V
Kurz darauf setzte das Brummen der Seilwinde ein. Sie aktivierte das elektronische Ankersystem, das ihr Onkel im letzten Jahr hatte einbauen lassen. Das Schiff würde nun selbstständig seine Position halten, solange der Seegang nicht wesentlich stärker wurde. Winde und Roboter konnte sie direkt über die Elektronik in der Kabine steuern. Also ließ sie das Ruder los und ging unter Deck zu den Bildschirmen. Jason hatte vorsorglich einen Karton mit Red-Bull-Dosen neben seinen Schreibtisch gestellt. Aber sie mussten sich beeilen, denn sie wussten nicht, wie das Nachbarschiff oder die Küstenwache reagierten, wenn sie entdeckt würden.
Sie warf sich auf ihren Schreibtischstuhl und überprüfte die Anzeigen. Zweihundert Meter ... zweizwanzig ... zweifünzig ... Es ging rasant abwärts. Wie erwartet, zeigte das Display nichts als Wolken mit vereinzelten Schneeflocken. Das würde sich erst ändern, wenn sie den Grund erreichten. Ihr Täubchen verfügte über ein Sonar, sodass zumindest nicht die Gefahr bestand, sie versehentlich in einer Bergflanke zu versenken oder ungespitzt in den Boden zu rammen. Vierhundert ... vierfünfzig ... fünfhundert. Ob das andere Schiff schon etwas gefunden hatte? Wahrscheinlich hatten sie die Diskussionen durch ihre „Spionin" mitbekommen und sicher auch Kopien der Dokumente. Aber warum wollten sie unbedingt allein hier forschen? Was erhofften sie sich davon? Nüchtern betrachtet war die Bakterien-Theorie viel plausibler, als dass sie eine Lavakrabbe entdeckt hatten. Allerdings hatte das die über-clevere Zuhörerin natürlich nicht mehr mitbekommen. Siebenfünfzig ... achthundert ... achtfünfzig ... Langsam wurde es ernst.
„Jason? Läuft das Echolot?", fragte sie, den Blick auf ihr Display geheftet.
Keine Antwort.
Irritiert drehte sie sich um. Wo war er? Jetzt fiel ihr auf, dass sie ihn gar nicht hatte kommen hören. Sie hatte sich auf den Bildschirm konzentriert. Wie selbstverständlich war sie davon ausgegangen, dass er ihr nach dem Aussetzen des Roboters gefolgt war und hier bei ihr sein würde. Aber wenn er nicht hier war ...
„JASON!" Mit einem Ruck sprang sie auf und rannte die Treppe hinauf. „JASON!"
Der Ruderstand war leer. Regen prasselte gegen die Fensterscheiben. Ohne sich um ihre Jacke zu kümmern, stürzte sie durch die Tür. Kalte Tropfen peitschte ihr ins Gesicht und durchnässte sie im Bruchteil einer Sekunde. Wind zerrte an ihren Haaren, während das Schiff immer wieder von größeren Brechern überspült wurde.
„JASON! Wo bist du?" Sie klammerte sich an die Reling und hangelte sich zum Heck. Das Wetter machte ihr nichts aus, sie war von klein auf oft genug mit ihrem Vater und ihrem Bruder auf See gewesen. Poseidon würde auf sie aufpassen. Aber was war mit Jason? Immer wieder rief sie seinen Namen. Brummend rollte die Winde das Seil ab. Sie würde automatisch anhalten. Aber wo war ihr Freund?
„JASON!" Eiskalte Aale schienen sich durch ihre Eingeweide zu winden. Er war doch nicht ...? Warum hatte er keine Schwimmweste getragen?
„JASON!" Verdammt!
Neben der Winde steckte eine starke Taschenlampe in der Halterung. Das ist Unsinn, Medea, schalt sie sich in Gedanken. Hier brauchte sie richtiges Licht. Zum Teufel mit der Heimlichtuerei. Es gab Wichtigeres. Rasch hangelte sie sich zum Steuerstand zurück und schaltete alle Außenlichter ein, auch die starken Scheinwerfer, die zum Fischen nötig waren und das Meer im Umkreis von fünfzig Metern taghell erleuchteten. Für einen Moment musste sie geblendet die Augen schließen, dann ging es wieder hinaus in den peitschenden Sturm. Im gleißenden Licht zeichneten sich Wellenkämme und Schaumkronen scharf ab, fast surreal wie in einem Schwarzweißfilm.
