Als ich Munas Zimmer verlasse, ist es um einiges später als normalerweise. Sicher fünfzehn Minuten. Oh Gott, wie zur Hölle soll ich das denn bloß wieder einholen? Schneller fahren wird um diese Uhrzeit nicht gehen und ich kann nicht länger schwimmen, denn ich bin sowieso schon immer die letzte dort. Vielleicht lässt sich dieser Fehltritt ja durch ein kleines Workout in der Wohnung wiedergutmachen? Aber dann verschiebt sich mein restlicher Zeitplan noch weiter nach hinten und...
Plötzlich legt sich eine große Hand auf meine Schulter. Erschrocken schnappe ich nach Luft und wirble herum. Reflexartig hole ich aus...
„Wow, wow, ganz ruhig!", entwaffnend hebt der Kerl mir gegenüber die Hände. „Ich wollte dich nicht erschrecken, ehrlich nicht!"
Erleichtert stoße ich die Luft aus und lasse meinen Arm sinken. „Das war eine Scheißidee von dir, weißt du das?", zische ich ihn an.
„Ich weiß, ich weiß! Tut mir leid!", antwortet er. Zerknirscht lächelt er mich an und entblößt dabei eine kleine Zahnlücke. Und das, obwohl er wahrscheinlich etwa gleich alt ist, wie ich.
Ich atme ein paar Mal tief durch, bis ich meinen Herzschlag wieder unter Kontrolle habe. „Warum zur Hölle hast du das getan?", bringe ich schließlich heraus. Hätte ich mich nicht so gut unter Kontrolle, hätte er jetzt wohl eine gebrochene Nase, verdammt! Was ist so schwer daran, Leute nicht automatisch anzufassen, wenn man was von ihnen will?
Schüchtern hebt er die Schultern. „Ich wollte dich nicht erschrecken, ehrlich nicht!", entschuldigt er sich. „Ich wollte dich nur was fragen und hab dich angesprochen und du hast nicht reagiert. Du hattest so einen panischen Blick. Ich dachte, vielleicht bist du ja eine Patientin und brauchst Hilfe oder hast einen Anfall oder so. Ich wollte dir nur helfen, ehrlich!"
„Wenn ich einen Anfall hätte, dann würde die ganze Situation gerade ganz anders aussehen!", nuschle ich und versuche das Bild aus meinem Kopf zu vertreiben. Energisch schüttle ich den Kopf. Ich erinnere mich daran, dass er mich ja eigentlich was fragen wollte. „Was willst du wissen?", knirsche ich und verschränke meine Arme vor meiner Brust.
Prüfend mustert er mich. „Das Schwesternzimmer!", sagt er schließlich. „Kannst du mir sagen, wo es ist?"
Fast muss ich lachen. Diese Frage wirkt so herrlich normal. Wie kann jemand in einer so absurden Situation eine so normale Frage stellen.
„Das Schwesternzimmer?", echoe ich und versuche nicht allzu ungläubig zu wirken.
„Ja!", antwortet er. Meinen Unterton scheint er nicht wahrgenommen zu haben. „Meine Mum arbeitet hier!", erzählt er, als müsste er sich vor mir rechtfertigen. „Ihr Auto ist in der Werkstatt, deswegen hol ich sie heute ab. Früher war es hier irgendwo, aber Mum hat gesagt, dass es verlegt wurde. Ich weiß nicht, wohin, ich war seit Ewigkeiten nicht mehr hier."
Langsam nicke ich. „Da bist du auf der komplett falschen Seite der Station!", beginne ich. „Nach den Aufzügen und der Treppe musst du rechts abbiegen, nicht links! Das Schwesternzimmer ist gleich neben dem Gemeinschaftsraum. Gegenüber von dieser grauenhaften pinken Vase!"
Ich sehe, wie seine Mundwinkel nach oben zucken. „Verdammt, die gibt es also immer noch?!", gluckst er. „Ich habe ja immer gehofft, dass die irgendwann mal irgendwer von ihrem Leid erlöst."
Ich lache und nicke zustimmend, erleichtert, als ich merke, wie sich die Spannung zwischen uns auflöst. „Das Teil ist unkaputtbar!", kichere ich. „Du hast ja keine Ahnung, wie oft ich schon versucht habe, die aus Versehen umzuhauen. Ich sagst dir: Das ist unmöglich! Die bleibt ganz, selbst wenn man sie mit einem Rollstuhl niederfährt und dabei ordentlich Anlauf nimmt!"
Nur mühsam kann sich der Typ zusammenreißen. Schließlich gibt er auf und ein tiefes Lachen entkommt ihm. Ganz offen strahlt er mich an. „Evan", sagt er und streckt mir seine Hand entgegen. Zögernd greife ich danach und erwidere den Händedruck. „Nura", antworte ich. Sein Grinsen wird noch ein Stückchen breiter. „Okay, Nura!", er dehnt die Vokale meines Namens, so, als müsste er sich an das Gefühl meines Namens auf seiner Zunge gewöhnen. „Ich muss jetzt weiter!", murmle ich. Sein Grinsen bekommt einen Knick. „Denkst du, man sieht sich irgendwann wieder?", fragt er mich schüchtern. Scheu blickt er weg und - Oh mein Gott, wird er etwa rot? Süß irgendwie... „Nur wenn du es schaffst, die Vase im Vorbeigehen zu zerbrechen!", bestimme ich frech. Überrascht blickt er mich an, dann verändert sich sein Blick und ich sehe, dass er die Herausforderung angenommen hat. „Dein Wunsch ist mir Befehl!", verkündet er. Schnell diktiert er mir seine Nummer, die ich ins Smartphone eintippe. „Gespeichert!", murmle ich. Wir nicken uns nochmal zu, dann dreht er sich um und marschiert los, aufs Schwesternzimmer und die grässliche Vase zu. Er schafft es nicht, die Vase zu zerdeppern oder sie überhaupt umzuhauen. Sie schwankt nur leicht. Ich sehe kurz Enttäuschung in seinen Augen aufflackern, doch meine Entscheidung stand sowieso schon fest. Und deswegen fällt es mir auch nicht schwer, ihm noch ein letztes Mal zuzuwinken und anzulächeln, bevor ich in den Aufzug steige. Ich werde ihm schreiben. Obwohl das Ungetüm noch ganz ist.
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