Tantrum Teil 9

Tantrum

9

Noch bevor die Sonne richtig die Ankunft des neuen Morgens kund gab, standen Eve und Nate vor dem verschlossenen Friedhofstor. Die Spitze des Kirchturms leuchtete in majestätischem Goldrot, während die hinter der Mauer liegenden Gräber nach wie vor zu großen Teilen in gespenstische Dunkelheit gehüllt waren. Eve sah sich ergriffen um. Das Meer in der Ferne war zu einem sanft wogenden Spiegel erwacht, über dessen Oberfläche vermutlich soeben Seevögel nach Futter suchten. Die sich unter ihr erstreckende Stadt schimmerte friedlich im Licht der Straßenbeleuchtung. Murna war bestimmt gerade dabei, die Füße aus dem Bett zu heben. Vorsichtshalber nahm Eve ihr Handy heraus und schaltete es auf stumm. Sie hoffte, dass die Nachricht auf dem Küchentisch ausreichen würde, Murna zu beruhigen, wusste jedoch, dass die Chancen darauf schlecht standen.

„Verrätst du mir jetzt, was diese Heimlichtuerei soll?", wollte Nate wissen, als er das Werkzeug aus dem Kofferraum holte. „Ich weiß doch, wenn du mit deinen Gedanken irgendwo im Niemandsland bist." Natürlich war ihm aufgefallen, dass sie ihm immer wieder ausgewichen war, wenn er versucht hatte, eine Unterhaltung anzufangen. So wie jetzt. „Eve. Hörst du mir überhaupt zu?" Er drehte den Kopf nach hinten. Noch immer sah sie nicht besonders gesprächig aus.

„Hab Geduld" murmelte Eve in ihren Rucksack hinein. Sie zog zwei Taschenlampen daraus hervor und checkte nochmals die Batterien, obwohl sie das bereits zuhause getan hatte. Die Vorstellung, in dem unterirdischen Stollen auf halber Strecke plötzlich im Dunkeln zu stehen, war der blanke Horror. Zur Not hätte sie immer noch die Taschenlampenapp ihres Handys. „Ich will dir alles zeigen, aber du musst mir vertrauen."

Das Tor des Friedhofs und die Kirchentür aufzuknacken war eine Kleinigkeit für Nate. Er half hin und wieder im Antiquitätenladen seines Vaters aus, der alles Mögliche aufpolierte und reparierte, solange es mit Holz und Metallen zu tun hatte. Die Tür im Inneren der Kirche war da schon schwieriger aufzubekommen. Schließlich schaffte er es.

„Du hast fünf Minuten gebraucht", sagte Eve scherzhaft, um ihn aufzuziehen. „Wenn die Tür einen Alarm gehabt hätte, säßen wir jetzt schon im Knast."

Nate starrte sie unverwandt an. „Ich bin nicht mein Vater. Das nächste Mal solltest du ihn mitnehmen, wenn du wo einbrechen willst. Er ist der Experte für antike Schlösser in unserer Familie."

„Der Anblick, den du gleich vor dir haben wirst, wird dich für alles entlohnen, glaub mir."

Nate steckte das Werkzeug in den Rucksack und setzte ihn auf. Eve konnte sehen, dass er sich unwohl fühlte, weil er noch immer nicht wusste, was ihn erwartete.

„Bist du bereit?"

„Mir bleibt ja kaum eine andere Wahl."

Grinsend reichte sie ihm eine der Taschenlampen. Dann klopfte sie ihm auf die Schulter und schritt beherzt durch die Tür in die Dunkelheit, wo sie das Licht der vielen aus der Kirche stammenden Kerzen, die zum Gedenken Verstorbener brannten, nurmehr schwer erreichen konnte. Fast zeitgleich knipsten sie die Lampen an. Der Raum mit den Statuen erhellte sich.

„Woah!" Nate wich ein Stück zurück. Ehrfürchtig sah er sich um und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, als sein Blick an den riesigen Figuren hängenblieb, die in dem verborgenen Nebenraum der Kirche den Eindruck einer eigenen kleinen Museumswelt vermittelten.

