Erstes Honigbonbon
Die Spitze seines Füllfederhalters kratzte auf dem Papier und war, begleitet von Papierrascheln und einem gelegentlichen Aufseufzen, das einzige zu hörende Geräusch. Es war kühl in dem lichtdurchfluteten Raum. Die weißen Wände reflektierten das elektrische Licht, das dem des Tages so sehr glich, dass man das Gefühl bekam, sich unter freiem Himmel zu bewegen.
4500 Kelvin, dachte sich Montgomery und ein leichtes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Kommt dem Tageslicht am nächsten. 2700 Kelvin ist ein eher warmweißes Licht, während 6500 Kelvin für sehr kaltes Licht mit hohem Blauanteil steht.
Die belehrende Stimme Hektors, als die Lehrerdrohne ihm und den anderen diese Information erzählt hatte, erklang in seinen Gedanken und die junge Drohne schüttelte nur leicht den Kopf über sich selbst.
Er liebte Wissen.
Aber noch mehr liebte er es, dieses Wissen abzurufen und es sich in Gedanken immer und immer wieder vorzusagen, als habe er Angst, er könne es eines Tages vergessen. In einem kleinen Selbstexperiment hatte Montgomery herausgefunden, dass er selbst liebend gerne las, wenn er eine Lichtfarbe von 2700 Kelvin haben konnte. Es war angenehm und entspannend. Andere hingegen bevorzugten das normale Tageslicht, wiederum andere das kalte Licht.
Ein subjektives Gefühl.
Wie so vieles andere ebenfalls.
Es war wie mit der Mathematik, mit der sich die junge Drohne gerade eben beschäftigte. Persönlich gesehen liebte er Zahlen und Formeln und konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als seinen Nachmittag mit komplizierten Berechnungen zu verbringen.
Sein bester Freund Troy hingegen zog es lieber vor, schnarchend auf dem in rotem Leder eingeschlagenen Mathematikbuch zu liegen. Eine kleine Speichelpfütze hatte sich auf dem empfindlichen Einband gesammelt und Hektor würde, wenn er Troy erwischte, wahrscheinlich einen halben Nervenzusammenbruch kriegen.
Und nicht auszudenken, was die Bibliotheksdrohne zu dieser Misshandlung nur sagen würde!
Zögernd ließ Montgomery seinen Stift sinken. Die anderen Drohnen – acht an der Zahl – schrieben immer noch fleißig und brüteten über den Aufgaben, mit denen Hektor sie alleine gelassen hatte, um etwas mit Amme Belinda besprechen zu können. Aber er würde bald wieder da sein und wenn Troy seine Aufgaben nicht beendet hatte, würde er Ärger bekommen. Die Drohne war bereits einmal sitzen geblieben, eine Schande in ihrem System, und ein zweites Mal würde Troy sich nicht erlauben können.
Sie besaßen genug Drohnen, um ihn zu ersetzen.
Einen Augenblick lang ließ Montgomery den Blick durch den Klassenraum schweifen. Ihre Tische waren aus Dhatasanti, einem Metall, das nur im Großen Nichts vorkam, gefertigt worden, mit weißen, sterilen Platten, die sie jedes Mal abputzen und desinfizieren mussten, wenn sie auf den Gang traten. Der Boden und die Wände bestanden aus dem gleichen Material, kein einziges Fenster schmückte den Raum. Eine große, altmodische Tafel stand am anderen Ende des Raumes, auf deren weißer, glänzender Oberfläche in Hektors schöner Handschrift ihre Aufgaben standen. Viele andere Stöcke besaßen bereits modernere Anlagen, hoch entwickelte Technologien, doch Stock 58 hatte noch keine Maßnahmen ergriffen, aufzurüsten. Keine ihrer Königinnen hatte den Wunsch verspürt, die Klassenräume so zu gestalten, dass man mit Computern arbeitete oder gar ganze Projektionen erstellen konnte. Diese Programme waren speziell für Stöcke mit anderen Schwerpunkten entwickelt worden. Stöcke, die sich mehr mit Technik und Maschinen beschäftigten.
Stock 58 hingegen betrieb Land- und Tierwirtschaft. Sie benötigten keine hohe Technologie, sondern fleißige Arbeiterinnen und eine gesunde Vegetation.
