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Das Schwimmen ist der schlimmste Teil eines Triatlons. Deswegen werde ich auch nie an einem teilnehmen. Trotzdem schwimme ich, jeden Abend, man weiß ja nie, vielleicht werde ich ja besser, irgendwann.

Ich habe das Ende des Beckens erreicht, drehe um, stoße mich wieder ab. Zehn Längen noch. Nur noch zehn Längen.

Jede andere Sportart macht mich einfach nur glücklich und zufrieden, aber Schwimmen? Damit werde ich nicht warm. Allein das Wissen, dass ich nicht jede Sekunde Luft holen kann, bringt meinen Puls auf 180. Es wäre leicht, zu ertrinken. Oder es so aussehen zu lassen, als wäre ich ertrunken. Im Wasser bin ich verwundbar. Schwimmen ist laut, das Krachen des Wassers gegen den Beckenrand ist laut, mein Atem ist laut. Menschen können verdammt leise sein, wenn sie das wollen.

Neun Längen noch.

Ich mich einmal bei der Therapie darüber ausgelassen, wie ich mich beim Schwimmen fühle. Keine Ahnung, was Imi mir geantwortet hat. Ich war zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, um ihr zuzuhören. Wahrscheinlich wäre sie stolz, wenn sie sehen könnte, wie gut ich mich schlage.

Acht Längen.

Zumindest vertritt sie während unseren Sitzungen immer die Meinung, dass man sich seinen Ängsten in einem sicheren Umfeld stellen soll. Zumindest ich soll das tun. Zumindest bei manchen Ängsten. Menschenmassen, zum Beispiel. Dunkelheit. Wasser.

Sieben Längen. Zu schnell. Ruhig bleiben, nicht zu schnell werden, sonst geht mir auf den letzten Längen die Kraft aus.

Natürlich gibt es auch noch die andere Art von Ängsten. Die, die Imi als schwere Angst bezeichnet. Ängste, die sich so tief in mir eingenistet haben, dass eine Konfrontation mit ihnen mich komplett aus der Bahn werfen könnte. Oder auch schon eine scheinbare Konfrontation. Der Geruch eines bestimmten After-Shaves zum Beispiel, der Aktienbericht in der Zeitung, unnatürlich süßer Honig.

Sechs Längen.

Imi hat mir geholfen, eine Liste meiner Trigger zu erstellen. 37 Dinge, die einen Anfall hervorrufen können. Imi will nicht, dass ich meine Anfälle so nenne. Aber genau so fühlen sie sich an. Kompletter Kontrollverlust über meinen Körper und Geist. Zittern. Schwitzen. Übelkeit. Weinen. Schreien. Selbstverletzendes Verhalten. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge und nicht unbedingt immer alle. Und im Nachhinein nur noch verschwommene Erinnerungen daran, wie ich zu einem der sicheren Orte gekommen bin, die ich entlang meiner Routinewege eingerichtet habe.

Fünf Längen noch.

Das Grübeln ist ganz oben auf meiner Liste von Triggern. Ich sollte nicht grübeln. Am gesündesten wäre es, nur bei der Therapie zu grübeln. Und dort nur laut und zielorientiert und mit jemandem, der mich unterbricht und mich darauf aufmerksam macht, wie irrational ich mich gerade verhalte. Sonst bringt das nichts und im schlimmsten Fall schaffe ich es nicht mehr runter von meinem Gedankenkarussel.

Vier Längen.

Also: Zielorientiertes, produktives Denken. Und sofort das Thema wechseln, wenn ich bemerke, dass ich mich gedanklich in eine auswegslose Situation steuere. Wie jetzt gerade. Also an etwas ganz anderes denken. Mein Abendessen! Heute werde ich braunen Reis kochen. Eine Tasse, das reicht. Dazu Salat, Mais, Tomaten und Bohnen. Vielleicht noch eine Sauce aus Sauerrahm oder mit Joghurt. Anschließend noch ein paar Nüsse und vielleicht ein Stück Schokolade. Dann werde ich meinen Laptop hochfahren und mir irgendeine Serie anschauen. Etwas, dummes, witziges, über das ich nicht nachdenken muss. Und sobald sich mein Gehirn daran festgebissen hat, werde ich schlafen gehen.

