Kapitel 3-2
Alexander tauchte den Pinsel in das Ultramarin ein und verlieh dem Szenario auf seiner Leinwand einen bläulichen Stich. Es passte zu seiner getrübten Stimmung. Seine eigene Torheit ärgerte ihn. Von ihrem Äußeren geblendet, hatte er sich dazu hinreißen lassen, eine Frau zu umgarnen, von der er absolut nichts wusste. Er hatte sich eingeredet, nur mehr über sie herausfinden zu wollen, vielleicht eine gute Freundin in ihr zu finden. Aber nicht einmal das war ihm vergönnt. Dabei hatte alles so gut angefangen. Doch kaum hatte Georg sie zum Tanzen aufgefordert, war ihre Stimmung umgeschlagen. Als sehne sie sich nur danach, von ihm wegzukommen. Sie hatte nicht einmal den Anstand gehabt, den Abend angemessen ausklingen zu lassen. War es zu viel verlangt, sich höflich zu verabschieden? Musste sie einem Kinde gleich mit seiner Schwester türmen? Womöglich war Georg in all das verwickelt, aber er spielte den Ahnungslosen.
Alexander legte den Pinsel beiseite und betrachtete das Bild von weiter weg. Tristesse. Es drückte seine Gefühle perfekt aus. Sein Augenmerk fiel auf die Staffeleien im hinteren Teil des Ateliers, wo zwei unfertige Bilder auf ihre Vollendung warteten. Er würde sie baldigst entsorgen. Jemand klopfte an der Tür. Er säuberte seine Hände mit einem Tuch. Wer konnte das sein? Hoffentlich nicht sein Vater, der ihm wieder Vorhaltungen machte. Immerhin hatte er den Anschein erweckt, dass er seine aktuelle Leidenschaft zwar nicht schätzte, aber zumindest akzeptierte. Vielleicht Georg, der sich ihm offenbaren würde? Nein, eher Elsa, die ihn auszufragen gedachte.
Er öffnete die Tür und staunte nicht schlecht. Florentine stand in einem grünen Kleid vor ihm. Ihre Haare waren zu einem Knoten gebunden, als hätte sie es eilig gehabt. Die Schuhe passten nicht zu ihrer sonstigen Aufmachung, wirkten, als wäre sie durch Dreck gegangen.
„Guten Tag, mein Herr", begrüßte sie ihn standesgemäß. Ihre plötzliche Förmlichkeit war wie ein Stachel in seiner Brust.
„Ihr habt also Eure Höflichkeit wiedergefunden, Mademoiselle." Er verschränkte die Arme und sah sie mit schiefgelegtem Kopf an.
„Dürfte ich eintreten?"
Er machte eine einladende Handbewegung. „Ich habe Euch ja eingeladen, wie könnte ich es Euch verwehren?"
Sie ging sicheren Schritts die Stufen hinab. Alexander warf die Tür ins Schloss und sah ihr nach. Wie eine Pilgerin, die einen Wallfahrtsort betrat, sah sie sich mit gerecktem Kopf um. Andächtig folgte sie dem Verlauf der Wände, an denen Alexander unzählige seiner Werke aufgehängt hatte. Sie war die Erste, die sich je die Zeit nahm, sie alle geduldig zu studieren. Sein Vater, wenn er sich überhaupt einmal hierher bequemte, hatte nie auch nur ein Auge auf ein Bildnis geworfen. Seine Mutter täuschte höfliches Interesse vor und Elsa, nun ja, sie war von allem begeistert, was er tat und beobachtete seine Werke schon, während er sie fertigte. Aber für Elsa war das hier mehr eine Zufluchtsstätte, fern der Anforderungen der Gesellschaft. Sie teilte seine Begeisterung nicht ehrlich – zumindest nahm er das an.
Es dauerte eine geraume Zeit und kostete ihn einiges an Beherrschung, bis Florentine ihre erste Runde gedreht hatte. Als sie sich seinen aktuellen Arbeiten zuwandte und auf das Bildnis ihrer selbst zusteuerte, erhob er schleunigst das Wort: „Ihr hattet es gestern wohl eilig davonzukommen?"