„JASON!" Hoffentlich war er nicht über Bord gegangen, sondern lag irgendwo zwischen den Geräten. Sonst ... Nein, das durfte nicht sein. Nicht nachdem sie ... Konzentration, Medea. Es gibt jetzt Wichtigeres.
„JASON!" Wieder stürzte sie auf die Seilwinde zu, die inzwischen zum Stillstand gekommen war. Aber er war nicht da. Sie schaute über die Reling, ob dort Seile hingen. Ging zur anderen Seite. Leuchtete mit der Taschenlampe in alle Gänge und Öffnungen. Das Schiff war nicht groß und sie war schnell fertig.
Jason blieb verschwunden.
Nein, bitte Poseidon, tu mir das nicht an. Nicht, jetzt. Nicht, er. Sie spürte, wie ihre Knie nachgaben. Eine Welle traf sie hart am Rücken und warf sie auf das Deck. Schmerzhaft knallte ihr Kopf auf eine Bordkante und für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen.
Das Wasser zog sie zur Bordwand. Panisch suchten ihre Hände nach Halt - und bekamen den Pfosten der Reling zu fassen. Im letzten Augenblick, sonst wäre sie Jason in die tödliche Schwärze der peitschenden See gefolgt. Stöhnend zog sie sich auf die Beine, taumelte zum Ruderstand und duckte sich unter den harten Brechern hindurch.
Die Ocean Explorer!, fuhr es ihr durch den Kopf. Die können bei der Suche helfen!
„Ocean Explorer! Hier ist die Kyma!", schrie sie ins Mikrofon. „Mann über Bord! Hören Sie mich? Mann über Bord! Können Sie bei der Suche helfen?"
Die Antwort war ein gleichgültiges, statisches Rauschen. Verdammt!
Dann knackte es und eine verzerrte Männerstimme meldete sich: „Hier ist die Ocean Explorer. Kyma? Wir haben ihn schon an Bord. Haben Sie gehört? Ihr Mann ist mit uns an Bord. Es geht ihm gut. Wie geht es ihnen? Gibt es Verletzte?"
Ihr Herz machte einen Satz und fiel auf den Stuhl des Kapitäns. Erleichtert stützte sie das Gesicht in die Hände und konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken. Er hatte es geschafft. War gerettet. Was hätte sie getan, wenn er ...
„Kyma? Können Sie mich hören? Brauchen Sie Hilfe?", fragte die Stimme wieder.
Sie nahm das Mikrofon in die Hand. Tränen der Erleichterung benetzten ihre Wangen. „Nein. Nein, vielen Dank für Ihre Hilfe. Es geht mir gut. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll."
„Schon gut. Wir warten, bis sich der Sturm gelegt hat. Dann gehen wir längsseits. Wenn Sie vorher Hilfe brauchen, melden Sie sich."
„Danke, Ocean Explorer. Werde ich machen. Over and Out."
Sekundenlang saß sie zitternd im Steuerhaus, während das Schiff heftig zwischen den Wellenkämmen hin und her schaukelte. Was hätte ich getan, wenn Jason tot gewesen wäre? Es wäre meine Schuld gewesen. Diese wahnsinnige Aktion ist auf meinem Mist gewachsen. Alles nur wegen dieser dummen Krabbe ... Sie hielt in Gedanken inne. Die Dunkelfeuer-Krabbe. Ihr Täubchen schwebte brav über dem Meeresgrund und wartete auf seinen Einsatz. War es in Ordnung, wenn sie jetzt die Situation ausnutzte, um ... Aber warum nicht? Dafür hatte Jason fast sein Leben gelassen. Dafür waren sie hergekommen, und nur weil die anderen ihn gerettet hatten, war sie ihnen nichts schuldig, oder? Pitschnass, zitternd, aber voller neuer Energie rappelte sie sich auf und kletterte unter Deck. Kurz darauf saß sie am Kontrollpult und ließ den Roboter auf den schwarzen Grund hinab.
