IV

Die Wellen brachen sich am Bug der Kyma, als sie sich am nächsten Morgen der Stelle über dem Vulkankrater näherten. Die See war ruhig, der Himmel klar und der Horizont schien von Poseidon mit dem Lineal gezogen worden zu sein. Jason stand am Heck und überprüfte noch einmal die Technik, während sie das Schiff auf Kurs hielt und auf das GPS-Tablet mit der Seekarte schaute. Die gestrigen Diskussionen waren am Ende wesentlich einfacher verlaufen, als sie befürchtet hatte. Wenn sie so weitermachten, würden sie schon heute Abend Klarheit darüber haben, ob es sich wirklich um Magma handelte, das sich unter einer dünnen Gesteinsschicht verbarg - oder doch nur um Meeresdreck mit fleißigen Bakterien darunter.

Nanu? War ihr Lieblingsgott beim Zeichnen kurz ausgerutscht? Genau auf ihrem Kurs tauchte ein schwarzer Punkt am Horizont auf. Die Fischer waren längst zurück, und Touristen verirrten sich nur selten hierher, so weit von der Küste entfernt. Noch ungewöhnlicher war, dass sich das Schiff nicht zu bewegen schien. Nach ihrer Einschätzung befand es sich genau in ihrem Zielgebiet.

„Jason?", rief sie nach hinten. „Ich glaube, wir sind nicht die Einzigen über dem Krater."

Ihr großgewachsener Forschungspartner kam zu ihr in den Steuerstand und überprüfte die Kartenanzeige. Er holte ein Fernglas aus der Schublade und ging zum Bug, um einen besseren Blick zu haben.

„Sieht so aus", rief er ihr zu. „Offensichtlich haben sich unsere Forschungsergebnisse doch schneller herumgesprochen als erwartet. Das ist ein ziemlich großer Kahn. Die haben sogar einen Hubschrauber am Heck, und von den Ausmaßen des Krans her könnten die glatt ein bemanntes Tiefseeboot an Bord haben."

Ihre Hände verkrampften sich um das Ruder. „Verdammt! Wir hätten gestern gleich hierher fahren sollen. Ich wette, so ein millionenschwerer Möchtern-Forscher will sich die Lorbeeren sichern!"

„Das kannst du nicht wissen", meinte Jason beschwichtigend, als er wieder im Ruderstand saß. „Vielleicht sind es ja nur Kollegen von einer anderen Universität. Und die Entdeckung der Dunkelfeuer-Krabbe haben wir schon ans ‚Nature' gemeldet. Die nimmt uns keiner mehr weg. Außerdem ist die verödete Fläche da unten groß genug, damit wir neben denen unsere eigenen Untersuchungen machen können."

Sie biss sich auf die Lippe. Hatte er recht oder steckte mehr dahinter? Die Frau ging ihr nicht aus dem Kopf. Wenn das alles so harmlos war, warum hatte sie dann versucht, sie auszuspionieren? In diesem Moment knackte das Funkgerät und riss sie aus ihren Gedanken.

„Hier spricht die Ocean Explorer. Sie befinden sich im Gebiet eines exklusiven Forschungsclaims. Bitte drehen Sie ab. Das Fischen ist in einer Zone von drei Meilen bis auf Weiteres verboten."

Jason sah ihr in die Augen und zuckte mit den Schultern: „Von einem Forschungsclaim habe ich auch noch nie gehört. Und vom Fischen scheinen die ja keine Ahnung zu haben."

Grimmig nahm sie das Mikrofon in die Hand und drückte auf die Sprechtaste: „Hier spricht die Kyma. Wir sind im offiziellen Auftrag der Universität von Santorin unterwegs, um in diesem Gebiet Tiefseeforschung zu betreiben."

„Bitte drehen Sie ab. Ich wiederhole: Dieses Gebiet ist bis auf Weiteres gesperrt."

Was für ein arroganter Arsch. Laut sagte sie zu Jason: „Was meinst du, ist das nur ein Bluff?"

„Keine Ahnung, können wir die Uni fragen?"

„Hier draußen haben wir keinen Handyempfang und über Seefunk können wir sie nicht erreichen. Ich könnte es höchstens bei der Küstenwache versuchen."

„Na dann ..."

Fünf Minuten später war klar: Das gesamte Areal um den Unterseekrater war tatsächlich für den Schiffsverkehr gesperrt. Vorerst für zwei Wochen. Mehr konnte man ihnen nicht sagen, aber sie sollten das Seegebiet sofort verlassen.

„Verflucht! Bei Poseidons Bart! Arrg!" Sie schlug mit der Faust auf das Armaturenbrett. „Wer ist dieser Arsch, der sich anmaßt, MEINE Krabbe zu klauen? Wie kann er überhaupt innerhalb von ein paar Stunden den halben Ozean sperren?"

„Oder sie", warf Jason ein.

„Was?!"

„Vielleicht ist es auch eine Sie."

„Ist doch scheißegal!", fuhr sie ihn an, woraufhin er zurückzuckte. „Was machen wir jetzt?"

„Erst mal uns beruhigen", sagte Jason und legte seine Hand auf ihren Arm.