Sie drehte sich zu ihm um. Zunächst senkte sie betreten das Gesicht, dann aber straffte sie sich und ging mit ausgreifenden Schritten auf ihn zu, bis sie wenige Meter von der Treppe entfernt stand. „Ich fühlte mich nicht wohl."
„Mein Bruder muss Eindruck auf Euch gemacht haben." Alexander konnte die Verbitterung nicht völlig aus seiner Stimme verbannen, so sehr er sich bemühte.
„Das hat er keineswegs. Viel eher Eure Grafschaft."
„Lasst mich raten: Da ich dieses gewaltige Erbe nicht erhalten werde, reiche ich Euch nicht?"
„Im Gegenteil. Ich denke, ihr werdet mich als Euch unwürdig betrachten."
Alexander blinzelte perplex. Noch nie hatte er eine derartige Reaktion auf Reichtum erlebt. Normalerweise machte gerade das einen Mann für eine Frau attraktiv. Natürlich war es unwahrscheinlich, dass ein reicher Baron sich auf die Tochter eines armen Ritters einließ. Das spornte die meisten Frauen aber erst recht an, sich diesen Fang ins Netz zu holen. Alexander stieg die Stufen hinab, um auf gleicher Ebene mit ihr zu stehen. Er brauchte einen Moment, um seine Gedanken zu sammeln. „Hat mein Bruder Euch in irgendeiner Form herabgewürdigt?"
Florentine schüttelte den Kopf. „Er hat mich nur über Euren Stand aufgeklärt."
Er ging auf sie zu und nahm ihre Hände in die seinen. „Seid Euch gewiss. Mein Interesse gilt Eurer Person, nicht Eurem Einfluss. Selbst, wenn ich gedachte Euch zu ehelichen - Eure Mitgift ist für mich nicht von Belang."
„Und wenn ich ein Bauermädchen wäre?"
Alexander verfiel in schallendes Gelächter. Sie erinnerte ihn an sein Studium, das voll des Philosophierens über die denkwürdigsten Fragestellungen war. Konnte ein Bauer König werden? War Ehre vererbbar? „Wärt ihr eines Landwirts Tochter, so würde ich mich wahrlich fragen, von welcher edlen Dame Ihr all Euer Gewand gestohlen habt."
„Ihr verspottet mich."
„Verzeiht, ich bin es nicht gewohnt, von Damen solch philosophische Fragen gestellt zu bekommen." Er wanderte ein Stück durch den Raum. Florentine war eine intellektuelle Frau. Eine, die über die Muster ihrer Stickereien hinaussah. „Ich würde meinen Stand als Adeliger verlieren, womöglich die Unterstützung der Familie. Nachdem ich aber ohnehin nicht das Erbe meines Vaters antreten werde. Nun ..." Er machte eine weite Armbewegung. „Gedachte ich Euch zu heiraten, müsste ich vorher diese Kunst hier an den Mann bringen, um uns abzusichern."
„Ihr könntet Euch vorstellen, als einfacher Mann zu leben?"
„Ich könnte mir nicht vorstellen, in einer typischen Ehe, so wie es mein Vater sich für mich vorstellt, zu leben."
„Also plant ihr, ungebunden zu bleiben?" Sie stellte sich hinter ihn und betrachtete über seine Schulter hinweg sein aktuelles Bildnis.
„Es ist eine trübsinnige Vorstellung, mit irgendeiner langweiligen Frau ihres Reichtums wegen verheiratet zu sein. Einer Frau, deren Horizont nicht einen Steinwurf reicht."
Florentine schwieg. Hatte er sie beleidigt? Nein, sie hatte doch eben erst bewiesen, dass sie sich nicht zu ebenjenen Strohköpfen zählte. Wahrscheinlich sinnierte sie über ihren nächsten wortgewandten Degenstoß. Alexander würde galant parieren.
„Euer Bildnis passt nicht zu Euren anderen Werken. Es ist zu trübsinnig."
Er drehte sich zu ihr um und bedachte sie mit skeptischem Blick, dem sie mit trotzigem Lächeln begegnete. „Ihr wollt Euch auf eine künstlerische Diskussion einlassen?"
„Wenn Ihr mit mir Schritt halten könnt", erwiderte sie.