„Hab ich doch gesagt. Die sind unglaublich, oder?", verkündete Eve strahlend; der auf die Statuen fallende Lichtschein ließ sie noch viel lebensechter und gruseliger erscheinen, als bei ihrem erstem Besuch mit Dave.

„Was machen die alle hier? Wie hast du die gefunden?"

„Dave hat sie mir gezeigt. Niemand kommt so einfach hier rein." Es sei denn, er ist mit Dämonen im Bunde, dachte sie im Stillen.

„Du warst mit ihm hier drin?"

Eve spürte Nates Abneigung und bereute sofort, dass sie von Dave gesprochen hatte. Schnell konterte sie: „Es ist ein ganz besonderer Ort. Er meinte, die Statuen wären die Abbilder von Dämonen und Engeln. Klingt ziemlich finster, nicht?"

„Da hat er Recht", bestätigte Nate grimmig. „Besonders der hier." Er schwenkte seine Lampe auf und ab. Zufällig zeigte sie in die linke Ecke des Raumes, wo eine Darstellung des Armor stand. Die Figur war aus weißem Marmor und um einiges größer als ein Mensch. Sie besaß wunderschön authentisch aussehende Flügel mit filigran gestalteten Federn, die im Licht der Lampe so hell wie der Mond erstrahlten. Auf Armors Rücken war ein Köcher angebracht, aus dem gefiederte Pfeile herausragten, und in der Hand hielt er einen Bogen.

Eve traute ihren Augen kaum, als sie dem Schein des Lichtstrahls folgte. So einen Anblick sah man sonst nur in Büchern oder Filmen. Ein Jammer, dass sie wieder keine Zeit hatte, die einzelnen Figuren näher zu begutachten.

„Hat er dich hergebracht, um vor dir anzugeben?", fragte Nate.

Es waren bittere Worte, die Eve unvorbereitet aus ihren Gedanken rissen. „Was redest du da?"

„Der Fall ist doch klar, oder?"

„Nein, ganz und gar nicht. Er hat mir Jamies Grab gezeigt. Und das wollte ich dir ebenfalls zeigen, weil ich will, dass du mich verstehst. Aber was du sagst, klingt so, als wärst du auf ihn eifersüchtig. Das ist echt kindisch von dir."

Nates Gesicht fiel in sich zusammen. „Du irrst dich. Ich will nur das Beste für dich. Aber dieser ... er ist nicht gut für dich. Er könnte dir nicht das geben, was du verdienst. Dir liegt die Welt offen. Du bist mega hübsch, super klug und wirst eines Tages von hier weggehen. Irgendwo baust du dir ein wunderschönes, mehrere hundert Quadratmeter großes, ebenerdiges Haus und führst ein tolles Leben mit einem Typen, der keine Anzüge von der Stange tragen muss ..."

Eve schaute ihn mit großen Augen an. Unwillkürlich musste sie an Ludy denken, die ihre Heimatstadt immer als verschrobenes Nest bezeichnet hatte, bevor sie die Gelegenheit beim Schopf gepackt hatte und nach New York gegangen war. Sie war zu perplex, um etwas einzuwenden.

„... Vielleicht bekommt ihr ja sogar ein paar perfekte Kinder und werdet steinalt", setzte Nate oben drauf.

„Danke für die Blumen", sagte Eve trocken, nachdem er fertig war. Sie mochte die Stadt mit ihren ureigenen Leuten und der schönen Umgebung. Als sie sich halbwegs wieder gefangen hatte, fügte sie (ohne auf das Kompliment einzugehen, dass er sie mega hübsch fand, wohingegen sie sich eher als durchschnittlich bezeichnet hätte) hinzu: „Wer sagt denn überhaupt, dass ich das will? Mir gefällt es hier."

„Wenn du die Möglichkeit hast, von diesem Kaff wegzukommen, solltest du sie ergreifen."

