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Die angenehm warme Abendluft peitscht mir ins Gesicht. Gierig sauge ich sie ein und trete in die Pedale. Schneller, immer schneller und schneller. Bis mich meine Gedanken nicht mehr einholen können und ich nur noch existiere. Ich nehme war, wie ich in die Pedale trete, ich spüre meinen Atem, sehe den Verkehr um mich herum. Ich nehme alles wahr, jede Kleinigkeit, doch mein Kopf ist still dabei. Ausnahmsweise hat er Sendepause.

Viel zu schnell erreiche ich die Klinik. Noch während der Fahrt schwinge ich mich vom Rad und laufe die letzten paar Meter daneben mit. Als es zum Stillstand kommt, habe ich ein breites Grinsen im Gesicht. Heute ist ein wirklich toller Tag. Es ist so sonnig und so unglaublich schön warm dafür, dass es erst Anfang April ist. Ich schließe mein Rad ab und laufe durch die Tür und am Empfang vorbei. Sofort ziehen Wolken auf in meinem Gehirn. Mein Atem beginnt zu zittern und ich werde langsamer. An die Atmosphäre hier werde ich mich wohl nie gewöhnen. Wohl in tausend Jahren nicht. Trotzdem versuche ich tief durchzuatmen und bringe in die Richtung der psychiatrischen Kinderstation ein. Wie immer. Rechts, dann links, und mit dem Aufzug in den dritten Stock. Vorbei an den gleichen Plastikblumen, die schon bei meinem Einzug dastanden und an den knallbunten Gemälden, die mindestens genausolange schon hier hängen. Ich weiß, dass die Station durch das alles fröhlicher und mehr wie eine Art Wohngemeinschaft als wie eine psychiatrische Klinik wirken soll, doch ich frage mich, ob es wirklich Leute gibt, die sich dadurch auch nur ansatzweise wohler fühlen. Als ich hier ankam, führte das zumindest bei mir nur zu dem dringenden Bedürfnis, jedes einzelne Gemälde in eine Milliarde Teile zu zerfetzen. Nachgegeben habe ich diesem Bedürfnis nur einmal. Ich habe Schwester Agathe, die sich damals um mich gekümmert hat, davor und danach nie wieder so wütend gesehen. Was ich damals wie heute sehr unterhaltsam finde, denn in dem halben Jahr, in dem ich hier war, habe ich wirklich mehr als genug angestellt. Allein beim Gedanken an ihr wutverzerrtes Gesicht muss ich grinsen. Doch es bleibt nicht lang, denn sofort überkommt mich das schlechte Gewissen...

Denk nicht mehr daran!

Ich atme tief durch und gehe weiter, bis zu einem der hintersten Zimmer. Die Tür hier ist eine der wenigen, die nicht mit zwei sondern nur mit einem Namen beschriftet ist. Und im Gegensatz zu den anderen Namen, wurde dieser nicht per Hand geschrieben und verziert, sondern an einem Computer geschrieben und ausgedruckt. Muna.

Ich atme noch ein weiteres Mal tief durch, dann klopfe ich an und schlüpfe durch die Tür und lasse sie hinter mir ins Schloss fallen. Ich weiß, dass ich das nicht tun sollte, aber ganz ehrlich: Wer ein halbes Jahr mit mir überlebt, ist schon ganz schön tough. Also kann ich mir nicht vorstellen, dass sowas Muna Angst macht. Wenn doch, dann zeigt sie es nicht.

Heute sitzt wie so oft auf ihrem Fensterbrett und starrt hinaus.

„Ich schätze, wie sollten wieder mal in den Park gehen, oder?", mutmaße ich, während ich mich neben ihr niederlasse. Muna scheint aus ihren Gedanken herauszuschrecken. Stumm wie immer starrt sie mich an. Nur die äußerte Spitze ihres rechten Mundwinkels und ihrer Augen verraten, dass sie meinen Vorschlag gehört hat.

„Nur nicht heute, okay? Du weißt ja, bei unserem letzten Ausflug war danach der eine Reifen des Rollstuhls ein bisschen...demoliert. Kann es sein, dass die Schwestern den jetzt absichtlich verstecken, wenn ich da bin?"

Bei der Erwähnung unseres letzten Ausflugs beginnt Munas Mundwinkel verdächtig zu zucken. Auch ich muss grinsen.

„Dabei war das gar nicht so richtig unsere Schuld!", fahre ich fort, „Wir haben nur Fußball gespielt. Und die Füße in diesen kleinen Bach gesteckt. Und ein Wettrennen mit den Kids der Krebsstation veranstaltet. Kann ich was dafür, dass du ein paar Steine gerammt hast?"

Muna amüsiert sich köstlich. Es tut gut, sie so zu sehen. Sie ist wunderschön, wenn sie so glücklich ist, wie jetzt. Ihre Augen schimmern im Abendlicht einem Gold-Braun. Ihre Haut, die bei meinem Einzug fast grau war, hat einen sanften Erdton angenommen. Ihr krauses schwarzes Haar nimmt immer mehr die Form eines Afros an und scheint mit jedem Besuch noch dichter zu werden. Vor einem Jahr hat sie beschlossen es wachsen zu lassen. Ich strecke meine Hand aus und fahre ihr sanft durchs Haar.

„Ich wünschte, ich hätte so eine tolle Mähne wie du!", murmle ich. Muna antwortet mit einem Blick, den ich nicht so recht deuten kann. Er befindet sich irgendwo zwischen spottend, amüsiert und dankbar. Sobald unsere Blicke sich treffen, schaue ich weg. Kurz starre ich aus dem Fenster, um mich wieder zu sammeln.