„Nun gut, beschreibt mir, was Ihr auf meinem Bildnis seht."
„Eine völlig verkehrte Welt. Trübsinnige Gestalten, die keine Freude bei ihrem Tun empfinden."
Er deutete auf einen gebeugten Bauern, der mit seiner Sense sein Feld abmähte. „Wollt ihr behaupten, dieser Mann empfände Freude bei seiner Arbeit?"
„Selbstverständlich. Er freut sich schon jetzt auf seine Heimkehr, da ihn seine Frau mit einer wärmenden Mahlzeit versorgt."
Alexander lächelte siegesgewiss. Bei seinem Studium hatten sie die Lebenssituation der verschiedensten Bevölkerungsschichten analysiert und kritisch reflektiert. Es galt als selbstverständlich, dass die untersten Schichten weit schlechter versorgt waren, als die höheren, teilweise Hunger und Krankheiten litten, während die Reichen von solchen Dingen nur eine vage Ahnung hatten. Manch ein Adeliger verklärte das Bild der Bauern und Handwerker auf romantische Art und Weise, fehlte ihm doch das Wissen darum, wie es war, sich den Buckel krumm zu arbeiten. Florentine mochte kluge Schlüsse ziehen, aber er war ihr an erworbenem Sachverstand überlegen. „Wie sollte er sich freuen? Fehlt es ihm doch an gutem Fleisch, an gewürzten Speisen. Jeden Tag serviert sie ihm denselben schleimigen Fraß."
„Dieser Bauer kennt nichts anderes als seinen schleimigen Fraß und weiß ihn so zu schätzen, wie ein Adliger einen saftigen Braten."
„Und doch hat er nur seine Arbeit, keine Vergnügungen, die ihm Lebensfreude bescheren."
„Ihr habt völlig Recht. Er findet Genugtuung in seinem Tun, während ein Mann wie ihr sich vor Langeweile absonderlichen Aktivitäten hingibt, um sich erfüllt zu wissen."
„Wie wollt ihr erahnen, dass der Mann Glück empfindet? Er muss einen Teil seiner Ernte abgeben. Sein Land ist nicht sein eigenes. Eine Missernte kostet ihn seine ganze Existenz."
Florentine tunkte ihren Finger in das Gelb. Alexander wollte sie schon aufhalten, andererseits war dieses Bild ohnehin Schund. Geboren aus seiner Frustration, die er gerade dabei war abzulegen. Mit geübten Bewegungen hellte sie die Kinder, die am Rand des Feldes im Dreck spielten, auf.
„Wer wenig hat und ständig Gefahr läuft, dieses bescheidene Gut zu verlieren, der weiß es um einiges mehr zu schätzen. Dieser Mann mag jeden Tag verbissen um sein Leben kämpfen. Aber er kommt voller Stolz nach Hause, dass er es erneut vollbracht hat."
„Ihr klingt, als sprächet ihr aus eigener Erfahrung", sagte Alexander atemlos. Einerseits bestach ihn ihre unumstößliche Überzeugung, andererseits war er außer sich, dass sie sich weiterer Farben bediente und das Szenario in ein gänzlich anderes Licht tauchte. Und das alles mit ihren Fingern!
„Vielleicht solltet Ihr Euch einmal unter jene begeben, über die Ihr zu urteilen pflegt. Dann würdet Ihr sehen, dass sich so manche vorschnelle Auffassung als Trugschluss zu erkennen gibt."
„Wo habt ihr so zu zeichnen gelernt?"
„Ich habe die Wände meines Heims immer wieder aufs Neue übermalt."
„Ihr bewahrt Eure Werke nicht auf?"
„Ich erfreue mich der Dinge im Hier und Jetzt." Sie zog einen letzten Strich und trat zufrieden zurück. Das Bild hatte sich gewandelt. Das Blau zeugte nur noch von einem wolkenlosen Himmel, von dem die Sonne erstrahlte und alle Figuren in Helligkeit tauchte. Nun sah Alexander das Glück dieser Familie. Was für eine ergreifende Wirkung diese einfache Szene auf ihn hatte, wenn sie ins rechte Licht gerückt wurde. Der Bauer musste wahrlich in Glückseligkeit schwelgen. Seine Welt reduzierte sich auf Arbeit und Familie. Was interessierten ihn gesellschaftliche Anlässe und Politik?
