Tantrum Teil 8

Tantrum

8

Es war mitten in der Nacht, als Eves Handy klingelte. Sie schreckte hoch und stellte fest, dass sie zwischen dem Laptop, ein paar Büchern und etlichen verstreut herumliegenden Notizen eingeschlafen war. Ihre rechte Gesichtshälfte fühlte sich an, als wäre die untere Kante ihres Spiralblocks mit ihrem Wangenknochen verschmolzen. Immerhin hatte sie nach der ganzen Aufregung um Jamie keinen Albtraum gehabt.

Blindlings tastete sie nach dem Handy, dem Geräusch des Klingelns folgend. Das Display zeigte Nates Namen an. Eve seufzte. So langsam wurde es lästig mit ihm, aber sie kannte Nate zu gut, um zu wissen, dass er nicht grundlos um vier Uhr Morgens bei ihr anrufen würde.

„Hey", sagte er abgehackt. Seine Stimme hörte sich resigniert an und Eve wunderte sich, ob er die ganze Nacht überlegt hatte, was er tun sollte.

„Hi, Nate. Ist was passiert?" Sie konnte sich diese Frage nicht verkneifen. Nur wenn es was Dringliches war, hätte sie Gewissheit, dass er nicht doch noch Gefühle für sie hatte. Gefühle, die ihre Freundschaft zueinander in Gefahr brachten.

„Was? Nein, eher nicht."

„Falls du es nicht weißt, es ist vier Uhr Morgens", fuhr sie ihn genervt an. Sie erschrak beinahe, als ihr bewusst wurde, wie hart sie mit ihm verfuhr. Es entsprach nicht ihrer Art, das zu tun, aber es war auch nicht seine Art, sie grundlos aus dem Schlaf zu reißen.

„Klar ist es das. Ich wollte nur sehen, ob es dir gut geht."

„Gerade ging es mir noch blendend." Eve gähnte demonstrativ und streckte sich. Sie hatte wie ein Baby geschlafen.

„Es tut mir echt leid. Du verhältst dich in letzter Zeit so merkwürdig, da dachte ich, ich frag mal nach."

„Das ist nichts, was dich was angehen sollte, Nate."

„Vielleicht. Dann lass es mich anders ausdrücken ... Du wirst mir bestimmt nicht glauben, aber der Typ, mit dem du abhängst, bedeutet Ärger."

Es klang wie ein Echo aus Eves eigenem Kopf. Sie wollte schon fragen, woher er das wusste, konnte sich aber gerade noch zügeln. „Wieso willst du das wissen?"

„Ich hab's im Gefühl. Keine Ahnung, wieso das so ist. Wer ist dieser Kerl?"

Eve stutzte und dachte an Dave und seine Bemerkung über Nate. War es möglich, dass Nate sich das bloß einbildete, weil er sie zurückhaben wollte? In Anbetracht ihrer Situation war es ein bitterer Gedanke, bei dem sie nicht verweilen wollte. Wem sollte sie glauben? Bestimmt nicht dem Dämon, der sie reingelegt hatte.

„Er ist Jamies älterer Bruder. Du weißt doch, wer Jamie war, ich hab dir von ihm erzählt."

Nate atmete laut ins Telefon. „Mann – trotzdem versteh ich nicht, was er von dir will."

Wäre ihr nicht dieselbe Frage auch schon durch den Kopf gegangen, hätte sie aufgelegt. Das Gespräch lief nicht gerade gut. Aber anders als Dave, hatte Nate Eve nie einen Grund gegeben, ihm zu misstrauen. „Sonst noch was?", fragte Eve in ihre Gedanken versunken. Sie war etwas durcheinander deswegen.

Während Nate irgendetwas vom Geschichtskurs erzählte, schaltete sie auf Lautsprecher und legte das Handy auf ihren Block; er war noch ganz warm. Dann kletterte sie über ihre Arbeitsmaterialien hinweg und stieg aus dem Bett. Sie knipste das Nachttischlicht an und besah sich ihr schlaftrunkenes Gesicht in dem Spiegel über ihrer Wäschekommode. Da war tatsächlich ein riesiger Abdruck, der sich tief in ihre Wange bohrte. Sie sah näher hin und fuhr mit dem Zeigefinger die längliche Vertiefung nach. Ihre Haut war gerötet und spannte. Als sie blinzelte, blieb ihr Blick auf ihren Augen hängen. Die Pupillen, die eigentlich schwarz sein sollten, sahen aus wie zwei orangerot lodernde Flammenherde.

„Was zur -" Eve dachte instinktiv an Daves Augen und schreckte abrupt vor ihrem Spiegelbild zurück. Für jemanden, der nichts getrunken und gut geschlafen hatte, war das doch sehr ungewöhnlich. Sie konnte Nate nicht länger folgen, geschweige denn, jetzt an die Uni denken. „Ist Samantha zuhause?", unterbrach sie sein Gerede. Plötzlich war sie hellwach. Sie beugte sich mutig weit zum Spiegel vor und blinzelte nochmal. Nichts.

„Jep."

„Könntest du sie wecken und sie bitten, sich ins städtische Archiv zu hacken, um etwas über einen gewissen Dave Knisky herauszufinden? Wann er geboren wurde, ob er schon mal straffällig war ..."