„Willst du die neuesten Neuigkeiten aus meinem total verkackten Liebesleben hören?", frage ich sie und beginne zu erzählen, einfach nur, damit ich irgendwas zu sagen habe.

Als ich noch hier lebte, entwickelte ich mit der Zeit eine Art...Schwärmerei für Muna. Durch sie erkannte ich, dass ich nicht bloß auf Jungs stehe. Und ich erkannte auch, dass Liebe manchmal daraus besteht, nicht zu lieben. Das erkannte ich durch Schwester Agathe. Vor ihr fand mein erstes Outing statt, ganz gegen Ende meines Aufenthalts. Ich zitterte als ich zu ihr kam, um zum ersten Mal seit Jahren jemanden um Rat zu fragen. Allein schon sie zu fragen, ob wie unter vier Augen reden könnten, kostete mir unglaubliche Überwindung. Ich hatte so unglaubliche Angst. Angst davor, dass sie mich wegschicken würde oder nicht ernst nehmen würde oder, dass sie mich hassen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Noch bevor ich richtig zu erzählen begann, heulte ich wie ein Schlosshund. Agathe brauchte über eine Stunde, um mich wieder zu beruhigen. Und sobald ich wieder ruhig war, hatten wir ein ernstes Gespräch über Muna. Dass meine Gefühle für Muna zwar in Ordnung seien, ich mir aber bitte, bitte keine großen Hoffnungen machen solle, dass Muna je in der Lage sein würde, meine Gefühle aktiv zu erwidern. Dass sie mich zwar offensichtlich mögen würde, aber sie mich momentan einfach nicht auf die Art lieben könne, die ich mir wünschte. Munas Ziel müsse jetzt sein, gesund zu werden – soweit das eben für sie möglich ist. Es könne sein, dass sie irgendwann wieder richtig kommunizieren könne – doch ob und wann das der Fall sein wird, könne sie mir nicht sagen. Wenn ich sie also wirklich lieben sollte, dass solle ich versuchen, einfach für sie da zu sein, ohne große Erwartungen und Ansprüche. Als Freundin, nicht mehr und nicht weniger. Und das bin ich, seit drei Jahren jetzt. Irgendwann verschwand die Schwärmerei und ich begann mich für andere Mädchen und Jungs zu interessieren. Doch unsere Freundschaft blieb und ist stärker, als jede Freundschaft, die ich je zuvor erleben durfte. Trotzdem kann ich nicht ignorieren, wie schön sie ist, wenn sie glücklich ist, auch heute noch nicht.

Ich erzähle ihr immer noch von meinem Sally-Desaster, während ich nach ihrer Bürste greife und damit beginne, ihr großartiges Haar wieder und wieder zu bürsten.

„...und genau deswegen verstehe ich sie einfach nicht. Es ist wirklich nicht so schwer, einfach zu sagen, was man will!"

Ich bin mit meiner Geschichte am Ende und lege die Bürste aus der Hand. Ich setze mich wieder ihr gegenüber und mustere ihr Gesicht prüfend. Keine besondere Regungen, sie hört wohl einfach nur zu.

„Was gibt es sonst noch Neues, seit gestern?", überlege ich laut, „Statistik ist langweilig, wie immer. Das Lauftraining läuft super, auch wie immer. Ich werde immer besser. Bis November bin ich fit für den Marathon. Das Schwimmen läuft auch gut, heute Abend gehe ich wieder. Ich habe gestern mein Buch fertig gelesen. Du weißt schon, das eine mit der Buchhandlung und der Sekte, die nach dem ewigen Leben sucht, Wenn du willst, dann besorge ich die das Hörbuch. Ich weiß ja, dass du das lieber magst, als Bücher auf Papier."

Wieder zuckt Munas Mundwinkel, wenn auch nur für einen Sekundenbruchteil. Kurz sieht sie aus, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen, doch innerhalb von weniger als einem Sekundenbruchteil ist der Ausdruck auf ihrem Gesicht wieder verschwunden. Der Vorschlag mit den Hörbüchern stammt von Frau Doktor Ella, Munas behandelnder Ärztin. Sie bemerkte, dass Muna kurzsichtig ist, und zwar nicht gerade wenig. Eigentlich bräuchte sie dringend eine Brille, aber es ist schwer, eine Brille einzustellen, wenn der Patient nichts sagen kann. Deswegen bekommt Muna jetzt fast nur noch Hörbücher oder eBooks, bei denen sie die Schrift verstellen kann. Allerdings greift sie deutlich öfter zu Hörbüchern, wahrscheinlich gefällt ihr das einfach besser.

Was kann ich ihr sonst noch aus meinem Leben erzählen? Es ist schwer, mir jeden Tag etwas einfallen zu lassen. Ich glaube, die meisten meiner Geschichten hat Muna schon doppelt und dreifach gehört. Wahrscheinlich könnte sie in der Zwischenzeit ohne Probleme eine ganze Biographie über mich schreiben.

Ach ja, jetzt fällt mir doch noch etwas ein. Aber soll ich ihr wirklich davon erzählen? Oder lieber nicht? Bisher wissen davon nur meine Therapeutin und halt alle, die davon wissen müssen. Aber hat sie es nicht auch verdient, das zu erfahren?

Ich atme tief, tief durch. „Am Freitag ist die letzte Anhörung vor Gericht!", würge ich hervor und bringe mich dazu, mein Gesicht zu einer Grimasse zu verziehen, die hoffentlich einem Lächeln ähnelt. Munas Augen blitzen erstaunt und fragend auf.

Oh Gott, jetzt muss ich wohl die ganze Geschichte erzählen...

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