Kapitel 4-1

Der Ball der Dingelfurths war gekommen. Johanna verließ an der Seite ihres Vaters den Eingangsbereich. Die Festlichkeiten fanden draußen statt. Eine modische Erscheinung, der man nachsagte, sie entspringe dem Mangel an Platz, Geld oder beidem. Jedoch machte das Haus, dessen Ausmaße denen eines Palasts gleichkamen, nicht diesen Eindruck. Munterer Sonnenschein drang in den weitläufigen Innenhof. Eine Reihe von Säulen trug ein Überdach, unter welchem die Besucher nötigenfalls vor Regen geschützt wären. Die Musiker spielten bereits auf, doch noch war der Ball nicht eröffnet. Derweil genossen die Dingelfurths die Aufwartung der ankommenden Gäste.
Johanna verfolgte mit sehnsüchtigen Blicken die jungen Damen, die in leichtem Satin und glänzendem Samt, behangen mit Goldschmuck aus der Menge hervorstachen. Mit den steigenden Temperaturen sank zugleich die Länge der Ärmel und die Ausschnitte ließen tiefer blicken. Doch zumindest wagte niemand den kühnen Vorstoß, ihre Röcke kürzer zu tragen. Somit fühlte Johanna sich in ihrem prüden Aufzug nicht völlig aus der Welt. Ihre Mutter hatte Johanna in ein festliches Gewand gesteckt, das sie schon zu ihrer Zeit getragen hatte. Es bestand aus einem azurblauen Rock mit einer unvorstellbaren Zahl an Unterröcken, gehalten von einem Reifgestell. Darüber trug sie ein eng geschnürtes Mieder, mitsamt einer hauchfeinen Weste. Die Leichtigkeit dieser wurde durch einen schweren Brokatmantel genommen, der ihr die nötige Würde verleihen sollte. Alles in allem nahm ihr das Kleid sowohl die Luft als auch die Balance. Ohne sich hin und wieder abzustützen, hatte sie das Gefühl, kaum aufrecht gehen zu können.
Außer ihr gab es einige wenige Gepeinigte, die ein derartig voluminöses Kleid zu tragen hatten. Nicht verwunderlich, dass sich die meisten ihrer Leidensgenossinnen eher am Rand platzierten und sich irgendwo anlehnten, während sie sich mit Fächern Luft zuwedelten.
Ihr Vater stand mit hinterm Rücken verschränkten Armen hinter ihr. Er trug einen Wappenrock, dazu eine stramme Lederhose und breite Stulpenstiefel. An seiner Seite hing sein Schwert, als plane er, jeden übermütigen Freier sogleich zu enthaupten. Neben dem Parfum der Damen, die über die Tanzfläche gewirbelt wurden, stach ihr der Duft des Pelzmantels ihres Vaters in die Nase. Es war üblich unter den Rittern des Südens, ständig die Gesellschaft ihrer Jagdbeute zu genießen. Offensichtlich wurde mit dem Ritterschlag sämtlicher Geruchssinn von den angehenden Kämpfern geschlagen. Innerhalb ihrer heimatlichen Burg war ihre Nase diesen Geruch gewöhnt. Doch hier, umgeben von der Süße erlesener Parfums, beleidigte er ihre Nase aufs Äußerste.
Über den Gästen waren Kerzenleuchter gespannt. Johanna erwartete vorfreudig den Abend, der ihr die Hitze nehmen und den Tanzbereich in warmes Licht tauchen würde. Auch sie machten den Dingelfurths kurz ihre Aufwartung, doch das Paar schenkte ihnen nur geringfügiges Interesse. Ihr Vater beurkundete das mit erbosten Worten, kaum waren sie außer Hörweite. Für Johanna entsprach es ihren Erwartungen. Sie weilten selten in der Stadt und ihr Ansehen reichte nicht weiter als das winzige Lehen, welches ihr Vater sein eigen nannte.
Als das Gros an Gästen erschienen war, spielten die Musiker mit einem flotten Walzer zum Tanz auf. Kaum hatte Johanna sich am Rande der Tanzfläche aufgestellt, da kam der erste Herr zu ihr und bat um einen Tanz. Es war ein Ritter, ein entfernter Bekannter der Familie. Wahrscheinlich waren sie gemeinsam in den Kampf gezogen, denn obwohl ihres Vaters Miene offensichtliches Missfallen an diesem Tanzpartner zeigte, gab er Johanna mit einem Nicken sein stummes Einverständnis.