Zerknirscht betrachtete sie Nates versteinerte Miene und sagte nur: „Du übertreibst. Wieso bist du denn noch hier, wenn Whitehurst Bay so schrecklich für dich ist?" Kaum hatte sie es ausgesprochen, bereute sie es. Wie sollte jemand verstehen, was in ihr vor sich ging, wenn er nicht wusste, was sie durchgemacht hatte? Trotz der vielen überzogenen Anspielungen konnte Eve niemandem einen Vorwurf machen, wenn er das von ihr dachte, was Nate angesprochen hatte. Ihre Eltern hätten sie bevorzugt auf ein Elitecollege geschickt, wo sie bestimmt einen reichen Studenten kennengelernt hätte, der ihrem Stand entsprach, wie ihre Tante Gertrud es bezeichnen würde. Nur mit Mühe und Not hatte sie sich dagegen behaupten können und durchgesetzt, in Whitehurst Bay zu bleiben, wo das Leben ungefähr so aufregend war wie in einem Zoogehege voller Faultiere.

„Ist nicht so leicht, sich mit leeren Taschen aus dem Nichts was aufzubauen."

Eve, die nicht glauben wollte, dass er ihretwegen darauf verzichtet hatte, von hier wegzugehen, schaute verdrossen zu Boden. „Du hast doch gesagt, dass ich mich seltsam verhalte ..." Nates Selbstwertgefühl war im Keller angekommen und dagegen musste sie dringend etwas unternehmen. Gerade deswegen wollte sie ihm die Wahrheit über sich, Tod, Jamie und Dave beibringen. Selbst wenn er ihr nicht glauben würde, musste sie es versuchen.

„Eve ..."

„Nein, du hast schon Recht", sagte sie schnell. „Deshalb sind wir ja auch hier."

„Zeig mir einfach Jamies Grab. Je länger wir hier herumstehen, desto größer werden die Chancen, dass uns jemand entdeckt."

„Gut." Sie nickte zustimmend, schließlich hatte sie immer noch ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn in etwas hineinzog, dessen Entwicklung nur schwer absehbar war. „Aber es ist nicht das, was du erwartest."

„Um ehrlich zu sein, erwarte ich gar nichts."

Eve führte ihn zu der Mauer, durch die sie mit Dave in den geheimen Tunnelgang gelangt war. „Hier ist es. Hier müssen wir durch."

„Bist du sicher, dass du dich nicht irrst? Sieht nicht so aus, als würde sich in der Wand eine Tür befinden."

„Das ist es ja. Die Wand ist die Tür." Sie näherte sich dem Stein, den Dave berührt hatte, und wollte ihre Hand darauf setzen.

„Warte, Eve. Lass mich das machen."

„Ist gut. Du musst nur deine Hand darauf legen."

Nate sah sie mit gerunzelter Stirn an und seufzte. Als er sich der Wand näherte und den Stein berührte, kniff Eve die Augen zusammen und wartete darauf, dass die Wand zurückglitt.

„Es tut sich nichts", sagte Nate.

„Warte ..."

Doch einige Sekunden später stand fest, dass auch das Warten nichts bringen würde. „Ich verstehe das nicht. Es funktioniert nicht", stöhnte Eve. „Wieso zum Teufel funktioniert es denn nicht?"

„Vielleicht brauchen wir einen Schlüssel, um durchzukommen."

„Dave hatte auch keinen Schlüssel für die Wand."

„Siehst du dieses Zeichen hier?" Nate deutete auf den Stein. Eve beugte sich zu ihm vor und sah, dass darin tatsächlich kleine ineinander verschlungene Dreiecke eingeritzt waren. Man musste sehr genau hinsehen, um etwas zu erkennen. „Das ist ein Mal, das der Wiedererkennung dient", fuhr er fort. „Viele historisch bedeutende Gestalten besaßen so was."

„Das weiß ich, Nate. Aber wir reden hier nicht bloß von historisch bedeutenden Gestalten, sondern von etwas Dunklerem."

„Deshalb all diese Dämonen aus Stein", schlussfolgerte Nate. Er zog wie ein Schwert einen silbernen Kugelschreiber aus seiner Jackentasche und hielt ihn bedeutungsschwanger in die Luft. „Du willst wirklich mit mir da rein? Du willst das durchziehen und mit mir hinter diese Wand?"

Eve nickte. Vor Anspannung hatte sie ihre Unterlippe zwischen die Zähen geklemmt und guckte schief.

„Also gut", sagte Nate unbeirrt. Der Kugelschreiber klickte, er setzte ihn feierlich auf seine Handinnenfläche und malte ein blaues Pentagramm darauf. „Siehst du? Jetzt haben wir ein Zeichen."

