weiterleben konnte. Konnte es eine größere Ehre geben als das?

Sein Leben für ein anderes zu geben war in Montgomerys Augen das wertvollste Geschenk, das er dem Stock machen konnte.

Und deswegen war er willig, zu sterben, sollte die Zeit für ihn gekommen sein.

„Ihr seid bereit für den Hochzeitsflug." Amme Belinda musterte sie ganz genau. „Ich sehe ein wundervolles Glitzern in euren Augen. Ich sehe die Bereitschaft in euch, eurem Sinn des Lebens nachzukommen. Ich sehe eure Hingabe für Stock 58, eure Leidenschaft für unser System. Ihr seid gute Drohnen."

Ich bin eine gute Drohne.

Der Satz erfüllte Montgomery mit ungeheurem Stolz. An Montassers Gesichtsausdruck sah er, dass sein Bruder genau wie er selbst fühlte und dieses Mal schaffte er es, sich aufrichtig mit ihm gemeinsam zu freuen.

„Geht zu den Schneiderinnen und lasst eure Maße nehmen", befahl Amme Belinda ihnen schließlich. „Bis zum Abendessen ist noch Zeit dafür. Hektor wird zu euch kommen, sobald er euch vorbereiten möchte. Bis dahin vergesst nicht, dass ihr stolze Mitglieder von Stock 58 seid."

„Niemals." Montgomery stand auf. Durch das lange Knien waren seine Beine taub geworden und nun kribbelten sie unangenehm. Doch die Motivation und sein Enthusiasmus waren viel größer und vertrieben das Gefühl mit Leichtigkeit. Montasser und er verneigten sich tief vor Amme Belinda und dankten ihr für ihre Worte.

Dann verließen sie die Große Kinderwabe. Montgomery schloss die Tür hinter sich und sah mit einem freudigen Strahlen zu Troy, der es sich auf dem Boden gemütlich gemacht hatte.

„Montasser, sollen wir gemeinsam zu den Schneiderinnen gehen?", fing Montgomery an und drehte sich zu seinem Bruder um, sah aber nur noch dessen Hemdzipfel hinter einer Biegung des Ganges verschwinden. Enttäuscht ließ die Drohne ihre Schultern sinken. Einen Augenblick lang hatte er tatsächlich geglaubt, die Barriere aus Hass und Eifersucht überwunden zu haben, doch Montasser schien andere Pläne zu haben.

„Mach dir nichts draus." Troy legte ihm tröstend einen Arm um die Schultern. „Ich habe sowieso keine Lust auf seine Visage, während die Schneiderinnen arbeiten. Oder auf seine Bemerkungen. Da ist es besser, wenn wir allein sind, ist sowieso viel lustiger!"

Montgomery musste seinem Freund zwar zustimmen, dennoch ... „Amme Belinda sagte zu uns, wir sollten uns zusammenreißen. Er ist immerhin mein Bruder!"

„Na und?" Troy zuckte nur mit den Schultern. „Ich kümmere mich auch nicht um meine Schwestern und dir sind die deinen ebenfalls egal. Montasser ist selbst schuld daran, er verhält sich nämlich wie ein kleiner Arsch. Liegt wohl daran, dass er die Anomalität darstellt und ihm dieser Gedanke gehörig gegen den Strich geht!"

„Montasser ist keine Anomalität", verteidigte Montgomery seinen Bruder aus Pflichtgefühl heraus. „Er ist eine vollwertige Drohne, wie du und ich auch."

„Und trotzdem spielt er nur die zweite Geige." Troy grinste, dann nickte er in Richtung Treppenhaus. „Aber diese Diskussion verliere ich nur. Lass uns lieber zu den Schneiderinnen gehen, dann haben wir vor dem Abendessen noch genug Zeit für deine geliebte Bibliothek." 

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