Fünftes Honigbonbon

"Das erste Jahr trägt immer Weiß. Damit die Königin auch weiß, dass du zum ersten Mal dabei bist. Weil es dein erstes Jahr ist, weißt du?"

„Ich verstehe." Montgomery lächelte die Schneiderin, die sich aufgeregt mit dem Namen Rita vorgestellt hatte, lieb an, obwohl ihm das Wort weiß bereits zu den Ohren raushing.

„Sehr gut. Ich bin das erste Jahr dabei. Also, beim Schneidern", plapperte Rita glücklich weiter, während sie die richtige Beinlänge von Montgomery absteckte. Die Drohne hatte sich ein paar vorgefertigte Kleidungsstücke anziehen müssen und die bis zum Hochzeitsflug auf seine Größe abgeändert wurden. Der weiße Frack stand ihm gut, wie Troy ihm vorher noch einmal versichert hatte und die Drohne konnte sich im Spiegel betrachten, während Rita arbeitete. Neben ihr befanden sich noch zwei weitere Schneiderinnen im Raum, die die fleißige Arbeiterin mit wohlwollenden Blicken bedachten.

„Was genau trägt das dritte Jahr?" Troy saß breitbeinig auf einem umgedrehten Stuhl und ließ lässig die Arme über die Lehne baumeln, während er wartete.

Rita hielt kurz inne und überlegte, dann antwortete sie: „Ich glaube, Rot. Oh, und es ist ein so schönes Rot, du wirst begeistert sein!"

„Dieses hier?" Troy angelte aus einer neben ihm stehenden Kiste einen Stofffetzen, der im sanften Licht wie ein Edelstein schimmerte. Rita nickte begeistert und meinte: „Ja, genau das ist es. Anita trägt auch weiß, weil es ja ihr erster Hochzeitsflug ist. Dann seid ihr im Partnerlook unterwegs!" Sie kicherte, während sie fleißig weitere Stecknadeln in Montgomerys Hosenbeine steckte.

„Ihr Kleid ist bestimmt sehr aufwendig, oder?", fragte die Drohne und sah dabei zu, wie Troy das Stückchen Stoff gegen das Licht hielt, als wolle er die Farbe ganz genau prüfen. Wahrscheinlich war ihm einfach nur so langweilig, dass er irgendeine sinnlose Beschäftigung brauchte.

„Wir nähen seit fast einem Jahr daran", erklärte Rita ihm. „Der erste Hochzeitsflug für eine Königin ist immerhin etwas Besonderes. Wie für euch Drohnen!" Sie stand auf und zupfte noch ein wenig an seiner Hose herum, ehe sie zufrieden war. „Streck deine Arme aus."

Montgomery tat wie geheißen und fragte: „Hast du Anita schon einmal kennengelernt?"

Er selbst kannte die Königin nur aus der Ferne. Nicht, dass es ihm etwas ausmachen würde, Anita aus der Ferne zu bewundern, sie war wirklich eine Schönheit, doch er interessierte sich auch für ihren Charakter. Und wenn Rita an ihrem Hochzeitsflugkleid gearbeitet hatte, dann standen die Chancen ja gar nicht mal so schlecht, dass sie sie näher kannte.

„Oh, sie ist bezaubernd!" Rita seufzte schwermütig auf. „Ein so liebes Geschöpf, so zart wie eine Blume und wirklich niedlich."

Zu dieser Erkenntnis war Montgomery auch schon gekommen und ein kleines Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Hat sie denn schon irgendetwas über uns Drohnen gesagt?"

„Sie findet euch Zwillingsdrohnen interessant", gab Rita bereitwillig zur Auskunft und rückte die zu große Jacke auf seinen Schultern zurecht, ehe sie anfing, die richtige Armlänge abzustecken. Dafür trug sie ein kleines Kissen um das Handgelenk gebunden, aus dessen quietschgelben Stoff etliche Nadelköpfe rausguckten, die sie mit gekonnten Bewegungen rausholte. „Aber sie kann sich nicht merken, wer von euch wer ist. Ihr seht euch aber auch ähnlich!" Sie kicherte. „Ist das normal?"

„Was?", fragte Montgomery verwirrt.

„Ja, dass Zwillingsdrohnen gleich aussehen. Arbeiterinnen sehen ja auch nicht wirklich gleich aus." Für Montgomery ähnelten sich seine Schwestern schon ziemlich und einen Augenblick lang überlegte er, wie er Ritas Frage am besten beantworten sollte.

„Ja, das ist normal", meinte Troy schließlich. „Zwillingsdrohnen sind zwar selten, aber wenn, dann sehen sie alle gleich aus. Oder zumindest sehr ähnlich."

„Wie das wohl funktioniert", sinnierte Rita vor sich hin und trat auf Montgomerys andere Seite.