In den Ecken standen große, weiße Tontöpfe, gefüllt mit Erde, in denen kleine Bäumchen standen, deren Äste sich der Decke entgegenstreckten, doch von ihr behindert wurden, immer weiter nach oben zu wachsen. Stattdessen wanden sie sich an dieser entlang, streckten sich zu allen Seiten aus und hüllten sie in ein wunderschönes grünes Blätterdach, was den Eindruck vermittelte, man würde sich mitten in einem Wald befinden. Wenn der sterile Boden jetzt noch mit Erde oder Gras ausgelegt gewesen wäre und die Tische und Stühle aus Holz bestünden, dann hätte Montgomery sich dieser Illusion glatt hingeben können.
Er war zwar noch nie in einem richtigen Wald gewesen, doch er hatte sehr viel darüber gelesen, in alten Büchern und Romanen. Jedes einzelne Wort hatte er förmlich verschlungen, nur, um dann stundenlang mit geschlossenen Augen dazusitzen und sich vorzustellen, in einem solchen wundersamen Wald spazieren zu gehen.
Beinahe hatte er das federnde Gras unter seinen Füßen gespürt, den Geruch von Tannen und anderen Pflanzen eingesogen und das Plätschern eines Flusses gehört. Er hatte an wunderschönen Blumen mit betörendem Duft gerochen und den Bienen zugesehen, wie sie süßen Nektar
sammelten.
Bienen.
Diese Insekten existierten auf Tartaros nicht, er hatte nur von ihnen gelesen.
Montgomery hatte keine Ahnung, wie der Rest des Planeten es schaffte, seine Flora und Fauna aufrecht zu erhalten, doch hier, im Großen Nichts, waren sie dafür zuständig: Über vierhundert Stöcke, alle zwischen den Sanddünen verteilt und ihre Aufgabe erfüllend. Der gesamte Planet hing von ihnen und ihrer Arbeit ab, ihre erworbenen und gezüchteten Erzeugnisse wurden in die kleinsten Winkel von Tartaros exportiert.
Montgomery war stolz darauf, ein Teil dieses überaus wichtigen Systems, dieser Gesellschaft, zu sein.
Deswegen hatte er sich auch vorgenommen, die beste und gehorsamste Drohne zu werden, die Stock 58 jemals gesehen hatte.
Er grinste in sich hinein, dann wandte er sich zu Troy, um ihn anzustupsen. Sein bester Freund erwachte mit einem lauten Grunzer, der ihm einige pikierte Blicke einbrachte, dann richtete er sich auf und strich sich durch die hellbraunen, mittellangen Haare, sodass sie in alle Richtungen abstanden.
„Ist Hektor schon wieder da?", fragte er mit verschlafenem Blick und stierte dann auf den Sabberfleck auf seinem Buch. Mit einer schnellen Bewegung seines Arms wischte er ihn weg, dann sah Troy an die Tafel, schlussendlich auf sein leeres Blatt und gab einen schweren Seufzer von sich.
„Nein, ist er noch nicht. Aber bald, und wenn er merkt, dass du deine Aufgaben nicht erfüllt hast, dann will ich nicht wissen, was er anstellen wird!", zischte Montgomery ihm zu und schüttelte nur den Kopf über seinen Freund. Troy hingegen ließ sich davon nicht beeindrucken, sondern stützte den Kopf auf einem Arm ab. Da er seine Hemdärmel hochgekrempelt hatte, konnte Montgomery sehr gut die mit schwarzer Farbe eintätowierten Zahlen auf seinem rechten, gebräunten Unterarm erkennen.
58.28.17.664
Troy war zwei Jahre älter als er selbst. Bei Drohnen war es nicht verwunderlich, dass große Altersunterschiede bestanden. Es gab nur sechsundvierzig von ihnen in Stock 58, jedes Jahr wurde eine weitere von ihnen geboren, um ihren Fortbestand zu sichern. Zwar wurden sie in verschiedene Altersgruppen eingeteilt, und Troy wäre eigentlich schon ein Jahr weiter, wenn Hektor ihn nicht sitzen gelassen hätte. Die Lehrerdrohne war der Meinung, die Wiederholung täte Troy gut, doch Montgomery war der Ansicht, dass Troys Faulheit nicht zu besiegen war, egal, mit welchen Mitteln Hektor auch versuchte, dagegen anzukämpfen.
