Kapitel 6-2
„Ist das deine Form von Dankbarkeit?", stöhnte Laurenz und hielt sich das Kissen vors Gesicht.
„Deine Bettgeschichten sind weitaus schlimmer als das hier."
„Aber sie rauben dir nicht den Schlaf!"
Florentine tunkte den Zeigefinger in das dunkle Rot und ein sanftes Gelb und probierte verschiedene Mischungen, um die Farbe ihres Kleids widerzuspiegeln. Sie hatte keine Lust mehr, sich jeden Morgen beim Aufwachen die Erinnerung an die Wut und Enttäuschung von damals zu erinnern. Nun wollte sie das gestrige Geschehen auf der Decke des Wohnwagens verewigen. Zum Leidwesen ihres Bruders. Während sie sich an dem strengen Terpentingeruch kaum störte, würde er sich niemals daran gewöhnen. Genauso wenig wie sie an den verschwitzt salzigen Geruch seiner Aktivitäten hier drinnen.
Alexander hatte sie und Lady Aisenberg wie ein Gentleman bis zur Tür begleitet. Die Lady hatte keinen Scherz gemacht, ihr Angebot war ernst gemeint. Zwar zog Florentine nicht gänzlich zu ihr, da ihre Verpflichtungen beim Zirkus sie banden, aber sie würde regelmäßig zugegen sein und ihr Wissen über die Etikette der höheren Schichten aufbessern. Insbesondere nachdem Florentine in Kürze bei den Arlings zum Essen geladen war, musste sie sich an die Benutzung von Messer und Gabel gewöhnen. Eine gewisse Ungeschicklichkeit würde man einer Dame vom Land zugestehen, aber völlige Unkenntnis wäre unerhört.
Johann kam zur Tür herein. Seine Miene strahlte angespannte Vorfreude aus und ehe sie ihn begrüßen konnten, wedelte er mit einem Stoß Papieren vor ihrer Nase.
„Wir sind völlig bankrott, verschuldet bis über beide Ohren!" Er lachte, als hätte er gerade eine gewaltige Wette beim Pferderennen gewonnen.
Florentine und Laurenz starrten ihn ungläubig an. Ihr fiel erst zu spät auf, dass ihr Farbtiegel sich auf Laurenz Kopf ergoss.
„Bist du verrückt geworden?"
„Müssen wir jetzt alles verkaufen?"
Ein Eimer voll Fragen wurde förmlich über Johanns Kopf ausgeschüttet, doch keine entfernte ihm das dämliche Grinsen aus der Visage.
„Wir werden noch heute das Zelt abbauen."
Florentine griff sich bestürzt an den Kopf. „Du verkaufst das Zelt?" Sie malte sich ihre Zukunft aus. Sie würden auf der Straße sitzen, völlig mittellos. Nun wäre es unmöglich, die Maskerade gegenüber Alexander aufrechtzuerhalten. Vielleicht konnte Lady Aisenberg aushelfen. Aber sie würde kaum die ganze Zirkusfamilie aufnehmen. Und niemals könnte Florentine die liebgewonnenen Freunde, ihren Bruder und ihre Mutter zurücklassen. Am liebsten wäre sie Johann an die Gurgel gesprungen. Dabei lief doch alles so gut, das Zelt war vollbesetzt, keine Flaute in Sicht. Hatte er das Geld bei Wetten verspielt?
„Nun beruhigt euch doch mal." Johanns übertriebenes Grinsen wandelte sich in ein sanftes Lächeln. Er machte beruhigende Handgesten und lehnte sich an den Türrahmen. „Wir werden im Theater auftreten."
Während Laurenz auf die Knie fiel und Johann förmlich anbetete, gefroren Florentines Gesichtszüge. Das Theater lag mitten in Schlossgraben. Die Karten für den Eintritt leistete sich kaum ein Schuster oder Kesselflicker. Hier verkehrten gehobene Bürgerliche und der reiche Adel. Entsprechend war der Auftritt dort nur angesehenen Künstlern gestattet.
„Das kannst du nicht machen! Bist du von Sinnen?" Wie war er überhaupt zu der Möglichkeit gekommen? Sie hatte nie gehört, dass fahrendes Volk dort hineindurfte.
„Zu spät. Ich habe das Theater für drei Wochen im Voraus bezahlen müssen. Eine sündhaft teure Angelegenheit. Aber wir werden ein Vielfaches davon einnehmen."
Florentine gewann wieder Besitz über ihren Körper, sprang vom Bett, wobei sie sich den Kopf an der Decke anstieß, und ergriff Johanns Revers. „Warum tust du mir das an?"
Verdattert starrte er sie an. „Ich wurde eingeladen – ich war selbst überrascht. Vielleicht einer von Stand, der auf uns aufmerksam geworden ist. Wir werden reich sein, Schatz. Wo liegt dein Problem?"
„Geh!"
Sie wies ihm mit dem Zeigefinger den Ausgang.
„Das ist mein ..."
„GEH!"
Er blies die Wangen auf, fügte sich aber und trollte beleidigt davon.
Laurenz sah sie nachdenklich an. Sie stürzte sich auf das Bett und vergrub den Kopf in den Kissen. Nach einer Weile schien er zu verstehen und legte den Arm um sie. „Sie werden dich nicht erkennen."
Florentine sah ihn wutentbrannt an. „Ach? Soll ich mir etwa die Haare färben? Oder mir den Kopf scheren?"
Laurenz kratzte sich am Hinterkopf. „Du hast es geschafft, dich wie eine Adlige zu verkleiden und zu benehmen. Da wird es doch nicht schwer sein, das Gegenteil zu vollbringen."
Florentine bemühte sich, ihren Atem zu beruhigen und über seine Worte nachzudenken. Natürlich würde man sie erkennen. Jeder hatte sie gesehen. Und nach dem gestrigen Abend war ihr Antlitz den Menschen ins Gedächtnis gebrannt. Sie müsste sich schon in ein Kostüm werfen, das ihr Gesicht verbarg. Und damit könnte sie kaum ihre Darbietung bewerkstelligen.
Ein Mann hatte es leichter. Die meisten glichen einander wie Achilles und Patroklos. Die Geschichte der antiken Heldengestalten brachte sie auf eine Idee. Vielleicht hatte Laurenz Recht und sie konnte die Menge täuschen. Sie sahen, was sie erwarteten zu sehen. So wie Hektor davon ausging, seinen ärgsten Widersacher auf dem Schlachtfeld gegen sich zu wissen. Ein waghalsiger Plan ging ihr durch den Kopf. „Du bist die Frau."
Laurenz sah sie nur verdattert an, doch Florentine stürzte schon hinaus, um Johann einzuholen. Niemand würde sie erkennen, dafür würde sie Sorge tragen.
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