„Nun ja, die melisadische Genetik stellt viele Wissenschaftler vor ein Rätsel. Bei anderen Völkern ist das alles einfacher. Da gibt es zum Beispiel eineiige und zweieiige Zwillinge, das ist leichter zu erklären ...", fing Montgomery an, sah dann aber Troys panisches Kopfschütteln. Leider zu spät. „Rita sah ihn mit großen Augen an und fragte: „Was gibt es?"

Verdammt.

Die nächste halbe Stunde war Montogmery dazu gezwungen, Rita zu erklären, wie Babys im Mutterleib entstanden. Dummerweise hörten auch die anderen beiden Schneiderinnen interessiert zu, aber glücklicherweise stellte niemand von ihnen eine Frage. Wahrscheinlich waren sie mit den ganzen Informationen bereits überfordert.

„Das ist ja faszinierend", fasste Rita seinen kleinen Vortrag am Ende zusammen. Montgomery fragte sich, wie viel sie sich von dem, was er erzählt hatte, tatsächlich merken würde, doch er hakte nicht weiter nach.

„Rita, sieh mal, du musst die Jacke noch auf die richtige Länge abstecken", erinnerte eine ihrer Kolleginnen sie.

„Oh, ja!", rief Rita aus und machte sich sofort an die Arbeit. „Es muss immerhin schön und perfekt aussehen, wenn du auf den Hochzeitsflug gehst", sagte sie. „Aber wir kriegen das schon hin. Bisher war jede Drohne sehr zufrieden mit unserer Arbeit."

„Ihr macht auch gute Arbeit", lobte Montgomery sie und erntete dafür ein strahlendes Lächeln der Arbeiterin.

„Ich mag euch Drohnen. Ihr seid immer so lieb und zuvorkommend", meinte Rita glücklich und arbeitete fröhlich summend weiter.

„Gerade unser Monty ist ein ganz Lieber", meinte Troy grinsend.

„Monty? Wer ist das?" Rita sah ihn interessiert an. Troy fiel sein Lächeln aus dem Gesicht, dann räusperte er sich und zeigte auf Montgomery.

„Drohne 666, Montgomery. Spitzname: Monty", stellte er vor. Die besagte Drohne rollte mit den Augen und schüttelte leicht den Kopf. Rita sah das nicht, sondern meinte: „Ich verstehe. Aber heißt der andere nicht auch so ähnlich? Wie ist denn dann sein Spitzname?"

„Nicht jeder hat einen Spitznamen, Rita", beeilte Montgomery sich zu sagen. „Montasser hasst es, wenn man ihn Monty nennt, deswegen macht es keiner."

„Magst du es?", wollte die Arbeiterin wissen und trat von ihm zurück, um ihr Werk zu begutachten.

„Mir macht es nichts aus." Mit den ganzen Stecknadeln, deren bunte Köpfchen sich farbenfroh von dem weißen Stoff abhoben, fühlte er sich wie ein Dekorationsartikel in der Großen Kinderwabe. Dennoch kam er nicht umhin zuzugeben, dass sich das Weiß sehr schön zu seiner gebräunten Haut machte und das Grün seiner Augen strahlend zum Vorschein brachte.

Die ganze Nähstube war recht klein, jedoch mit gemütlichen Sesseln und großen Tischen zum Zuschneiden ausgestattet. Einige Puppen standen herum, davon die ein oder andere mit halbfertigen Sachen bekleidet. Die beiden anderen Arbeiterinnen stickten gerade ein aufwendiges Muster auf ein schwarzes Kleid. Da es nicht weiß war, ließ sich daraus schließen, dass es wahrscheinlich für ihre ehemalige Königin Gloria angefertigt wurde, die bei dem Hochzeitsflug ihrer Tochter ebenfalls zugegen sein würde. Es war warm in dem Raum und leider gab es kein Fenster zum Lüften. Stattdessen arbeitete die Klimaanlage gegen die Hitze an, dennoch spürte Montgomery, wie kleine Schweißperlen seine Stirn herunter kullerten.

„So, ich bin fertig. Du kannst dich wieder umziehen", meinte Rita und zog sich einen kleinen Hocker heran, um sich darauf zu setzen. Vorsichtig schälte Montgomery sich aus der feierlichen Kleidung und schlüpfte dann wieder in seine gemütlichen Sachen. Rita nahm sie entgegen, faltete sie ordentlich und legte sie auf einem der Tische ab. Dann schob ihm dann einen Stift und einen Zettel zu.

„Schreib bitte deine Drohnennummer auf", bat sie ihn und sah dann interessiert dabei zu, wie Montgomery mit seiner schönen Handschrift fein säuberlich 666 auf das weiße Papier schrieb. Rita nahm es an sich, dann überprüfte sie die geschriebenen Zahlen mit denen auf seinem Arm. Ihr Finger strich die schwarze Tätowierung entlang und ihr Mund formte immer wieder leise das Wort Sechs, während sie ihn musterte.

„Es scheint zu passen." Sie nickte erleichtert.