Ihr Partner war zwar eine Spur aufwändiger gekleidet als ihr Vater; etwas mehr Seide und weniger Leder, aber auch er hatte sich den Pelzmantel nicht nehmen lassen. Ritter schienen über jegliches Duftwasser erhaben und so drang sein intensiver, männlicher Geruch in Johannas Nase, derweil seine ungeschickten Füße auf die ihren traten.
„Ihr tanzt wahrlich wie eine junge Göttin, Fräulein.", sagte er und gewährte ihr mit einer Drehung auf der Stelle eine kleine Pause.
Sie konnte das Kompliment kaum zurückgeben. „Danke, Sir."
„Gefällt Euch die Stadt?"
„Ich kann mich nicht beklagen."
„Es muss schwierig sein, sich in der städtischen Gesellschaftsordnung zurechtzufinden."
Johanna verkniff sich ein Schmunzeln. Zumindest wusste sie, dass es nicht als höflich galt, wie ein Straßenköter zu müffeln. „Meine Mutter lehrte mich die Etikette."
„Fürwahr, ihr seid eine angenehme Gesellschaft."
Johanna nickte höflich und hoffte, das Stück wäre bald zu Ende. Abgesehen von seiner schnöden Gegenwart, forderte sie der zügige Tanz. Umso mehr, da ihr Partner sich selbst nur spärlich bewegte, was sie mit umso größeren Schritten ausglich.
„Meine Burg liegt nicht unweit der Eurigen. Vielleicht möchtet Ihr mich einmal besuchen, wenn Ihr wieder zuhause seid?"
Johanna lächelte höflich. Der Gedanke, in einem anderen kalten Bau ihre Zeit abzusitzen, statt in ihrem häuslichen, behagte ihr nicht. „Ich werde meinen Vater fragen." Würde sie nicht.
Er räusperte sich. „Ich hatte gehofft, ihn nicht unbedingt darüber zu informieren. Was haltet Ihr von einem eher informellen Treffen?"
Johanna runzelte die Stirn, ehe ihr klar wurde, was er damit meinte. „Euer Interesse ehrt mich, aber ich fürchte, mein Vater sucht nach einem geeigneten Ehegatten für mich."
„Dem will ich nicht im Wege stehen, nachdem ich ohnehin schon in festen Händen bin."
Zum Glück endete die Musik und ein neuer Tanzpartner bemühte sich um Johanna. Sie knickste beflissentlich vor dem Ritter, ehe sie sich dankbar in die Arme des anderen begab. Was für eine Unverfrorenheit. Dass der Umgang unter den Rittersleuten grobschlächtiger war, war ihr bewusst gewesen. Aber eine derartig kühne Anfrage zu stellen.
Die Musiker stimmten ein getrageneres Lied an, sodass Johanna wieder zu Atem kam. Entweder war ihr neuer Partner ein besserer Tänzer oder die Langsamkeit ermöglichte es ihm, ihren Füßen auszuweichen.
„Darf ich nach Eurem Namen fragen, Mademoiselle?"
Ihr Partner war ein durchschnittlicher Mann mittleren Alters. Seiner Kleidung nach war er wohlhabend genug, um ihren Vater zufriedenzustellen. Seinem Atem nach würde sie nur am Rande des Bettes schlafen.
„Johanna Jeverbruch."
„Martin Martinson, Erstgeborener des Barons Martinson." In seiner Stimme schwang eine Spur von Arroganz mit, aber diesen war sie von vielerlei adligen Personen gewohnt. Sie tanzten eine Runde in stillschweigender Übereinkunft, ehe er wieder das Wort an sie richtete.
„Jeverbruch, das klingt nach einer Burg?"
„Ja, mein Vater ist der Ritter von Jeverbruch."
„Ihr seid also das Burgfräulein?"
Johanna mochte diese Bezeichnung nicht. Aus vielerlei Munde klang es herabwürdigend. Als wäre eine Frau weniger wert, nur weil sie nicht in einem städtischen Anwesen aufwuchs. Mitunter hieß es, dass einem Bollwerk keine Dame entspringe. Eher ein Biest, einem männlichen Ritter gleich, welches sich ihrem Gemahl gegenüber despektierlich und in herrischer Weise aufführte. Sie erwiderte seine Bemerkung mit einem milden Lächeln. Immerhin konnte diese auch freundlich gemeint sein.
„Darf ich Euch eine pikante Frage stellen, junges Fräulein?"
Sie atmete tief durch und besann sich ihrer Erziehung. „Selbstverständlich, mein Herr."
„Ich hörte, die Damen vom Lande seien etwas offener, als die verschlossenen Frauen aus der Stadt, die nur in Begleitung ihrer Mutter zu den Bällen gehen."