Montgomery war froh, einen Freund wie Troy an seiner Seite zu haben. Auf die Drohne konnte er sich immer verlassen, egal, was passierte, auch wenn sie von Grund auf verschieden waren. Aber vielleicht verstanden sie sich ja deswegen so gut.
„Darf ich mal deine Lösung sehen?" Troy linste auf Montgomerys Blatt – oder versuchte es zumindest, denn die Drohne legte ihren Arm über ihr fein Geschriebenes und antwortete: „Auf gar keinen Fall! Das machst du alleine!"
Troy zog ein langes Gesicht. „Ach, komm schon, Monty!", bettelte er. „Du weißt, dass ich das nicht kann."
„Dann lerne es. Du sitzt hier nicht zum ersten Mal", erwiderte Montgomery und schob seinen Zettel weiter von Troy weg, damit dieser nicht noch einmal in Versuchung
geriet.
Troy spielte mit seinem Füllfederhalter herum, dann wollte er wieder ansetzen, als die beiden Drohnen von einem Zischen aus der hinteren Reihe aufgehalten wurden:
„664! 666! Leise sein! Einige wollen hier immerhin arbeiten."
Montgomery rollte mit den Augen, während Troy sich schwungvoll nach hinten drehte.
„Also, Monty ist bereits fertig, 667", erwiderte er und setzte sein charakteristisches, breites Lächeln auf. „Und wie ich sehe, bist du noch nicht einmal halb so weit gekommen. Da fragt man sich wirklich, wer der Bessere von euch beiden ist."
„Troy!", empörte Montgomery sich, und wandte sich ebenfalls um, um seinen Freund strafend anzusehen. Dieser jedoch setzte nur eine unschuldige Miene auf und meinte: „Ich spreche nur das aus, was alle denken."
„Hmpf", machte Drohne 667 und sah dann auf ihr Blatt. „Mein Bruder ist vielleicht in Mathe besser, dafür ist meine Schrift eindeutig schöner."
Montgomery knirschte mit den Zähnen, aber er riss sich zusammen, erinnerte sich an die Verwandtschaft und fragte: „Brauchst du Hilfe, Montasser?"
„Nein, danke", kam die hochmütige Antwort. „Ich brauche keine Hilfe von meinem großen Bruder."
Wobei groß relativ war, denn sie beide unterschieden sich in dieser Hinsicht überhaupt nicht. Zudem waren sie auch gleich alt. Immer, wenn Montgomery die andere Drohne ansah, dann war es so, als ob er in einen Spiegel gucken würde.
Zwillingsdrohnen.
So wurden sie im Stock genannt.
Meistens wurde in jedem Jahr nur eine einzige Drohne
geboren, doch manchmal kam es vor, dass sich die Natur etwas Anderes erdacht hatte. Auch wenn sie mit ihrem Essen den melisadischen Körper weitestgehend unter Kontrolle hatten, ein Ausrutscher passierte immer wieder. Und als vor einundzwanzig Jahren zwei Drohnen geboren worden waren, gab es in Montgomerys Jahrgang im Endeffekt eine Drohne zu viel. Die meisten Stockbewohner störten sich nicht daran; sie brauchten ein paar zusätzliche Drohnen, um, wie Hektor es tat, die jüngeren von ihnen zu unterrichten oder andere Dinge zu erledigen, zu denen die Arbeiterinnen nicht fähig waren, wie Lesen, Schreiben oder mathematische Berechnungen. Es war gut, wenn es mehr als die vierzig Drohnen gab, die Pflicht waren und jeder Stock im Großen Nichts erfüllte diese Quote mit Zufriedenheit.
Mehr als fünfzig Drohnen waren aber nicht erlaubt. Montgomery hatte allerdings noch nie in der Geschichte von einem solchen Fall gelesen, außer zu den Anfängen der Stöcke, in denen vieles sehr chaotisch gewesen war. Aber selbst diese Hürde hatten sie gemeistert und heute stellten sie ein stabiles System dar, das bereits knapp eintausend Jahren überdauerte.
Für Montasser, der als zweites geboren war und deswegen die höhere Drohnennummer erhalten hatte, war es manchmal nicht so einfach. Natürlich wurden sie als Zwillingsdrohnen ständig miteinander verglichen und eine Art Konkurrenzkampf war zwischen ihnen entstanden: Wer würde letzten Endes die bessere Drohne von beiden sein? Für wen würde sich die Königin am Hochzeitsflug entscheiden? Und würde einer von ihnen übrigbleiben, weil es unsinnig war, die gleichen Gene ein zweites Mal zu benutzen?