Da war sie wieder, die schwarze Wüste. Stein oder Staub? Das war die erste Frage, die sie klären musste. Sie fuhr den Probenbehälter aus. Er hing an einem einfachen Arm, mit dem eine Bodenprobe abgeschabt werden konnte. Mit dem Joystick steuerte sie den Behälter in Richtung Grund. Er schabte über festen Fels. Fels. Kein Staub, kein Dreck, kein Schlamm.
Wow. Passiert das jetzt wirklich? Hatte ich recht? Das war nur ein Indiz. Anderswo könnte es anders aussehen. Sie musste mehrere Tests durchführen, um eine der Dunkelfeuer-Krabben zu finden.
Ha! Hab ich dich! Vor ihr hob sie einen handtellergroßen Steindeckel aus dem Boden und langsam schob sich eines der Tiere heraus. Unter ihm leuchtete ein orangefarbener Rand. Jetzt oder nie! Sie fuhr mit dem Roboter vor und griff zielsicher nach dem Deckel. Erwischt! Mit Bedacht hob sie ihn ab, während die Krabbe panisch davon krabbelte. Aber waren es harmlose, leuchtende Bakterien oder glühendes Magma? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Vorsichtig steuerte sie ihr Täubchen näher heran. Spätestens über der leuchtenden Stelle müsste das Thermometer einen massiven Temperaturanstieg anzeigen, wenn es sich wirklich um flüssiges Gestein aus dem Erdinneren handelte. Für einen Moment verschwand das Leuchten Punkt aus dem Blickfeld der Kamera, als sie näher kam. Sie biss sich auf die Lippe. Gleich würde sie es wissen. Wassertemperatur: zwei Grad Celsius. Drei. Fünf. Zehn. Zwanzig. Die Temperatur stieg weiter.
Jawohl! Ich wusste es doch! Das ist es. Der unwiderlegbare Beweis! Sie hatte von Anfang an recht gehabt. Das hier –
Ein heftiger Schlag warf sie mit einem ohrenbetäubenden Krachen von ihrem Stuhl. Ein Schrei entrang sich ihrer Kehle, als sie zu Boden stürzte. Metallisches Kreischen durchzog den Schiffsrumpf und brachte ihn zum Vibrieren. Der Raum kippte zur Seite. Panisch stützte sie sich ab. Monitore und Messgeräte fielen von Jasons Schreibtisch, zerschellten auf dem Fußboden und rutschten auf sie zu. Ein heftiger Schmerz durchstach ihr Bein, als etwas Scharfes hineinstieß. Inzwischen lag sie mit dem Rücken an der Wand und versuchte, sich aus dem Kabelgewirr zu befreien. Auf allen vieren kroch sie zur Tür.
Wassermassen schossen herein. Die salzige Flüssigkeit spülte sie auf die andere Seite der Kammer, als wäre sie nichts weiter als eine Puppe in einem Wasserfall. Plötzlich erlosch das Licht und es wurde stockdunkel. Ich muss hier raus! Blind klammerte sie sich an Möbelstücke, zog sie vorwärts, schluckte Wasser. Oben und unten verloren ihre Bedeutung. Scharfe Kanten durchbohrten ihre Haut, heftige Schläge von losen Utensilien trafen ihren Rücken.
Wasser umschloss ihren Kopf. Nein! Ich brauche Luft! Im schwarzen Malstrom war nichts zu sehen, sie wusste nicht, wo oben war. Sterne blitzten vor ihren Augen auf. Der Drang zu atmen wurde übermächtig. Sie tastete die Wände ab, fand aber keinen Ausweg. Wo war die Tür?
Es ging nicht mehr. Ihr Mund öffnete sich zu einem hilflosen, stummen Schrei. Eiskaltes Wasser drang in ihre Lungen und verdrängte die letzten Sauerstoffbläschen. Kälte füllte ihren Brustkorb, während die Schwärze intensiver wurde und sie wie ein Kokon umhüllte. Fast wie ein Baby im Mutterleib. Warm und geborgen. Jegliche Panik verschwand. Eine wohltuende Leichtigkeit durchströmte ihre Glieder, die kurz darauf von der Endgültigkeit abgelöst wurde.
🔱🔱🔱 ENDE 🔱🔱🔱
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