Johanna schwante, worauf er ansprach. Tatsächlich kam es außerhalb der Stadt und somit fern des kritischen Auges der Gesellschaft öfter dazu, dass eine junge Frau ihre Tugendhaftigkeit vor der Ehe verlor. Das führte mitunter dazu, dass sie mit einem bedeutsamen Mann aus den Reihen der Pächter ihres Vaters verheiratet wurde, anstatt auf eine standesgemäße Hochzeit zu pochen. Sie hatte sich von ihrem Bruder, einem landesweit bekannten Rosenpflücker, öfters anhören können, dass er an ihrer Tugendhaftigkeit zweifelte.
„Ihr müsst Euch schon klarer ausdrücken", bemühte sie sich weiter um Höflichkeit, wenngleich sie dafür die Zähne zusammenbiss.
„Seid ihr einmal in Versuchung gekommen?" Er hob beide Brauen in verführerischer Weise.
„Falls Ihr meine Tugendhaftigkeit hinterfragen wollt, diese habe ich nicht aufgegeben und ich plane es auch nicht, mit Euch zu tun!" Damit wandte sie sich aus seinem Griff und eilte zum Rand der Tanzfläche.
Sir Jeverbruch marschierte zu ihr herüber. „Das war der Sohn des Barons Martinson. Was ist geschehen?"
„Er war weniger an mir, als vielmehr an meinem Körper interessiert", antworte Johanna zerknirscht.
„Dummes Ding, natürlich will ein Mann seines Standes seine Zukünftige erst einmal erproben, bevor er sich auf eine Ehe mit ihr einlässt."
Johanna riss ungläubig ihre Augen auf. Ihr Vater war nie der Feinste gewesen. Aber er hätte nie von ihr erwartet, sich einem Mann hinzugeben, in der Hoffnung, er würde sie danach mitleidvoll heiraten.
„Ich muss mich erfrischen."
Er gab ihr einen unwirschen Wink und sie eilte zu den Getränken. Es kostete sie Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Sie nahm sich ein Glas Orangenwasser und lehnte sich gegen eine der marmornen Säulen, die die schwere Decke stützten.
„Na, habt Ihr auch genug vom Tanzen, Mademoiselle?"
Johanna beachtete den Mann nicht. Sie hatte wahrlich fürs Erste keine Lust mehr, das Tanzbein zu schwingen. Er stellte sich eine Armlänge neben ihr auf. „Ich verstehe, Ihr wollt Eure Ruhe haben, so wie die anderen auch."
Sie warf einen Blick aus dem Augenwinkel auf ihn. Er trug einen schlichten Anzug und saubere Schuhe. Seine Haare waren voll und der Bart gestutzt. Insgesamt eine durchschnittliche, angenehme Erscheinung.
„Wie ist Euer Name, mein Herr?", überwand sich Johanna. Es brachte ja doch nichts, sich prüde zu geben. Außerdem würde es sich herumsprechen, wenn sie den Männern spinnefeind war. Und sie wollte die Gerüchte über die Burgfräuleins nicht noch bestärken.
„Adam Kloppenburg. Dürfte ich den Eurigen erfahren?"
Johannas Mundwinkel senkten sich. Ein weitererr Ritter oder sein Sohn. Sie hatte nicht vor, ewig auf einer Burg zu leben, wie ihre Mutter. „Johanna Jeverbruch."
„Ihr seht hinreißend aus in diesem Kleid. Es erinnert mich an die würdevollen Bälle vergangener Jahre."
Johanna lächelte zögerlich. „Sagt, Sir Kloppenburg, wo liegt Eure Heimat?"
„Verzeiht." Er neigte sachte den Kopf. „Mein Name führt manches Mal zur Verwirrung. Ich lebe hier in der Stadt."
Johanna wandte sich ihm zu. „Wie kam es dazu?"
Adam lächelte traurig, ehe er zögernd antwortete: „Mein Vater starb während der Belagerung seiner Burg. Die Festung wurde dem Erdboden gleichgemacht, die umliegenden Gehöfte verwüstet und ich verlor Rang und Titel."
„Das tut mir leid für Euch." Sie berührte ihn am Ärmel. Seine Ehrlichkeit wirkte anziehend. Ein anderer hätte ihr irgendeine Geschichte aufgetischt. Er legte seine Hand auf die ihre.
„Das muss es nicht. Ich habe einen erfolgreichen Wollhandel aufgezogen und mir die Adelswürde zurückgekauft. Ich stehe kurz davor, meine letzten Kredite zu tilgen und dann erhoffe ich mir, zu alter Größe aufzusteigen."