„Ich habe festgestellt, dass ihr mich gezeichnet habt", sagte sie wie beiläufig und drang tiefer in das Ateliers vor. Alexander wollte sie peinlich berührt aufhalten. Die erste Leinwand zeigte sie von hinten, wie er sie vor Schreinersons Laden gesehen hatte. Die zweite, wie sie in dem roten Ballkleid in einem festlichen Saal tanzte.
„Ich glaube, Euch hat das Kleid noch besser gefallen als mir", meinte sie feixend.
„Diese Bilder sind unvollendet!"
„Was hält Euch auf?"
Alexander räusperte sich. „Ich musste mich einiger Details noch vergewissern."
Florentine breitete die Arme aus. „Nun denn."
„Es wäre ungebührlich, Euch jetzt stehen zu lassen, um an meinen Werken zu arbeiten."
„Ihr habt Recht." Sie legte den Zeigefinger ans Kinn. „Es wäre nur gerecht, wenn ich Euch ebenfalls malen dürfte."
Alexander griff sich überrascht an den Kopf. Florentine wusste ihn immer wieder aufs Neue zu überraschen. Er legte sein aktuelles Bildnis zur Seite und eine neue Leinwand auf die Staffelei. „Nun gut, überzeugt mich von Euren überragenden Künsten."
Sie malten in entspannter Atmosphäre, aber Alexander konnte sich kaum konzentrieren. Er hatte es genossen, hier unten einsam zu reflektieren und seine Kunst zu verfolgen. Florentine war zwar keine Störung im eigentlichen Sinne, aber seine Gedanken kreisten nun unaufhörlich um sie. Außerdem interessierte es ihn unsäglich, wie sie ihn darstellen würde. Sie hatte eine beachtliche Kunstfertigkeit an den Tag gelegt. Es würde an seinem Selbstbild nagen, malte sie besser als er.
„Wie seid ihr zum Malen gekommen?", fragte er.
„Meine Mutter pflegte es, mir Geschichten zu erzählen. Ich brauchte etwas, um den Bildern im Kopf Gestalt zu geben."
„Andere würden sich dem Schreiben widmen."
„Ich hatte kein Papier zur Hand."
Alexander lachte auf. „Darf ich Euch etwas Persönliches fragen?"
„Ich arbeite in Eurem Atelier mit Euren Farben und Eurer Leinwand."
„Ihr scheint mir eine romantische Vorstellung von der Ehe zu haben", sagte Alexander nachdenklich. Tatsächlich verwunderte ihn das. Auf der einen Seite war sie so weltgewandt, auf der anderen darauf erpicht, eine Verbindung einzugehen, die sie einem Mann als Untergeordnete verpflichtete.
„Ihr offensichtlich nicht."
„Das ist keine Antwort."
„Ihr habt keine Frage gestellt." Sie lugte hinter ihrem Bild hervor und grinste ihn schadenfroh an.
„Was für ein Mann würde Euren Gefallen finden?"
„Ich möchte einen Mann, der sich um mich kümmert. Nicht nur, mir ein Heim gibt, die Kinder ernährt - jemanden, dem ich am Herzen liege. Den es interessiert, wie es mir geht, was ich empfinde, wonach ich strebe."
„Macht Ihr deswegen so ein Geheimnis um Eure Familie? Wollt Ihr verhindern, dass Euch ein Mann nur des Geldes wegen will?"
Florentine setzte ein unglückliches Lächeln auf. „Ich stelle mir manchmal vor, jemanden völlig nackt in wilder Natur kennenzulernen."
Alexander lachte unwillkürlich auf. „Welch frivole Vorstellung."
Sie schüttelte den Kopf. „Ich meine das nicht wörtlich. Ich will sagen, ohne all die Dinge, die ein Mensch überstülpt und ihm mehr Schein als Sein vermitteln. Ohne feine Kleider, ohne Rang und Titel, ohne übertriebene Höflichkeit und ohne sich etwas vorzumachen, einfach echt."