Drei Längen.

Vielleicht brauche ich ja heute wieder kein Schlafmittel. Die letzten paar Tage war ich abends so müde, dass ich gut ohne auskam. Allerdings schwirrt heute mehr Zeug in meinem Kopf herum, das mein Hirn gegen mich verwenden kann, sobald ich träume. Sobald ich nicht mehr kontrollieren kann, woran ich gerade denke. Verdammt, mein Kopf würde mir nicht so schwirren, wenn heute nicht schon Mittwoch wäre und am Freitag nicht der Termin bei Gericht wäre. Ich wünschte, der Gericht wäre schon vorbei. Ich hasse die momentane Unwissenheit, wie der Termin ausgehen wird. Alle sagen, es ist eigentlich schon entschieden, es ist eine reine Formalität, die Beweise sind übermächtig, alles wird gut. Aber was, wenn nicht? Was, wenn ich dann dort bin und alles schief läuft?

Zwei Längen noch. Nur zwei Längen.

Das wird es nicht. Ich darf so nicht denken. Nicht heute, nicht jetzt, nie. Ich muss es schaffen, meine Gedanken auf irgendein anderes Thema zu bringen, ein harmloses Thema, das immer noch spannend genug ist, um mein Gehirn zu beschäftigen. Mein Abendessen, war eine schlechte Idee, viel zu langweilig. Genervt durchsuche ich jeden Winkel meines Gehirns nach einem guten Thema, nach irgendeinem Thema. Und versuche das offensichtlichste Thema zu ignorieren. Blöd nur, dass sich vor mein inneres Auge immer wieder ein gewisses Gesicht mit Zahnlücke schiebt.

Nur noch eine Länge. Ich seufze auf, resigniert und erleichtert zugleich. Erleichtert, weil das die letzte Länge für heute Abend ist. Resigniert, weil ich genau weiß, worüber mein Kopf gerade nachdenken will. Über Evan. Ich habe ihm noch nicht geschrieben, immer noch nicht. Vor allem, weil ich nicht weiß, was ich von ihm will. Er scheint mir nicht der Typ für Einmaliges zu sein. Aber bin ich bereit für eine richtige Beziehung? Ich müsste mich wirklich auf ihn einlassen, wenn ich ihm schreibe. Mit ihm offen kommunizieren, über unsere Wünsche, Träume und Probleme. Ich müsste ihn in meine kleine Welt lassen, die zwar manchmal etwas einsam ist, aber dafür sicher. Vielleicht müsste ich seine Familie kennen lernen, und peinlich berührt bei ihnen am Tisch sitzen. Mein Vater würde ihn kennen lernen wollen, auf jeden Fall. Er fragt jetzt schon immer, wann ich ihm denn mal jemanden vorstelle. Aber ich weiß nicht, ob ich die ganze Aufmerksamkeit will, die mit einer festen Beziehung Hand in Hand geht.

Da! Die Beckenwand. Ich klammere mich daran fest und schnappe nach Luft. Mein Herz rast. Das habe ich gar nicht mitbekommen, während ich im Wasser war. Mit einem Ruck ziehe ich mich hoch, raus aus dem Wasser und auf den Beckenrand. Ich greife nach meinem Handtuch, rubble mich schnell ab und gehe in die Umkleide. Ich ziehe mich an, föhne mein Haar, packe mein Zeug zusammen – und jede Sekunde spiele ich mit meinem Smartphone herum, unsicher, ob ich ihm wirklich schreiben soll, oder lieber doch nicht. Erst, als ich vor dem Schwimmbad stehe, habe ich meinen endgültigen Entschluss gefasst.

„Hi, Evan!", tippe ich. „Hier ist Nura, aus der Psychiatrie. Schade, dass die Vase noch immer ganz ist."

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