Eves Herz klopfte bis zum Hals, als sie dabei zusah, wie er den Kugelschreiber wegsteckte und seine Hand erneut auf den Stein legte. Sie hielt die Luft an. Nate drückte die Hand immer fester darauf, aber nichts geschah.

„Vielleicht gefällt dieser Wand die Farbe nicht", sagte Nate. Es sollte wie ein Scherz klingen, doch Eve hatte dafür nichts übrig.

Sie schnaubte wie ein gereiztes Ross und schlug mit der Faust in die Luft. „Wieso funktioniert es nicht?", fragte sie in einem Anflug der Verärgerung an Nate gewandt. „Bei Dave hat es doch auch geklappt."

„Willst du die Antwort darauf wirklich von mir hören?"

„Nur zu, du Schlauberger. Ich will dir beweisen, dass ich Recht habe. Was ich brauche, ist nur ein Schubs in die richtige Richtung."

So wie Dave es getan hatte ...

Nate atmete tief ein. „Na gut. Wenn sich hinter dieser Wand wirklich etwas Übernatürliches befindet, haben wir keinen Zugang dazu, weil uns die Befugnis fehlt, die geheime Tür zu öffnen", philosophierte er. „In der Literatur wird an dieser Stelle oft von Schlüsseln gesprochen, aber das müssen keine gewöhnlichen Schlüssel sein. Manchmal sind es Zölle, die für den Durchlass in eine geheime Passage verlangt werden. Das kann ein in kulturellen Kreisen als magisch geltendes Objekt oder ein Blutzoll sein. Ich hab mal ein Buch von einem Universitätsprofessor gelesen, der, mit heiligen Gegenständen ausgestattet, die Hochstädte verschollener Kulturen erkundete. Er hatte immer ein paar Esel dabei, die den ganzen Krempel für ihn schleppen mussten. Obwohl er viele gefährliche Gegenden besuchte, ist ihm auf seinen Expeditionen nie etwas zugestoßen. Allerdings haben ihn die Kritiker seiner Theorie für verrückt erklärt."

Der finstere Blick auf Eves Gesicht lichtete sich und sie fasste sich mit der flachen Hand auf die Stirn. „Es funktioniert nicht, weil du ein gewöhnlicher Sterblicher bist."

„Dir ist schon klar, dass du dich seltsam anhörst?"

„Oh, wart's ab. Wenn wir erst da unten sind, wird es noch viel seltsamer."

„Dazu müssen wir aber erst mal durch diese Wand."

„Sei doch mal still, Nate, ich muss nachdenken." Sie lehnte sich gegen den gewaltigen Adonis aus Stein, mit dem sie schon zuvor oberflächliche Bekanntschaft geschlossen hatte, und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Es gibt noch eine andere Möglichkeit", sagte Nate mit gespieltem Ernst. „Ich muss schnellstens den Pfad zur Unsterblichkeit beschreiten."

„Mach dich nur lustig über mich. Manche Menschen glauben, dass es Übernatürliche Wesen gibt. Ist das so schwer zu verstehen?"

Ich bin mehr oder weniger eine davon.

„Ich versuche nur, dir zu helfen, Eve. Nehmen wir mal an, du hast Recht ... wenn es diese Wesen wirklich gibt, wenn du eine von ihnen bist ... du müsstest ein Mal besitzen – ein echtes Mal, nicht ein aufgemaltes."

Eve löste sich von dem Adonis los. In ihren Augen blitzte es messerscharf auf. „Ich hab ein Mal. Aber das hat was anderes zu bedeuten." Sie konnte die Aufregung in sich kaum zügeln, als sie ihm von den Narben erzählte, die ihren Nacken zierten.

„Ich erinnere mich daran", entgegnete Nate leise. „Ich hab sie schon oft gesehen."

„Richtig. Aber ich hab dir nie erzählt, was sie bedeuten." Es lag ihr fern, auf ihrer vergeigten Beziehung herumzureiten. Ohne Nate anzusehen, der zum Glück nichts dazu sagte, ging sie an ihm vorbei auf die Wand zu und legte ihre Handfläche auf den Stein. Diesmal funktionierte es. Die Wand glitt beiseite und gab das schwarze Loch frei. Eves Haare wirbelten in dem kalten Luftzug um ihren Kopf, als sie Nate ein Lächeln zuwarf. Sie packte fest ihre Taschenlampe und tat so, als würde sie seinen vor Verblüffung weit aufgesperrten Mund gar nicht bemerken. „Dann wollen wir mal."

