II
Der Rest des Tages verlief mehr als turbulent: Nachdem sie wussten, wonach sie zu suchen hatten, fanden sie noch drei weitere Krabben und konnten sogar eine fangen. Bei der Rückgabe ihres Täubchens am späten Nachmittag musste sie zunächst eine Schimpftirade des Vermieters über sich ergehen lassen, die mit der Drohung endete, nie wieder etwas an ihre Uni zu verleihen. Ähnliches durfte sie sich danach von ihrem Onkel anhören. Damit war klar, was sie zu Hause erwarten würde. Santorin war eine kleine Insel. Und eine eigene Wohnung konnte sie sich nicht leisten. Die Uni war chronisch knapp bei Kasse. Offiziell arbeitete sie nur Teilzeit. Die Kaution für den Tauchroboter würde sie wahrscheinlich auch nicht wiedersehen. Doch nichts davon konnte das Hochgefühl vertreiben, das sie seit ihrer Entdeckung wie ein Surfbrett über alle Wellen trug, die ihr entgegenschlugen.
„Hey, Jason, was ist los?" Sie stupste ihren Partner mit der Schulter an, als sie in der Abendsonne die Hafenkante entlangschlenderten. Trotz ihres Erfolgs machte er ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter - hier auf Santorin, wohlgemerkt. „Morgen ist unser Tag. Wir präsentieren die Bilder und unseren Fang der Fakultät. Dann können die gar nicht anders, als uns einen ordentlichen Forschungsauftrag zu geben. Mit einem richtigen Schiff, einer Mannschaft und allem Drum und Dran."
Er schwieg und kickte einen Kieselstein ins Hafenbecken.
„Jetzt rede schon."
„Du weißt, was passiert, wenn du das morgen vorstellst?"
„Klar. Das habe ich dir doch gerade erzählt. Was meinst du?"
Mit einem Ruck hielt er inne und blickte auf. „Wenn das so eine Sensation ist, meinst du nicht, dass Dutzende von Forschungsteams kommen? Vielleicht sperrt die Regierung sogar das ganze Seegebiet um den Vulkan. Hast du auch nur einen Gedanken daran verschwendet, was das für die Fischer hier bedeutet? Für deine Familie?"
Sie schluckte und starrte ihn sekundenlang an. Eine Gänsehaut kroch ihr den Rücken hinunter. Der Pier unter ihr schien zu schwanken, als wäre sie auf hoher See, und sie musste sich am Geländer festhalten. Verdammt. Jason hat recht. Sie war die ganze Zeit mit mentalen Scheuklappen unterwegs gewesen. War durch den Tunnel ihres scheinbaren Erfolges marschiert, ohne nach links und rechts zu schauen. Das Revier um den Vulkan war wegen des nährstoffreichen Wassers ideal zum Fischen. Doch auch dort nahmen die Fischbestände stetig ab. Ihr Bruder Absyrtos würde den Familienbetrieb wohl nicht mehr weiterführen können, obwohl er das Meer liebte. Aber ihre Entdeckung und deren Veröffentlichung würden wie ein Brandbeschleuniger wirken. Egal, ob das Gebiet von der Regierung gesperrt wurde oder nicht, allein der „Forschungstourismus" würde das Auswerfen der Netze für Monate sinnlos machen. Und wenn der Fund wirklich so spektakulär war wie vermutet, vielleicht sogar auf Jahre hinaus. Das wäre der sofortige Bankrott ihrer Familie.
„Aber ..." Was soll ich sagen? „Jason, ich muss es publik machen! Es geht nicht nur um meine Karriere. Die Tiere könnten die Medizin und die Materialforschung revolutionieren."
„Natürlich sollst du nichts verheimlichen. Ich meine nur, dass du es deinen Eltern sagen musst. Noch heute. Und auch, was es für sie bedeuten könnte."
Natürlich musste sie das. Was ihr eben wie ein Sechser im Lotto vorgekommen war, hatte sich in diesem Moment in eine Henkersmahlzeit verwandelt. Eine großartige Nachricht für sie, die ihrer Familie den wirtschaftlichen Todesstoß versetzen könnte. Wie würde sie aus dieser Nummer herauskommen? Würde sie genug verdienen, um ihre Familie zu versorgen? Vielleicht. Es sei denn, jemand anderes würde sich den Ruhm unter den Nagel reißen. Aber selbst wenn sie gut verdiente, der Stolz ihres Vaters würde es nie zulassen, dass er Geld von ihr annahm. Er würde es ihr nie verzeihen, wenn sie die Familientradition zerstören würde.
Ihre Präsentation war für morgen früh angesetzt, das konnte sie nicht mehr verschieben. Also blieb ihr nur der heutige Abend, um mit ihrer Familie zu sprechen - und doch noch einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden.
