III
„... und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die originale Videoaufzeichnung, als die Cancer Ignitenebrae, die Dunkelfeuer-Krabbe, aus dem glühenden Magma herauskletterte."
Jason drückte eine Taste auf dem Laptop, der vor ihnen auf dem hölzernen Pult stand. Während sich auf der Leinwand hinter ihr die Tiefseeszene abspielte, die sie schon mindestens hundert Mal gesehen hatte, betrachtete sie die Gesichter im Konferenzraum. Eigentlich hatte sie gehofft, ihre Arbeit einem größeren Publikum präsentieren zu dürfen, aber die Institutsleiter wollten die Aufnahmen erst selbst sehen - und begutachten lassen. So saßen vor ihr an einem langen weißen Tisch nur ein Dutzend Fachkollegen von ihr und Jason sowie die beiden Chefs. Das Licht war abgedunkelt, sodass die Mauern nur als Schatten erkennbar waren. Etwas abseits, neben der Tür, lehnte eine schlanke Frau mit glatten Haaren, deren Gesicht sie nicht erkennen konnte, an der Wand. Die Minen der anderen zeigten ein umso deutlicheres Spiel: Skeptisch-neugierig gerunzelte Stirnfalten glätteten sich, während die Augenpartien sich weiteten und der eine oder andere Mund offenblieb. Zum Schluss, als ein kristallklares Foto der Krabbe vor weißem Hintergrund zu sehen war, setzte ein Raunen und Kopfschütteln ein. Jason drückte auf einen Knopf am Rednerpult und das Licht im Raum ging an.
„Dr. Takhys, das sind faszinierende Bilder. Könnten Sie das noch einmal abspielen?", fragte sie der Leiter ihrer Abteilung, Dr. Alexios Phytogenis. Ein kleiner Mann in den Sechzigern mit rundem Bauch, weißem Haarschopf und Nickelbrille. Ihm hatte sie erst vor wenigen Wochen das Forschungsbudget für ihren Roboter abgerungen.
„Natürlich, Dr. Phytogenis. Außerdem haben wir allen hier Anwesenden Kopien unserer Videos sowie die GPS-Daten, Sensoraufzeichnungen und technischen Logdateien unseres Täub ... äh, Tauchroboters zur Verfügung gestellt."
Sie hatten damit gerechnet, dass die Kollegen skeptisch sein und alles genauestens überprüfen würden. Deshalb hatten sie und Jason beschlossen, von Anfang an mit offenen Karten zu spielen. Nicht, dass noch jemand auf die Idee kam, ihnen zu unterstellen, das Video sei manipuliert oder mit Hilfe künstlicher Intelligenz erzeugt worden. Alle waren auf eine Sensation aus, aber niemand wollte einen Skandal riskieren. Außerdem hatten sie ihr gefangenes Exemplar in einem mit Formaldehyd gefüllten Probenbehälter zur Begutachtung mitgebracht. Als sie sich kurz umsah, war die Frau, die neben der Tür gestanden hatte, verschwunden.
Den Vormittag verbrachten sie damit, Fragen zu beantworten, das gesamte Material noch einmal durchzugehen und die Eindrücke des Fundes zu besprechen. Erste Theorien wurden aufgestellt, was es mit der Krabbe und ihrem einzigartigen Lebensraum auf sich haben könnte.
Plötzlich ergriff Dr. Pyros Lithargos das Wort. Er war der Leiter der Vulkanologie und bildete einen starken Kontrast zu ihrem Chef: groß, hager, mit dichtem schwarzem Haar. Während sie das Video noch einmal abspielten, sagte er langsam: „Hm ... Könnte es nicht sein, dass es gar kein Magma ist? Das orangefarbene Leuchten ist deutlich zu sehen, aber es könnte einen anderen Ursprung haben. Der Roboter war zu weit weg, um die Temperatur zu messen, und viel Lava ist auch nicht ausgetreten."
Medea schluckte trocken. Daran hatten sie in ihrer Begeisterung gar nicht gedacht. Der Mann fuhr unbeirrt fort: „Leider haben Sie keine Bodenprobe genommen. Vielleicht besteht der Meeresgrund gar nicht aus Stein, sondern nur aus weichen Sedimentablagerungen. Das Leuchten könnte von phosphoreszierenden Bakterien stammen. Außerdem hatte ihr Roboter keine Infrarotkamera an Bord, um das zu überprüfen. Das würde erklären, was die Krabbe da unten gesucht hat und wie sie so leicht hinein- und wieder herauskam. Sind wir mal ehrlich: Ein Tier, das in Magma überleben kann? Das wäre aberwitzig."
Schweigen sickerte aus allen Ritzen des Besprechungsraums wie eine zähe Öllache. Die anderen hielten inne und blickten erwartungsvoll auf.
Medeas eigener Chef, Dr. Phytogenis, strich sich übers Kinn und fragte seinen Kollegen: „Sie meinen Ockhams Rasiermesser? Von allen Möglichkeiten ist die einfachste Theorie allen anderen vorzuziehen? Da ist tatsächlich etwas dran."
Der andere zuckte die Schultern. Medea wusste nicht, was sie sagen sollte. Die Theorie des erfahrenen Vulkanologen war verblüffend simpel. Wenn sie sich bewahrheitete, wäre ihre Entdeckung zwar immer noch wissenschaftlich interessant, aber bei weitem nicht die unglaubliche Sensation, auf die sie insgeheim gehofft hatte. Andererseits würden die drastischen Folgen für die Fischerei, die Jason wie ein Schreckgespenst an die Wand gemalt hatte, ausbleiben. Bittere Enttäuschung lag ihr auf der Zunge, während gleichzeitig unendliche Erleichterung sie wie Schmetterlinge durchflutete, als sie an ihre Familie dachte.