In dem Tunnel unter der Erde war es bitterkalt. Eve hatte sich vorbereitet und diesmal festere Schuhe sowie eine warme Jacke angezogen. Trotzdem kam es ihr unwirklich vor, als sie die Stufen in die Tiefe hinabstieg, hinter sich Nate im Schlepptau. Sie sprachen kaum miteinander – die Anspannung zwischen ihnen war zu groß. Nate hatte bestimmt Erwartungen, die er vielleicht nur nicht erklären konnte.

Je weiter sie zur Höhle vordrangen, desto mehr hämmerte ihr Herz gegen die Brust. Dann sah sie das Licht am Ende des Gangs und konnte den Geruch von brennenden Fackeln riechen. Jemand war ihr zuvorgekommen. Jemand war hier, um Jamie zu sehen.

Eve legte ihren Zeigefinger auf den Mund und wandte sich Nate zu, doch er hatte anhand ihrer Körpersprache längst begriffen, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte. Sie knipsten ihre Lampen aus und steckten sie weg. Langsam und vorsichtig schlichen sie weiter und näherten sich dem Ausgang des Tunnels, der in die Höhle mündete. Hinter dem Schatten einer Felskante suchten sie schließlich Deckung.

Der Anblick der im künstlichen Licht gedeihenden Pflanzen offenbarte aus dieser Perspektive ganz neue Eindrücke, für die Eve jedoch nichts übrig hatte. Es gab andere Dinge zu sehen: Etwas abseits des unterirdischen Sees waren mehrere Gestalten erkennbar. Drei schwarz gekleidete Figuren, deren Hinterköpfe unter den Kapuzen ihrer Pullover steckten, knieten reihum mit geneigten Häuptern vor dem Sarg; der körperlichen Konstitution nach musste es sich bei allen um Männer handeln. Vor dem Sarg, den Blick zum anderen Ende der Höhle gerichtet, stand in einer schwarzen Jacke Dave. Unbewusst brannten sich Eves Augen auf seinen Rücken, der deutlich die unter der Jacke liegenden Konturen seines trainierten Oberkörpers erkennen ließ. Eve zwang sich, nicht länger hinzusehen.

Ein großer hagerer Mann mit langem silbernem Haar, das wie feine Spinnenfäden von seinen kantigen Schultern hing, trat in ihr Blickfeld. Woher er so plötzlich gekommen war, konnte Eve nicht sagen, doch seine Augen – je eines in den Farben hellblau und das andere Bernstein – funkelten so bedrohlich, dass sie sich instinktiv näher an die schützende Felswand kauerte. Seine Erscheinung, die sich insbesondere durch die auffallend elfenhafte Kleidung in verlaufendem Blau und Grün hervorhob, war beeindruckend, und jagte ihr einen kalter Schauer über den Rücken. Noch nie hatte sie einen Mann gesehen, der einem Elf so ähnlich gesehen hatte – und damit dachte sie nicht an die Weihnachtselfen. Er bewegte sich geschmeidig wie eine Raubkatze auf geräuschlosen Sohlen durch die Halle und zog ein schmales Langschwert aus der Scheide an seinem Gürtel. Seine knochendürren Finger hatten krumme, scharfe Nägel, die sich fest in den Schwertgriff gruben.

Mit einer Geste der Darbietung sprach er zu Dave. Seine Stimme schnitt rau und klirrend kalt durch die feuchtwarme Luft: „Das Schwert und diese drei Tierwandler in den Gestalten des Adlers, der Schlange und des Panthers sind ein Geschenk deines Vaters. Sie werden dir mit ihren Fähigkeiten zur Seite stehen."

Dave trat ihm mit ausdrucksloser Miene entgegen. „Ihre Hilfe wird nicht nötig sein. Ich muss das alleine tun", sagte er entschlossen. Er nahm das Schwert an sich und ging zu dem gläsernen Sarg hinüber, die drei knienden Gestalten unter ihren schwarzen Kapuzen nur eines verächtlichen Blickes würdigend.