„Es ist eine angenehme Abwechslung, jemanden kennenzulernen, der sich seine Hände noch selbst schmutzig zu machen traut."
„Mein Vater war der Ansicht, dass nur harte Arbeit zum Erfolg führt. Er hatte Recht, Gott sei seiner Seele gnädig."
„Seid Ihr ganz allein in der Stadt?"
„Ich muss gestehen, ich unterhalte eine jüngere Schwester, die – wie ich hoffe – von meinen Bemühungen profitiert und bald einen würdigen Ehegatten findet."
Bewunderung für ihn flammte in Johanna auf. Wie würden wohl die meisten adligen Zöglinge reagieren, wenn ihnen plötzlich Haus und Hof als auch jedweder Reichtum fehlte? Gewiss würden nur die Wenigsten wie der Phönix aus der Asche auferstehen.
„Wollen wir einen Tanz wagen?", fragte Johanna, als die Musiker ein neues Lied anstimmten.
„Ich fürchte, es gibt bessere Tänzer."
Sie stellte das Glas zur Seite und ergriff seine Hand. „Solange Ihr meinen Füßen ausweicht, will ich zufrieden sein."
Er erwies sich als besserer Tänzer, als erwartet. Womöglich hatte er hohe Anforderungen an sich selbst. Im Vergleich zu dem Trampeltier eines Ritters, der ihre Füße zerquetscht hatte, tanzte er voller Eleganz. Er roch himmlisch. Eine Mischung aus seinem eigenen dezenten Körpergeruch und dem Duftwasser, das seinen Anzug benetzte. Die Musik verlangsamte ihr Tempo und sie tanzten enger zusammen. Zwar berührten sich ihre Körper nicht, aber so manch feine Dame hätte tadelnd ihren Zeigefinger gereckt. Es war Johanna egal. Sie würde den Rest des Abends mit diesem Mann tanzen. Mit ihm an der Hand erschien ihr diese triste Welt, die in hellstem Licht funkelte, ein wenig lebenswerter.
Je weiter der Tag fortschritt, desto vertrauter wurden sie miteinander. Adams Gegenwart ließ Johannas Selbstbewusstsein aufblühen. Sie tanzten, bis ihr die Füße wehtaten und sie um eine Pause bat. Adam suchte nicht nach der nächsten Möglichkeit, um sich die Gunst weiterer Frauen zu sichern. Er stellte sich mit ihr neben die Menge der Tanzenden. Der ein oder andere Herr forderte sie zum Tanz, doch Johanna schlug die Einladung höflich ab.
Schließlich drehten sich ihre Gespräche um vertraulichere Dinge. Adam war zwar von edler Geburt, aber der Verlust seines Rangs hatte ihn dem Bürgertum nähergebracht. Selbst jetzt, da er sich wieder unter den Adel wagte, fühlte er sich dem Mittelstand näher. Zwar zielte Adam darauf ab, seinen Wohlstand zu mehren, doch während die meisten Edelmänner dies über geschickte Heiraten, Politik und die Ausbeutung der untersten Stände versuchten, ereiferte er sich für die Methoden des einfachen Volks. Die Einstellung, sich seine Position durch harte Arbeit zu verdienen, erschien ihm ein rechtschaffenerer Weg. Statt Land zu erwerben und es an niederes Volk zu verpachten, plante er seine Tätigkeit auszubauen, indem er nicht nur mit Wolle handelte, sondern auch in der Verarbeitung Fuß fasste.
Johanna waren diese Gedanken nicht gänzlich unbekannt. Sie hatte von Kind auf Kontakt zu den Untertanen ihres Vaters. War ein Bauer faul, so schmälerte er seinen Ertrag. Ein fleißiger Pächter warf mit gutem Wetter sogar so viel ab, dass er seine Überschüsse verkaufen konnte. Vor dem Krieg, der sowohl die Ritterschaft als auch die Bauern gebeutelt hatte, gab es einige, die erwogen, eigenes Land zu besitzen. Doch das war Wunschdenken, da freie Männer den Schutz ihres Lehnsherren verloren. Für einen Bürgerlichen, der innerhalb der Stadtmauern lebte, mochte diese Möglichkeit attraktiver sein.
„Wollen wir noch einen Tanz wagen?", fragte Adam.
Johanna zog einen Schmollmund. Ihr angeregtes Gespräch hatte sie inspiriert. Andererseits erlaubte ein Tanz ihr, Adam um einiges näher zu kommen, als ein vertrauter Dialog. Sie hielt ihm die Hand hin. „Ich fragte mich schon, wann Ihr mich endlich auffordert."

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