🦀🦀🦀
Eine Stunde später, es war kurz vor zehn, und die kalten Sterne zwinkerten ihr höhnisch zu, stand sie allein vor der hellblau gestrichenen Tür. Sie hatte mit Jason überlegt, was sie ihren Eltern sagen sollte. Ob nicht doch eine andere Lösung existierte. Eine Hoffnung, die Fischerei zu erhalten. Sicher gäbe es eine Entschädigung von der Regierung. Aber ihr war klar, wie fad das klang. Und selbst wenn, es würde nichts ändern. Sie schluckte. Zögerte wieder. Schließlich legte sie ihre leicht zitternde Hand auf den kühlen Türknauf, öffnete und trat ein.
„Κορίτσι μου! Wo bist du solange geblieben? Das Essen ist schon lange kalt! Warum hast du nichts gesagt?" Idyia, ihre Mutter, kam aus der Küche zu ihr gelaufen, umarmte sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Musstest du lange arbeiten? Und warum hast du Jason nicht mitgebracht? Er ist so ein hübscher Junge. Den solltest du wirklich nicht vom Haken lassen. Ich bin sicher, dass er eines Tages Professor an deiner Universität wird und gutes Geld verdient."
„Μαμά!" Sie schob ihre Mutter ein Stück von sich weg. „Jetzt lass mich doch erst mal eintreten."
Fast beleidigt trat sie einen Schritt zurück. Am hölzernen Esstisch saßen ihr Vater und ihr Bruder und ließen konzentriert die Würfel über ihr Tavli-Spielbrett rollen. Abwechselnd wurden schwarze und weiße Steine auf die aufgemalten, spitzen Pyramiden der Spielfelder gesetzt. Nur Absyrtos, ihr Bruder, blickte kurz auf, winkte und lächelte ihr zu, während Aietes sie erwartungsgemäß ignorierte.
Nochmals atmete sie tief durch. Sie konnte problemlos vor einem Auditorium mit hundert renommierten Professoren sprechen, aber wenn es um ihre eigene Familie ging, war sie noch genauso unsicher wie als kleines Mädchen. Da musste sie durch. Jetzt oder nie.
„Ich muss euch etwas Wichtiges sagen."
Ihre Mutter legte den Kopf schief. „Was ist denn, Medea? Ist etwas passiert? Gab es einen Unfall? Oh Gott!" Sie schlug die Hände vor den Mund. „Sag nicht, dass Jason etwas zugestoßen ist!"
„Μαμά, nein, keine Angst. Beruhige dich. Ich habe ... gute Nachrichten."
„Aber Kind - warum schaust du dann so bedröppelt? Willst du dich nicht erst setzen? Ich kann dir noch was von dem Fisch warm machen, wenn du willst."
Sie hob abwehrend die Hände und schloss für einen Moment die Augen. „Nein. Bitte. Es ist wirklich wichtig." Endlich hatte sie die Aufmerksamkeit ihres Vaters, der sich zu ihr umdrehte und die Augenbrauen hob. „Ich ... wir ... Jason und ich haben eine tolle Entdeckung gemacht. Eine Krabbe, die in Magma überleben kann. Am tiefsten Punkt des Kolumbos." Als ihre Familie sie weiter anstarrte und immer noch auf die angekündigte große Neuigkeit zu warten schien, fügte sie hinzu: „Versteht ihr nicht? Das ist eine wissenschaftliche Sensation! Ich werde sie morgen an der Universität vorstellen. Vielleicht kommt es sogar in die Nachrichten. Das bringt mir bestimmt eine gut bezahlte Stelle oder eine Professur!"
„Na, das ist doch schön", meinte Aietes. „Dann kann sich meine Tochter endlich eine eigene Wohnung leisten." Damit wandte er sich wieder seinem Spielbrett zu.
Sollte sie noch etwas sagen? Es war verlockend, es dabei zu belassen. Sie hatte ihrer Familie alles erzählt, oder? Musste sie wirklich den Teufel an die Wand malen? Eventuell hatten Jason und sie sich geirrt. Vielleicht war es gar keine Sensation und sie würden morgen ausgelacht werden. Oder die Dunkelfeuer-Krabbe war plötzlich verschwunden und ihre Videoaufnahmen wurden als Fälschung verschrien. Sie hatten den Panzer nicht untersucht, und es gab keine harten Beweise. Okay, ich habe es ihnen gesagt, beruhigte sie sich. Das musste erst mal genügen. Wenn sich herausstellt, dass es wirklich eine Sensation ist, werde ich sie informieren. Das ist noch früh genug.
Mit Mühe und Not zauberte sie ein Lächeln auf ihre Lippen. „Ja, genau. So ist es. Das wollte ich euch nur sagen. Μαμά? Mir reicht heute Brot und ein bisschen Käse. Ich esse in meinem Zimmer."