„Sie wurden angewiesen und werden sich fügen, wie ihnen geheißen."

„Bemühe dich nicht, Onkel. Ich habe ihnen längst befohlen, sich zurückzuhalten." In kämpferischer Haltung blieb Dave vor dem Sarg stehen. Er sah aus wie ein großer Krieger vor dem beherzten Sprung in die Schlacht. Ohne weiter auf den hageren Mann zu achten, lenkte er seine Aufmerksamkeit einer kunstvoll gearbeiteten Urne aus Metall zu, die neben Jamie auf einem Sockel aus Stein stand, und sprach nun zärtlicher: „Ich kann nichts mehr für ihn tun. Sie war meine letzte Hoffnung, Mutter."

Eves Herz raste. Sie sah, dass Jamie unverändert aufgebahrt war, neben ihm die Urne, die sie zum ersten Mal erblickte. Vor Aufregung zitterte sie am ganzen Leib. Verwundert beobachtete sie, wie Dave die Arme hob, das glänzende Schwert in seinen Händen auf Jamie richtend. Sie schlug die Hand vor den Mund, um nicht vor Entsetzen zu schreien. Sie verstand gar nichts mehr. Während sie sich noch fragte, was Dave vorhatte, starrte sie mit angsterfülltem Blick und gelähmtem Körper auf das Schwert. Er wird ihn töten, dachte sie panisch.

Er wird ihn töten. Er wird ...

Ein Scheppern riss sie aus ihrer Starre. Sie brauchte nicht lange nach der Ursache suchen: es war die metallene Urne, die neben Jamie in Bewegung geraten war. Sie polterte und hüpfte auf dem Sockel herum, als wäre sie durch die Nähe zu dem Schwert lebendig geworden.

„Konzentriere dich", sagte der hagere Mann, der Daves Onkel war.

„Ich bin bereit", erwiderte Dave ohne jegliche Emotion.

Im gleichen Moment wurde der Deckel der Urne in die Luft geschleudert und fiel klirrend zu Boden. Eve zuckte zusammen und sah, wie Dave auf dem Absatz eine kunstvolle Drehung vollführte, die ihn in eine direkte Linie zu der Urne brachte. Er hielt das Schwert noch immer drohend in die Luft, doch jetzt sah es nicht mehr so aus, als würde er es auf Jamie richten. Eve verspürte ein Gefühl der Erleichterung, das jedoch nur von kurzer Dauer war, dann legte sich blankes Entsetzen über ihr Gesicht: Aus der Urne quoll eine zähe schwarze Masse hervor, die an klebrigen Teer erinnerte und sich der Schwerkraft trotzend in die Höhe schraubte. Langsam zeichneten sich Umrisse und Farben daraus ab: ein zartrosa durchscheinender Kokon wuchs empor, groß genug, um einem Menschen darin Platz zu bieten. Der Kokon war über und über von fein verästelten blutroten Adern übersät, zwischen denen man erste Anzeichen eines zierlichen Frauenkörpers erkennen konnte.

„Dies ist ein bedeutender Augenblick für dich, der deine Familie mit Stolz erfüllen wird", verkündete Daves Onkel bleiern, dem beim Sprechen dieser Worte nicht die geringste Gefühlsäußerung anzumerken war. Er hätte genauso gut eine Grabrede halten können. „Eine Erweckung ist immer ein unvorhersehbares Ereignis. Halte das Schwert bereit, um dich zu verteidigen, wenn es sein muss. Geh kein Risiko ein. Du wirst der zukünftige Herrscher unserer Dynastie sein."

Dave ging nicht näher darauf ein. „Ich wünschte, Vater wäre hier, um Mutter beizustehen", erwiderte er abwesend. Sein Gesichtsausdruck vermittelte Eve das traurige Gefühl, als würde es ihn erdrücken, dass so viel von ihm abzuhängen schien. Dass er das, was sein Onkel von ihm erwartete, vielleicht gar nicht für sich wollte.