„Ich würde doch niemals Probleme machen." Montgomery lächelte sie höflich an. Rita legte den Zettel auf seine Kleider, dann steckte sie die Hand in eine daneben bereitstehende Schüssel. Es knisterte ein wenig, dann hielt sie ihm ein paar Honigbonbons hin, die einzige Süßigkeit, die im Stock außerhalb der Mahlzeiten erlaubt war.

Und jede Drohne war vernarrt in diese Bonbons. Montgomery spürte die Aufregung in sich hochsteigen, als er sie entgegennahm. Rita gab ihm drei Stück und obwohl sie sich warm in seiner Handfläche anfühlten und wahrscheinlich schon halb zerlaufen waren, freute er sich, gleich eines zu probieren, obwohl das Abendessen bald bevorstand. Keine Drohne konnte einem Honigbonbon widerstehen.

„Weil du so lieb bist." Rita lächelte.

„Danke", antwortete Montgomery aufrichtig und sah zu Troy. Dieser musterte ihn mit großen Augen und der Wunsch ließ sich aus seinen kleinen Seelenspiegeln bereits ablesen. Montgomery wusste in diesem Moment, dass er nicht allein alle drei Bonbons essen würde.

Es war gut für Troy, dass Montgomery eine der Drohnen war, die bereitwillig teilten.

„Wir geben dir Bescheid, wenn alles umgenäht ist und dann musst du noch einmal zur Anprobe kommen", gab Rita ihm noch mit auf den Weg.

„Alles klar. Dann wünsche ich euch noch einen schönen Abend." Montgomery nickte ihnen allen zu, dann verließ er mit Troy die Schneiderstube. Sein bester Freund eilte an seine Seite und hakte sich bei ihm unter.

„Rita macht ihre Arbeit gut", meinte er.

„Sie ist auf jeden Fall sehr wissbegierig", erwiderte Montgomery.

„Ich musste mich beherrschen, nicht aufzulachen, als du ihr eineiige und zweieiige Zwillinge erklärt hast!"

„Erinnere mich bitte nicht daran, sondern sorg dafür, dass ich beim nächsten Mal einfach meine Klappe halte." Montgomery stöhnte auf.

„Ich fand, du hast das gut gemacht." Troy knuffte ihn gegen die Schulter, während sie den weißen Flur entlanggingen, an dessen Wänden sich ein wenig Schattenefeu entlanghangelte, den sie meistens als Dekoration für ihre Räume nutzten.

„Du wärst gar nicht mal so schlecht als Hektors Nachfolger!"

„Ich will aber nicht sein Nachfolger werden", wehrte Montgomery ab. „Ich möchte am Hochzeitsflug teilnehmen und irgendwann von Anita ausgewählt werden!"

Der Gedanke an Anita brachte seinen Magen dazu, zu rumoren. Montgomery versuchte, das Gefühl zu ignorieren und packte stattdessen das erste Honigbonbon für sich aus. Die typische gelb-braune Farbe lachte ihm entgegen und auch, wenn die harte Süßigkeit bereits leicht geschmolzen war und einige Fäden zog, verbreitete sich der intensive Honiggeruch schnell und die beiden Drohnen seufzten vor Glück auf.

„Kriege ich eines ab?"

„Es wundert mich, dass du dich so lange beherrschen konntest!" Montgomery lachte und reichte seinem besten Freund ein Bonbon. Troy schnappte es sich und antwortete: „Ich muss ja immerhin so tun, als sei ich mit dir befreundet, weil ich dich mag und nicht, weil du so viele Bonbons zugesteckt kriegst!"

Die Süße des Honigs gepaart mit einer fruchtigen, undefinierbaren Note breitete sich in Montgomerys Mundraum aus. Er liebte den Geschmack der Süßigkeiten und könnte jeden Tag mehrere davon essen, doch leider ergab sich nur selten eine Gelegenheit, bei denen Arbeiterinnen den Drohnen ein paar Bonbons zusteckten. Wobei die meisten während der Vorbereitungen des Hochzeitsflugs spendabler waren als den Rest des Jahres.

„Ich habe dich auch lieb", erwiderte die gut gelaunte Drohne deswegen nur. „Aber jetzt komm: Die Bibliothek wartet auf uns!"

„Du willst wirklich noch lernen?" Troy wirkte eher mäßig begeistert und hatte er vorher noch so schelmisch die Zeit in der Bibliothek erwähnt, schien sie ihm jetzt wie eine Strafe vorzukommen.

„Du hast es mir versprochen. Also komm jetzt auch." Energisch zog Montgomery seinen Freund mit sich.

„Und wenn du heute deine Schönschrift übst, dann lasse ich mich vielleicht überreden, dir auch noch das letzte Bonbon zu geben."

Diese Aussicht schien Troy ungemein zu motivieren, denn plötzlich lief die Drohne einen Schritt schneller.

„Na dann los! Auf in die Bibliothek!", rief er Montgomery lachend zu. 

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