Absyrtos' forschender Blick entging ihr nicht, als sie an ihrer verblüfften Mutter vorbei in die Küche schlüpfte. Ihr Bruder kannte sie besser als jeder andere Mensch auf der Welt.
Wenig später saß sie in ihrem Zimmer und betrachtete ihre selbst gemalten Ölbilder: Ein Sonnenaufgang vor der malerischen Kulisse von Pygros; ein Bild von Poseidon, ihrem Lieblingsgott aus der griechischen Mythologie, den sie öfters verfluchte; ein Stillleben von ihrem nächtlichen Zeltlager in der freien Natur. Wie gerne würde sie wieder einfach losziehen und unter freiem Himmel übernachten. Allein mit sich und den Sternen ... und vielleicht auch mit Jason. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie daran dachte, wie es wäre, mit ihm einen Schlafsack zu teilen und die Sterne zu zählen. Der nächste Gedanke verscheuchte es sofort wieder: War sie ehrlich genug gewesen? Hatte Jason recht und sie hätte ihre Familie warnen sollen, was ihre Entdeckung bedeuten könnte? Nein. „Könnte" war das Schlüsselwort. Sie würde es ihnen sagen, aber erst, wenn es sicher war.
Ein Klopfen riss sie aus ihren Gedanken, als sie gerade ihre schwarzen Locken bürstete. „Ja, bitte?"
Es war Absyrtos, der seinen Kopf in die Tür steckte. „Hey, Medea, darf ich reinkommen?"
Sie winkte ihn herein. „Immer. Das weißt du doch."
Er ließ sich in Ermangelung einer anderen Sitzgelegenheit auf ihr Bett fallen. „Was du vorhin gesagt hast ... das ist nicht alles, oder?"
Ihre Wangen glühten. Ihr Bruder war der Einzige, dem sie uneingeschränkt vertraute. Der sie immer verstand und ihr immer zur Seite stand. Ihm konnte und wollte sie nichts vormachen.
„Nein." Sie ließ die Bürste sinken und sah ihn an. Seine braunen Augen waren tief und dunkel. Ganz anders als Jasons. Und auch sonst wirkte er mit seinem kurzgeschorenen Haar und den kräftigen Schultern eines Fischers eher wie ein Türsteher, obwohl er keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. „Nein, das war noch nicht alles. Wenn es wirklich die Sensation wird, wie wir glauben ... und ich sage ausdrücklich: Wenn - dann könnte es passieren, dass das ganze Seegebiet um den Kolumbos gesperrt wird. Oder, dass sehr viele Forschungsschiffe kommen."
Er starrte sie an. Selbstverständlich wusste er, was das bedeutete. Jeden Tag fuhr er mit ihrem Vater lange vor Sonnenaufgang hinaus. Kein Wort kam über seine Lippen.
„Versteh doch. Ich kann es nicht verheimlichen. Diese Entdeckung würde die Wissenschaft revolutionieren. Sie wäre ein Gewinn für die ganze Menschheit."
„Und natürlich auch für dich", fügte er tonlos hinzu.
„Ja. Natürlich. Aber wenn es nur um mich ginge ..."
„... würdest du trotzdem damit an die Öffentlichkeit gehen. Ich kenne dich gut genug, Αδερφούλα μου. Du kannst nicht anders. Was hast du immer gesagt? Wenn du es nicht versuchst, wirst du nie wissen, ob du es kannst? Niemals könntest du eine so große Entdeckung für dich behalten. Nie war dir ein Berg zu hoch oder ein Ozean zu tief. Immer kamen deine Herausforderungen zuerst und dann der Rest der Welt."
Sie biss sich auf die Lippe. Er kennt mich besser als ich mich selbst. „Ja. Tut mir leid. Sobald es sicher ist, dass es um die Fischerei geht, werde ich es unseren Eltern sagen. Versprochen. Aber bis dahin ... behältst du es bitte für dich?"
Absyrtos stand auf, kam zu ihr und umarmte sie. „Natürlich. Du weißt am besten, wann der richtige Zeitpunkt ist, es ihnen zu sagen. Ich werde mir früher oder später sowieso eine andere Arbeit suchen müssen. Aber Vater ... du weißt, es wird ihm das Herz brechen, wenn er die Fischerei aufgeben muss."
Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle. „Ja", brachte sie mühsam hervor. „Ja, ich weiß."
Damit ließ er sie allein mit ihren wirbelnden Gedanken, einem wilden Sturm aus Aufregung, Stolz, Selbstvorwürfen und Zweifeln, aus dem sie sich selbst heraus navigieren musste. Weder ihr Bruder noch Jason konnten ihr dabei helfen. Sie musste es mit sich selbst ausmachen. Aber wie hatte Absyrtos richtig gesagt? Wenn du es nicht versuchst, wirst du nie wissen, ob du es kannst. Auch diese Herausforderung würde sie meistern. Irgendwie.
🦀🦀🦀
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top