„Amalia besaß eine starke Persönlichkeit. Doch das Schicksal ihres Sohnes war zu viel für sie. Wir wissen nichts darüber, in welchem Zustand sie sich befindet. Zwei Jahre in einer Urne können jeden Auserwählten verändern. Bedenke nur, manche erwachten rasend vor Wut und töteten alle, die sich in ihrem Umfeld befanden."

„Ich habe verstanden. Aber sie wird niemandem etwas tun, Reginald", sagte Dave mit Nachdruck. Er schien im Gegensatz zu seinem Onkel zuversichtlich, was das anbelangte. „Mutter hat sich freiwillig für das Leben im Exil entschieden. Sie achtet den Codex unserer Familie. Es ist unsere Aufgabe, stets die Schwachen zu schützen."

„Menschen kann man nicht trauen. Sieh nur, was deinem Bruder widerfahren ist."

„Das klingt, als wären sie dir gleichgültig. Aber was geschehen ist, war nicht die Schuld der Menschen. Das Mädchen wurde von einem der unsrigen betrogen."

„Ich bin überzeugt, dass Amalia das anders sehen wird. Im Namen des Friedens hoffe ich, du behältst Recht."

Die Frauengestalt war jetzt, bis auf Beine und Füße, fast komplett zu sehen. Der Kokon am oberen Ende platzte auf, schälte sich und gab ein engelsgleiches Gesicht frei. Ihren Kopf zierte eine schmale goldene Tiara, am Körper trug sie ein feines weißes Gewand, mit dem sie vor zwei Jahren in die Urne gestiegen war. Eve konnte es beinahe vor sich sehen. Sie schaffte es nicht, die Augen abzuwenden, so gebannt war sie von der Frau. Ihr Anblick schien das verabscheuungswürdige Gefühl von ihr zu nehmen, dass sie Zeuge dieser grotesken Zeremonie wurde, der sie eigentlich gar nicht beiwohnen durfte. Je weiter die Unterhaltung zwischen Dave und seinem Onkel voranschritt, desto mehr tat sich ein tiefes Loch vor ihr auf. Dave wusste es vielleicht nicht besser, aber wäre sie nicht auf den Deal mit Tod eingegangen, wäre es gar nicht erst so weit gekommen. Es beschämte sie, dass er sie trotz allem verteidigte.

Aus der der Urne entweichenden Masse war ein wunderschöner Engel mit langen weißblonden Haaren geworden. Die Frau hatte die Augen geschlossen, ihre Haut schimmerte von den gallertartigen Überresten des schützenden Kokons leicht golden wie die Flügel einer Libelle. In dem Moment, in dem ihre Füße aus der Urne hervorwuchsen, bewegte sie sich erstmals, doch ihre Beine waren zu schwach, um sie zu halten, und sie kippte zur Seite.

Dave ließ ohne Rücksicht auf seine Sicherheit das Schwert fallen und fing seine Mutter reflexartig auf. Behutsam setzte er sich mit ihr in den Armen neben den Sarg. „Es ist alles gut. Du bist in Sicherheit."

„Dave?" Ihre Stimme war wie ein sanfter Windhauch. Sie begann liebevoll, das Gesicht ihres Sohnes mit den Händen abzutasten.

„Ich bin hier, Mutter."

„Ich kann nichts sehen ..."

„Das wird vergehen. Ruh dich aus. Du hast zwei Jahre in der Urne verbracht."

Eine tiefe Unruhe überschattete plötzlich das ebenmäßige Gesicht der Frau. Sie öffnete zaghaft den Mund. „Jamie. Wo ist Jamie?"

Dave sah zu seinem Onkel und Eve konnte erkennen, dass ein gedanklicher Austausch zwischen ihnen stattfand, der Worte überflüssig machte.

„Er ist noch nicht wieder erwacht", sagte Dave distanziert, als wolle er es selbst nicht wahrhaben.

Amalia brauchte eine Weile, um die Botschaft zu verstehen. Doch dann dämmerte ihr, dass ihr Sohn nicht wieder erwacht war, und sie stieß einen klagenden Schmerzenslaut aus, der Eve an das Winseln eines verletzten Hundes erinnerte. Ihr Brustkorb hob und senkte sich rasch. „Ich habe dich gebeten, mich erst aus der Urne zu befreien, nachdem er erweckt wurde", sagte sie mit schwerer Stimme.