Alexander war fassungslos. Sein einstiger Lehrer wäre begeistert von dieser Frau. Die Diskurse über die fehlende Teilnahme von Frauen in Hochschulen hatten oft ergeben, dass diesen das Verständnis für eine höhere Form der Bildung fehlte. Sie seien von Natur aus darauf ausgerichtet, häusliche Tätigkeiten zu verrichten. Ein Hochschulbesuch würde keine Früchte tragen; viel eher die Frau daran hindern, ihre gottgegebene Entwicklung voranzutreiben. Wie falsch sie doch lagen. Es schien ihm, die Gesellschaft drücke bewusst das Potenzial der Frau. Kein Wunder, waren es doch vorwiegend Männer, die die Geschicke der Welt lenkten. Er phantasierte darüber, was aus der Welt würde, wenn eine Frau das Zepter schwänge. Würde jede so denken wie Florentine? Die Menschen auf das reduzieren, was sie waren, statt auf das, was sie vorgaben zu sein? Ihre Gedankengänge führten jedenfalls zu dem Schluss, dass sie seine Stellung als Zweitgeborener nicht interessierte. Doch würde seine Persönlichkeit ihr genügen? Konnte er sich gegen das Gebaren jedweden anderen Mannes durchsetzen, der um ihre Gunst werben könnte? Sie musterte ihn abwartend und mit einem Räuspern setzte er die Diskussion fort: „Eine interessante Vorstellung, die Ihr da habt. Somit wäre es Euch vollkommen egal, ob Ihr einen Schuster oder einen Prinzen heiratet. Hauptsache, er liebt Euch wahrhaftig?"
„Würde es nur Männer geben, die zu solch ehrlichen Gefühlen in der Lage sind", beklagte sie sich.
„Vielleicht gibt es diese und Ihr seht Sie nur nicht, selbst wenn sie vor Eurer Nase tanzten?"
„Oder diese Männer sind zu feige, ihre ehrbaren Absichten zu offenbaren. Wie steht es um mein Porträt? Seid Ihr bereits fertig?"
„Ihr wollt doch nicht behaupten, Ihr seid es?" Alexander war erstaunt. Zugegebenermaßen, er war abgelenkt gewesen. Aber selbst unter höchster Konzentration bedurfte es einer immensen Zeit, dieses Porträt zu beenden. Insbesondere, wo er nie wirklich zufrieden damit war. Es reichte nicht, sie nur darzustellen, er wollte ein Ebenbild von ihr erschaffen. Es würde die Sehnsucht mildern, wenn sie nicht bei ihm war. Doch keiner seiner Pinselstriche schien der Wirklichkeit zu genügen.
Florentine drehte ihre Staffelei mit einem zufriedenen Lächeln um und er gewahrte das Bild seiner selbst, jedoch ins Groteske verzogen. Seine Nase war riesig, die Haare bauschten sich turmhoch und seine Gewandung glitzerte in schillernden Farben. Wäre es ein angesehener Künstler gewesen, der ihn derartig porträtierte, so hätte er es als Affront genommen. Doch diese Spitze passte zu Florentine, die hiermit eine neue Methode gefunden hatte, ihn aus der Reserve zu locken. Trotzdem es eine Karikatur war, so war es alles in allem ein gelungenes Werk. Kein Abbild der Wirklichkeit, aber es erstaunte ihn. Sie hatte sich nicht auf einen Wettstreit eingelassen, gleichwohl sie ihn bestimmt hätte gewinnen können. Statt sich mit ihm zu messen, hatte sie dem Ganzen eine humorvolle Note gegeben.
„Wieso ist meine Nase so gewaltig?"
„Weil Ihr sie in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken pflegt", erwiderte sie mit einem Zwinkern. Sie trat neben ihn und betrachtete ihr eigenes Bildnis. „Es ist wunderschön", sagte sie voll ehrlicher Zuneigung.
