Gierig sauge ich die eiskalte Morgenluft ein. Es ist noch früh, so früh, dass noch kein Mensch auf der Straße ist. Außer mir natürlich. So mag ich es! Gleichmäßig trommeln meine Füße auf den rutschigen Waldboden, so schnell wie möglich ohne hinzufallen. Ich spüre keinen Schmerz mehr, schon lange nicht mehr. Den gibt es immer nur die ersten paar Kilometer lang. Jetzt fühle ich mich, als würde ich fliegen.
Immer weiter durch den Wald, der nur durch meine Stirnlampe erleuchtet wird. Über die kleine Brücke, um die Kurve, vorbei am Holzstapel, nächste Kreuzung links. Raus aus dem Wald, auf die Landstraße, zurück in die Stadt. Die ersten Vögel beginnen zu singen, just in dem Moment, in dem ich die kleine Bäckerei mit der rosaroten Tür erreiche. Keuchend komme ich vor der Tür zu stehen. Geschlossen. Während ich nach Luft schnappe, blicke ich auf die Uhr an meinem Handgelenk. Fünf Uhr Achtundfünfzig. Fast zwei Minuten schneller als gestern. Begeistert grinse ich. Bald werde ich die Laufrunde verlängern müssen, wenn ich weiterhin eineinhalb Stunden trainieren möchte.
Ein hübsches Lehrmädchen betritt den Verkaufsraum mit einem Blech Brot. Fatima. Ich wusste gar nicht, dass sie heute Dienst hat, Angelika scheint wohl ausgefallen zu sein. Wahrscheinlich hat sie die Grippe. Jetzt hat mich das Mädchen entdeckt und winkt mir fröhlich zu. Sie stellt das Blech ab und öffnet mir die Tür. „Guten Morgen!", grüße ich erschöpft. Die Tür schließe ich wieder hinter mir, dann sehe ich dem Mädchen dabei zu, wie sie das Gebäck einräumt. Sie trägt eine weiße Schürze und hat sich die Haare zu einem schlampigen Zopf geflochten.
„Die Brille ist neu!", bemerke ich, während Fatima mir einen Kaffee einschenkt, wie jeden Morgen. Verlegen grinst sie. „Ich habe vergessen, neue Kontaktlinsen zu kaufen." „Solltest du öfters tun! Sieht sehr süß aus", antworte ich ihr und zwinkere ihr zu. Sofort wird sie rot. Süß, sage ich doch! Sie murmelt ein Dankeschön und reicht mir den kleinen Beutel mit meinen Brötchen. Ich zahle, dann bin ich wieder draußen auf der Straße.
Gut gelaunt beobachte ich, wie sich die Wolken lila zu verfärben beginnen. Gemächlich spaziere ich nach Hause, alle paar Meter an meinem Kaffee nippend. Als ich die Haustür zu meiner Wohnung aufschließe ist es Viertel nach Sechs und der Kaffee ist leer. Ich werfe die Tür hinter mir ins Schloss, das Brot auf den Tisch und die Kaffeemaschine an. Fröhlich pfeife ich, während sich die Kanne gluckernd zu füllen beginnt. Ich öffne alle Vorhänge, mache mein Bett, suche meine Kleidung für heute zusammen. Dann ab unter die Dusche. Dann die Haare trocken rubbeln – der Kurzhaarschnitt war wirklich die beste Entscheidung meines Lebens. Der Frau im Spiegel werfe ich ein aufmunterndes Lächeln zu. Die Sportkleidung landet in einem kleinen Korb auf dem Balkon. Wo ich gerade dabei bin, werfe ich auch noch eine Ladung Kleidung in die Waschmaschine. Es ist Viertel vor Sieben. Als ich mich am Frühstückstisch fallen lasse. Ich esse bis sieben Uhr. Als die Glocke des Kirchturms draußen schlägt, ist die letzte Tasse Kaffee für heute leer und ich bin satt. Ich bin bereit für den Tag. Was steht denn heute an? Heute ist Mittwoch, also Statistik von elf bis halb 2 und Entwicklungspsychologie von halb vier bis fünf. Danach noch in die Klinik und Schwimmtraining. Ich starre weiter auf den Planer, als wäre noch eine geheime Botschaft in ihm versteckt. Plötzlich ist mir schwindelig. Das ist der Blutdruck. „Nur eine Nebenwirkung", flüstere ich mir selbst zu. „Nur eine winzige Nebenwirkung." Wie blind taste ich nach meinem Pillendöschen. Wenn ich die Medikamente doch bloß endlich absetzen könnte. Mundtrockenheit, Schlafstörungen, manchmal Übelkeit und, so wie heute, Blutdruckschwankungen. Ich will das alles jetzt endlich loswerden... Wenn ich jetzt aufhören würde, die Medikamente zu nehmen... Nein! Gar nicht erst darüber nachdenken! Wild entschlossen klopfe ich eine Tablette auf die Hand und schlucke sie. Eineinhalb Jahre hat es gedauert, bis meine Medikamente endlich richtig eingestellt waren und dann nochmal vier Monate, bis sie endlich so gewirkt haben, wie sie wirken sollten. Dank der Pillen habe ich mein Leben unter Kontrolle. Ich werde sie so lange nehmen, bis meine Therapeutin sagt, dass ich sie nicht mehr brauche.