„Ich ..." Sie atmete tief durch. Leider hatte er recht. Es brachte niemanden weiter, wenn sie ihn anblaffte. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht anfahren. Aber es ist so ... so ... unfair! Nur weil jemand beim Minister oder wem auch immer mit einer Handvoll Euro wedelt, bekommt er - ja, oder sie - gleich die Exklusivrechte an der Forschung? Wie kann das sein? Wir leben doch nicht in einer Diktatur, sondern in der ältesten Demokratie der Welt! Mann, ey!" Sie hatte sich direkt wieder in Rage geredet und musste erst einmal die Augen schließen und sich anlehnen.

„Hey", sagte Jason sanft, während sich seine starken Arme um ihre Schultern legten. „Komm mal runter. Das wird schon wieder. Wir lassen uns was einfallen."

Er hatte leicht reden. Ihm wurde nicht die wissenschaftliche Sensation des Jahrhunderts unter dem Hintern weggezogen. Trotzdem ließ sie sich in seine Umarmung fallen und genoss für einen Moment die Nähe. Sein langsamer Herzschlag und ruhiger Atem hatten tatsächlich eine fast meditative Wirkung. Wenig später fühlte sie sich schon viel besser, aber ließ seiner Arme auf ihren Schultern ruhen.

„Danke. Wie kannst du so ruhig bleiben? Was sollen wir denn jetzt machen? Willst du wirklich umkehren?" Inzwischen war ihre Wut vollständig verflogen und nur Leere blieb in ihr zurück.

„Ja." Sie wollte sich gerade ruckartig umdrehen, doch er hielt sie fest. „Aber nur zum Schein. Heute Nacht werden wir uns mit minimaler Fahrt heranschleichen und unseren Tauchgang absolvieren. Denn ..."

„... wenn du es nicht versuchst, wirst du nie wissen, ob du es kannst." Jetzt drehte sie sich um, legte ihre Hände an seine Hüften und sah ihn direkt an. „Du hast recht. Und wenn sie uns erwischen, was sollen sie schon tun? Bis die Küstenwache hier ist, hat sich Täubchen längst durch den Dreck gewühlt, und wir haben unsere Antworten."

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen, die nach salziger Seeluft schmeckten. „Danke, du bist wirklich ein Schatz."

Dann ließ sie ihn los, drehte sich um und zog das Ruder nach Backbord. Das war die Seite, auf der das Herz backt, wie ihr Vater zu sagen pflegte, als sie noch klein war. Sie musste lächeln und unterdrückte den Impuls, sich zu Jason umzudrehen, der für den Moment schwieg.

🦀🦀🦀

Einige Stunden später tuckerten sie ohne Licht und in langsamer Fahrt wieder auf das andere Forschungsschiff zu. Selene war ihnen ebenso gewogen wie Poseidon, denn sie versteckte ihre schmale Mondsichel hinter einer größeren Wolke, während Wind und Seegang deutlich aufgefrischt hatten. Das kam ihnen entgegen, denn zwischen den Wellen waren sie viel schwerer zu entdecken als auf spiegelglatter See. Auch das Motorengeräusch wurde so verschluckt. Selbst wenn jemand nachts das Radar im Auge behalten würde, wäre es schwer, sie zu sehen. Aber warum sollten die das tun?

Das Einzige, was ihr in diesem Moment das Gewissen plagte, war die Tatsache, dass sie ihrer Familie vorhin über Funk eine wilde Geschichte aufgetischt hatte. Angeblich mussten sie vor der Südküste, auf der anderen Seite der Insel, noch in einem anderen Gebiet mit dem Roboter tauchen und deshalb dort im Hafen übernachten. Aber das war nur eine kleine Notlüge, denn es konnte ja sein, dass jemand auf dem anderen Schiff ihren Funk abhörte.

Inzwischen tauchten die Positionslichter der Ocean Explorer deutlich zwischen den Wellenkämmen auf. Das mächtige Forschungsschiff war höchstens noch fünfhundert Meter entfernt.

„Wie weit noch?", fragte Jason, der in einer dicken Öljacke an der Tür stand, während draußen einzelne Brecher über die Rehling schwappten. Er war bereit, seinen Täubchen eine rasante Fahrt in die Tiefe zu ermöglichen. Aus dem starken Wind war inzwischen ein Sturm geworden. So viel zu ihrem Lieblingsgott. Aber das war kein großes Problem für ihren Tauchgang. Unter Wasser gab es keine Wellen.

Ein letztes Mal warf sie einen Blick auf das gespenstische Leuchten der GPS-Karte. Sollten sie noch näher heranfahren? Nein. Ihr Roboter hing zwar an einem Kabel, konnte sich aber problemlos bis zu dreihundert Meter von ihrer Position entfernen. Die Herausforderung war eher, dass sie in der Tiefe eigentlich nur auf Sicht navigieren konnten. So etwas wie GPS gab es dort nicht.

„Mach dem Täubchen Feuer unterm Hintern! Ich versuche, die Position zu halten!", rief sie nach hinten.

„Aye aye, Ma'am!" Damit verschwand er in der Dunkelheit und musste sich an der Reling festhalten, um nicht den Halt zu verlieren.

„Und sei vorsichtig!", rief sie noch, aber das hatte er wohl nicht mehr gehört.

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