„Es wird Euch noch nicht gerecht." Er wandte sich zu ihr um. Sie standen nah beieinander, beinahe unangenehm nahe. Ihre leutselige Art hatte ihn vergessen lassen, wie unerhört ihr privates Treffen hier unten eigentlich war. Von hier aus konnte er jede Pore ihrer feinen Haut erahnen, die Länge ihrer Wimpern ermessen und sich an der Form ihrer Lippen ergötzen. Sie war so dicht, so greifbar. Er berührte ihren Arm und ein Kribbeln zog den seinen hinauf. Sie öffnete den Mund einen Spaltbreit, als nähme es ihr den Atem. Ihre Köpfe wanderten wie von ferner Hand gelenkt aufeinander zu. Alexander verlor sich in ihren Augen. Er spürte ihren Atem schon auf seiner Lippen.
Rechtzeitig wandte er sich ab. Sein Herz schlug im Stakkato und er war geneigt, sich selbst zu ohrfeigen. Wie hatte er nur so die Beherrschung verlieren können? Um ein Haar hätte er sie fürchterlich in Verlegenheit gebracht, ihren Ruf zerstört. Für ihn war es vielleicht keine große Sache, sich die Hörner abzustoßen, wie manche es zu nennen pflegten. Aber sie ihrer Tugendhaftigkeit zu berauben, ihr einen Kuss zu stehlen. Und gleichzeitig verdammte er sich dafür, es unterlassen zu haben. Wie könnte er ihr seine Liebe deutlicher erklären als durch einen Kuss, wie es schon die alten Sagen verkündeten? Konnte sie seine Zurückhaltung vielleicht als Mangel an Zuneigung deuten?
„Verzeiht mir!"
„Mir tut es leid", sagte sie tonlos.
„Die Leidenschaft der Kunst muss auf mein Tun übergegriffen haben. Es liegt in meiner Verantwortung, Eure Tugend zu wahren. Die Schuld habe ich auf mich zu nehmen."
Florentine sah ihn verständnislos an, als könne sie seine Gedankengänge nicht nachvollziehen. Er musste die Situation retten. Wenn sie jetzt ginge, würde er sie vielleicht nicht wiedersehen. Er hatte ja nicht einmal eine Ahnung, wo sie wohnte.
„Darf ich Euch nach Hause geleiten?" Er biss die Zähne zusammen. Was für eine Torheit. Erst küsste er sie nahezu und jetzt erweckte er den Eindruck, sie hinauszuwerfen. Seine letzte Hoffnung lag in ihrem Intellekt. Vielleicht konnte sie seine verqueren Gedanken nachvollziehen.
Sie zögerte ihre Antwort hinaus und ein Hoffnungsschimmer flammte in ihm auf. Wenn er ihre Familie erst einmal kennenlernte, würde alles einfacher werden. Sicher wäre ihr Vater begeistert von einem solch formidablen Anwärter. Er würde sich verstärkt in anderer Richtung bemühen müssen. Vielleicht eine ehrbare Stellung bei Hofe anvisieren oder ein gutes Stück Land besorgen, dass ihren Unterhalt absicherte. Sein Bruder könnte ihm einen Teil der Grafschaft als Lehen geben, wenn er ihm die Treue schwor. Es würde bedeuten, seine Kunst aufzugeben. Wehmütig betrachtete er das fast fertige Porträt.
„Bis auf halben Wege freue ich mich über Euer Geleit. Bis zur Seidenweberstraße", sagte sie schließlich, worauf Alexander die Schultern hängen ließ. Sie ergriff seine Hände und ein Feuer schien auf sie überzugehen. „Nehmt es mir nicht übel. Unsere Freundschaft ist mir wichtig und ich möchte sie nicht unnötig verkomplizieren."
Alexander setzte ein tapferes Lächeln auf. Freundschaft? Hatte er die Zeichen falsch gedeutet? Wollte sie nicht, dass er ihre Familie kennenlernte, damit er nicht offiziell um sie warb? Natürlich, sie suchte nach der Liebe ihres Lebens. Nicht nach jemanden, der mit ihrem Vater einen Vertrag schloss und sie kaufte. Florentine wäre eine angenehme Freundin, eine stete Ablenkung vom tristen Alltag. Doch genügte ihm das? Er würde sie von sich überzeugen. Vielleicht erkannte sie den perfekten Partner in ihm, wenn er ihr die nötige Zeit gab.
„Wollen wir zu Fuß gehen? Das Wetter ist so mild und angenehm", schlug er vor.
Sie hakte sich bei ihm unter. „Mit allergrößtem Vergnügen."
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