Um nicht mehr an die Nebenwirkungen denken zu müssen, schalte ich mein Smartphone ein. Fünf neue Nachrichten, eine neue Mail und ein neues Like auf mein Profil. Die Benachrichtigung über das Like wische ich entnervt weg. Diese App öffne ich erst wieder, wenn ich ganz ganz dringend Gesellschaft brauche und sich gar keine andere Möglichkeit für mich bietet, Leute kennen zu lernen.
Der Mail widme ich mich ebenfalls nur wenige Sekunden meiner Zeit. Eine Benachrichtigung der Direktorin, dass die Stipendiumsantragsstelle wegen Renovierungsarbeiten umgelagert wird. Momentan unwichtig, bis nächstes Semester bin ich noch versorgt und bis dahin sind die Renovierungsarbeiten vorbei. Erst zuletzt öffne ich die Nachrichten.
Oh nein, nicht die schon wieder! Genervt rolle ich mit den Augen. Sally hat mir schon wieder geschrieben! Um kurz vor und nach Mitternacht je eine sehr lange und sehr fehlerhafte Nachricht darüber, wie schön wir zwei es doch gemeinsam hatten und wie gerne sie doch wieder etwas Zeit mit mir verbringen würde.
Ich ignoriere sie. Sie wusste von Anfang an, dass ich keine Beziehung möchte. Sie wusste, dass wir nur diese eine Nacht miteinander haben. Und trotzdem schickt sie mir alle paar Tage sowas. Das gibt's doch nicht! Wieso stimmt man einer einmaligen Sache zu, wenn man nichts Einmaliges will? Ignorieren, ignorieren, ignorieren! Vernünftig zu reden, bringt bei ihr ja doch nichts, das habe ich schon vor ein paar Wochen versucht.
Erst die nächsten und letzten Nachricht schaffen es, ein Lächeln in mein Gesicht zu zaubern. Papa hat mir ein Bild geschickt: Er, seine nicht-mehr-ganz-so-neue Freundin und ihr gemeinsamer Hund Bällchen! Dann noch ein Bild, auf dem nur er und der Hund zu sehen sind. Dann noch eine Einladung doch am Samstag oder Sonntag zum Mittagessen zu kommen. Dabei weiß er doch, dass ich sowieso komme! Aber ich schätze, dass er einfach immer noch Angst hat, mich wieder zu verlieren, wenn er mal kurz nicht aufpasst. Das ist einfach seine Art mir zu zeigen, dass er sich um mich sorgt: Er schickt Welpenfotos und Essenseinladungen. Als Antwort nehme ich ein Selfie auf, auf dem ich breit grinse und einen Daumen in die Höhe recke. „Freue mich auf Sonntag!", schreibe ich dazu. Und, nach kurzer Überlegung: „Drück Bällchen von mir!" Dieses Fellknäuel muss man einfach lieb haben. Nicht mal ich war gegen seinen Charme immun, dabei halte ich Hunde sonst entweder für gemeingefährlich oder für nervige Trethupen. Aber mit Bällchen hat Papa einfach solche Freude – ich muss ihn einfach mögen! Egal, genug gegrübelt! Viertel nach sieben schon. Zeit produktiv zu werden!
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