Dr. Phytogenis richtete sich auf und steckte die Daumen in den Hosenbund. „Also, meine Damen und Herren. Die Entdeckung dieser Krabbenart ist auf jeden Fall wissenschaftlich äußerst interessant. Allein die Färbung des Panzers einer Tiefseekrabbe ist eine kleine Sensation. Auch wenn die Theorie von Dr. Lithargo plausibler - und deutlich weniger spektakulär - erscheint als die von Dr. Takhys, müssen wir beide in Betracht ziehen. Ich schlage daher vor, dass wir die Physiologie der Krabbe untersuchen und kurzfristig einen weiteren Tauchgang in den Vulkankrater organisieren. Dr. Takhys? Ich nehme an, Sie würden wieder die Projektleitung übernehmen? Ich werde das nötige Budget zur Verfügung stellen. Glauben Sie, dass Sie das gleiche Gerät kurzfristig nochmals einsetzen können?
Immer noch aufgewühlt und mit beiden Theorien beschäftigt, musste sie sich zusammenreißen, um überhaupt ein klares Wort herauszubringen: „Ja. Ja, natürlich. Sehr gerne." Eigentlich graute es ihr davor, erneut zum Vermieter gehen zu müssen und ihn anzubetteln, ihr den Roboter auszuhändigen.
Der andere Abteilungsleiter wandte sich an Jason: „Herr Dr. Theron? Sie sind natürlich auch wieder dabei, damit der vulkanologische Aspekt diesmal nicht wieder vergessen wird. Sorgen Sie dafür, dass die entsprechenden Bodenproben genommen werden."
Der Vorwurf war deutlich zu hören. Jason, dessen Gesicht errötete, beschränkte sich auf ein stummes Nicken.
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Keine zwei Stunden später saßen sie mit Absyrtos zum Mittagessen in Tero's Taverna. Das kleine Hafenbecken war überfüllt mit Fischerbooten, die längst zurückgekehrt waren. Der Fang war schon lange entladen und an die Fischfabrik und den Großmarkt verkauft worden. Die Sonne warf ein Streifenmuster auf eine Platte mit knusprig gegrillter Dorade, die nach Zitronensaft und Oregano duftete. Neben dem Fisch leuchtete ein bunter Salat - rote Tomaten, schwarze Oliven und weiße Feta-Würfel, die im goldenen Schimmer des Olivenöls glänzen. Ein Korb mit warmem Brot wartete darauf, in den pikanten Fava-Dip getunkt zu werden. Die Möwen zogen ihre Kreise und schienen sie lauthals auszulachen.
„Oh Mann", sagte Jason und brach ein Stück Brot ab, „ich hätte wirklich an die Bodenproben denken sollen. Ein schöner Vulkanologe bin ich."
„Da sind wir schon zu zweit", aber im Gegensatz zu ihm war sie gut gelaunt. „Immerhin läuft das Projekt weiter und die Chance auf eine echte Entdeckung besteht noch. Außerdem bin ich froh, dass ich für unsere Eltern nicht gleich den Teufel an die Wand gemalt habe ... Wenn sich wirklich herausstellt, dass es kein Magma war, sondern nur Bakterien, stünde ich ganz schön blöd da."
Ihr Bruder grinste. „Dann hat es ja ausnahmsweise etwas Gutes, dass du nicht gleich mit der Tür ins Haus gefallen bist. Aber was nicht ist, kann ja noch werden."
„Ha, ha, ich ..." Medea brach ab. Aus den Augenwinkeln sah sie eine Frau im Sommerkleid um die Ecke des Restaurants verschwinden, die sie vorher nicht bemerkt hatte. „Was ist?"
„Die Frau, die da gerade verschwunden ist. Habt ihr sie gesehen?"
Jason drehte sich um und blickte über die Schulter „Hm ... nein. Das war hinter meinem Rücken. Keine Ahnung."
Auch ihr Bruder zuckte mit den Achseln. „Ja. Sie hat eben einen Cappuccino getrunken. Sieht eigentlich ganz hübsch aus. Sicher eine Touristin."
„Vorhin während der Präsentation stand jemand an der Tür", klärte sie ihn auf. „Eine Frau mit glatten Haaren, deren Gesicht ich nicht erkennen konnte. Keine Kollegin. Später war sie verschwunden."
Jason sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Und was willst du damit sagen? Dass uns jemand nachspioniert? Wozu sollte das gut sein? Wir haben doch kein Geheimnis aus unserem Fund gemacht."
Das war die Frage. Wer könnte das gewesen sein? Jemand von der Universität? Die hätte sie direkt ansprechen können. Eine Journalistin? Aber warum dann die Heimlichtuerei? Würde die nicht auch ein Interview mit ihr führen wollen? Wahrscheinlich hatte er recht. Sie sah Gespenster. Und heute Nachmittag musste sie zuerst zum Vermieter und versuchen, ihn zu überreden, ihr den Roboter noch einmal auszuhändigen. Anschließend musste sie zu ihrem Onkel, damit er ihr das Boot erneut auslieh. Am Ende würde sie sich wohl eine Standpauke von ihrem Vater anhören müssen, warum sie so wankelmütig war und die Sachen erst zurückgab, um sie sich dann gleich wieder auszuleihen. Aber das konnte ihre gute Laune nicht verderben. Es gab viel zu tun und spätestens morgen würden sie ihr Täubchen zurück in die Tiefe schicken. Es wäre doch gelacht, wenn sie den Dunkelfeuer-Krabben nicht ihr Geheimnis entlocken könnten. Außerdem würden sicher bald die ersten Ergebnisse der Untersuchung der toten Exemplare vorliegen.
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