Manchmal konnte Montgomery die starke Abneigung
von Montasser verstehen.
Oft allerdings ärgerte er sich nur darüber, denn Montasser war selbst eine hervorragende Drohne und hatte eigentlich keinen Grund, so biestig zu seinem Bruder zu sein.
Troy wollte etwas erwidern, doch Montgomery legte seinem besten Freund beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. Die Drohne schloss ihren Mund wieder und wandte sich grummelnd nach vorne, starrte auf die Tafel mit Hektors Aufgaben.
Montgomery drehte sich ebenfalls wieder um und schrieb die letzten Ergebnisse in schöner, geschwungener Handschrift auf. Immer noch war es sehr ruhig in dem Raum, selbst ihr leises Geflüster hatte die anderen Drohnen in ihrer Arbeit nicht gestört. Dennoch spürte Montgomery den einen oder anderen forschenden Blick auf sich liegen. Selbst nach einundzwanzig Jahren waren sie als Zwillingsdrohnen etwas Besonderes, etwas, was man nie müde wurde, anzugucken.
Er hasste es und wünschte sich nicht zum ersten Mal, er würde keinen Zwilling besitzen. Aber Montasser existierte nun mal und Montgomery würde sich mit seinem Bruder arrangieren müssen. Zwar teilten sie sich zwangsweise ein Zimmer, doch ansonsten sahen sie sich meistens nur im Unterricht und zu den Essenszeiten – und selbst da sprach Montasser nur dann mit ihm, wenn es wirklich nötig war.
Die Tür des Klassenraumes öffnete sich. Montgomery hob den Blick und sah Hektor reinkommen, der, wie es für ihn üblich war, ein paar dünne Bücher unter dem Arm trug und diese geistesabwesend auf seinem Schreibtisch ablegte, ohne sie weiter zu beachten.
Hektor war einst selbst eine Zwillingsdrohne gewesen,
die vierundzwanzig Jahre lang von der Königin beim Hochzeitsflug verschmäht worden war.
Daher unterrichtete er die jüngeren Drohnen, eine einerseits sehr ehrenvolle Aufgabe, anderseits jedoch würde Hektor niemals den Sinn seines Lebens erfüllen können.
Es musste deprimierend sein, wenn man auf ewig in der Schmach leben musste, nicht gut genug für die Königin gewesen zu sein. Montgomery hoffte, dass er niemals selbst in dieser Lage sein würde. Es war egoistisch von ihm, so zu denken, und die Drohne bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Doch der Hochzeitsflug und die anschließende Vereinigung von Drohne und Königin war das wichtigste Ereignis in den Stöcken und von Anfang an wurde ihnen gepredigt, was für eine Ehre es sei, die Königin befruchten zu dürfen, um für neuen Nachwuchs im Stock zu sorgen. Und wenn man dies erfüllt hatte, wurde man von seinem Leben befreit, um seinen Platz an die neugeborene Drohne abzutreten. Ein ewiger Kreislauf, der niemals unterbrochen wurde.
So funktionierte ihre Gesellschaft.
Es war ein gutes System, wie Montgomery fand. Leben und Tod im Gleichgewicht, eine sich kaum verändernde Anzahl von Drohnen, viele fleißige Arbeiterinnen, die ihren Beitrag jeden Tag aufs Neue lieferten und eine Königin, die über alles wachte.
So ähnlich hatten es die Bienen auf der Erde ebenfalls gehandhabt. Ihr System glich dem ihren und es funktionierte, seit bereits knapp eintausend Jahren. Montgomery war stolz, Teil des Systems und des Volkes zu sein. Doch er war nicht der Einzige, der so dachte. Ausnahmslos jeder Melisad vertrat die Ansicht, dass ihr Volk das produktivste und bei Weitem am besten organisierteste auf ganz Tartaros war. Die Melisaden waren ein besonderes Völkchen, das für Außenstehende emotionslos und äußerst skurril anmutete. Niemand verstand, was für Überlegungen hinter ihrer Gesellschaft steckten und dass alle an einem Strang ziehen mussten, damit es auch weiterhin gut lief.
Ganz Tartaros war von ihrem System abhängig.
Und deswegen waren die Melisaden unentbehrlich.
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