„Beruhige dich, Mutter. Du solltest dich nicht überanstrengen. In ein paar Tagen, wenn du dich regeneriert hast, wirst du stärker sein, als je zuvor. Dann werden wir gemeinsam überlegen, was zu tun ist."

Eve, die wie gebannt in ihrer Position ausharrte, spürte kaum, dass ihre Augen ganz feucht waren. Sie blinzelte und eine Träne rollte über ihre Wange. Dave war so sanft zu Amalia, dass sie beinahe bereute, nicht mehr Vertrauen zu ihm gehabt zu haben.

„Dein Sohn hat Recht. Wir sollten nichts überstürzen." Es war das erste Mal, dass Reginald zu seiner Schwester sprach. Das erste Mal, dass sie wieder seine Stimme hörte. Langsam ging er auf sie zu und griff nach ihrer Hand.

„Reg, du bist hier."

Der liebevoll ausgesprochene Kosename erweichte das Herz ihres Bruders. „Natürlich bin ich hier", sagte er zärtlich. „Dachtest du, ich lasse dich im Stich?" Ein Lächeln streifte sein Gesicht, doch nach einer flüchtigen Sekunde war es wieder fort.

„Mutter, hör mir zu", sagte Dave eindringlich. „Uns blieb keine andere Wahl, als dich zurückzuholen."

Wieder fand ein stummer Austausch zwischen ihm und seinem Onkel statt, der sagte: „Ich habe dir etwas mitzuteilen, Amalia."

Die friedliche Stimmung schlug um und mit ihr kam eine grauenhafte Kälte in die Höhle gekrochen. Amalia schien zu ahnen, dass etwas nicht stimmte, und bäumte sich auf. „Wo ist Constantin? Ich spüre seine Anwesenheit nicht. Was ist mit ihm?"

„Er ist schwach, liebste Schwester. Nicht ein Tag verging, an dem er dich nicht vermisste. Dich nicht bei sich zu haben, brach ihm das Herz. Ich fürchte, er wird sterben."

„Bringt mich zu ihm", dröhnte Amalia unerwartet laut. Sie mochte das vielleicht schönste Wesen sein, das Eve je erblickt hatte, doch ihre Schönheit legte einen trügerischen Schatten über ihre Entschlusskraft, mit der sie sich nun Gehör verschaffte. Reginalds warnende Worte über seine Schwester bekamen eine neue Bedeutung: ihnen zufolge hätte Eve sich nicht gewundert, wenn die Herrscherin einen giftigen Stachel ausfahren würde, um damit alle zu erstechen.

Amalia machte Anstalten, sich zu erheben, war jedoch zu schwach, so dass sie zwischen Dave und Reginald zu Boden sank. Der fließende Stoff ihres Kleides rutschte ihr Bein hinauf und enthüllte die zart goldene Haut ihrer wohlgeformten Fesseln.

Dave und Reginald sprangen auf sie zu, um sie aufzuheben, Amalia aber winkte ab. „Wo sind die fürstlichen Leibwächter? Helft mir auf!" Der Befehlston, den sie angenommen hatte, veranlasste die drei knienden Tierwandler, sich zu erheben; offenbar galt das Wort der Fürstin mehr, als das ihres Sohnes.

Dave unternahm einen weiteren Versuch, ihr aufzuhelfen. „Ich werde dich zu ihm bringen, Mutter."

„Nein. Lass mich."

Ungestüm entrissen die Männer Amalia den sorgenden Armen ihres Sohnes und hielten sie an Hüfte und Armen gestützt in die Höhe. Sie sah aus, als würde sie in der Luft schweben.

Eine Hand legte sich behutsam auf Eves Schulter. Sie keuchte und fuhr herum.

„Lass uns gehen, Eve." Nate gab das Zeichen zum Aufbruch. Es war höchste Zeit für den Rückzug. Tief in Daves familiäre Belange versunken, hatte Eve seine Anwesenheit ganz vergessen. Er reichte ihr seine Hand, die sie dankbar akzeptierte, denn ihre Beine fühlten sich an, als wären sie aus Blei. Stillschweigend traten sie den Rückweg an.

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