„Bist du irre?", tönte es aus dem Handy, so dass Eve zusammenzuckte.

„Hör zu, Nate, ich werd es dir erklären, aber nicht am Telefon. Wir treffen uns um fünf vor dem Haus der Woolers."

„Sind das nicht deine Nachbarn mit dem Schäferhund?"

„Ja, aber die schlafen um die Zeit noch. Murna soll nicht merken, dass ich mich raus geschlichen hab. Wenn sie dein Auto hört -"

„Schon kapiert, ich werde da sein. Aber Sam hältst du da raus."

Eve suchte mit offenem Mund nach Worten, um ihn zu besänftigen. Seine Schlussworte waren eine unmissverständliche Forderung, seine Schwester nicht in Schwierigkeiten zu bringen. „Ich brauch ihre Hilfe, Nate. Du weißt so gut wie ich, dass sie schon ganz andere Sachen gemacht hat."

„Sam ist erst siebzehn", erinnerte er sie, indem er das Alter seiner Schwester deutlich hervorhob, als hätte Eve diesen Umstand einfach vergessen. „Ist es das wert?"

„Sie weiß bestimmt zu schätzen, dass du darüber nachdenkst", erwähnte Eve verunsichert. Sein Einwand machte es ihr nicht unbedingt leichter. Er hatte Recht, flüsterte eine Stimme in ihrem Hinterkopf. Andererseits kannte sie Sams Antwort schon. Wie es der Zufall so wollte, verstand Eve sich prächtig mit Sam, die mit ihrer dunklen Haut und den stechend schwarzen Augen nicht nur beneidenswert schön war, sondern im Gegensatz zu Eve auch eine herausragende Gabe im Umgang mit Computern besaß. Eve hörte unterschwellig die knisternde Stille zwischen sich und Nate, beachtete sie jedoch nicht weiter. In ihrem Tatendrang war sie nur schwer zu bremsen. Die Dämonen spielten ein unfaires Spiel mit ihr, da gab es keinen Grund, nicht dasselbe zu tun.

„Das tue ich. Aber wir wissen beide, dass sie dir nie einen Gefallen ausschlagen würde", sagte Nate schwer.

„Bitte drück sie von mir", bat Eve. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Nate ungeduldig darauf wartete, sie zu sehen. Bevor er sich verabschieden konnte, rief sie noch einmal seinen Namen ins Mikrofon des Handys. „Nate?"

„Ja?"

„Es wäre von Vorteil, wenn du das Werkzeug deines Vaters mitbringen könntest. Ich muss ein paar Schlösser knacken."

„Du willst wo einbrechen?" Seine Stimme war erneut lauter geworden. Er hatte eindeutig etwas anderes erwartet, doch Eves Hirn überschlug sich förmlich vor Emsigkeit, so dass sie sämtliche Bedenken fast vollständig ausblendete.

„Wenn ich dir beweisen will, dass ich nicht verrückt bin, habe ich keine andere Wahl", erklärte sie entschieden. Ob das für ihn einen Sinn ergab, wagte sie zu bezweifeln. Sie hoffte einfach, dass Nate keinen Rückzieher machte, damit sich der ganze Ärger, den sie mit Murna erwartete, wenigstens lohnte.

„Pünktlich auf die Minute. Seit wann bist du Frühaufsteher? Und was ist so wichtig, dass du es mir nicht am Telefon sagen kannst?", fragte Nate besorgt, als Eve mit einem Rucksack im Schlepptau, den sie mit brauchbaren Utensilien bepackt hatte, zu ihm ins Auto stieg. Bei dem Wagen handelte es sich um den dunkelblauen Kombi, der seinem Vater gehörte; in ihm hatten sie viele schöne Stunden verbracht.

„Du hast mich angerufen, schon vergessen?" Sie wies ihn mit ein paar Gesten an, den Wagen zurückzusetzen und umzudrehen.

„Wofür ist der Rucksack?"

„Taschenlampen und so ein Kram. Hast du Hunger? Ich hab dir ein Sandwich mitgebracht."

Er schüttelte den Kopf. „Hab mir eine Schale Müsli genehmigt."

Eve nahm ein Sandwich aus dem Rucksack und wickelte es aus dem Papier. „Also, was hat Sam über Dave rausgefunden?"

„Sie hat gar nichts rausgefunden", sagte Nate verächtlich, während sich seine Hände fest um das Lenkrad zusammenzogen, als würde er es erwürgen wollen. „In Whitehurst Bay wurde kein Dave Kinsky geboren. Nicht mal ein David Kinsky."

„Nein, das kann nicht sein", nuschelte Eve mit vollem Mund. „Jamies Nachname war Kinsky, Jamie Preston Kinsky."

„Dann haben seine Eltern früher eben an einem anderen Ort gelebt und Jamie erst hier bekommen. Oder dieser Dave hat gelogen und heißt anders."

Eve genehmigte sich einen weiteren Happen von ihrem Sandwich. Sie hatte keine Antwort darauf, schließlich waren sie und Jamie zu sehr mit Knutschen beschäftigt gewesen, als dass sie über ihre Familien geplaudert hätten. Angespannt erklärte sie Dave, wo sie hinwollte.

„Wir fahren zum Friedhof? Wieso fahren wir zum Friedhof?"

„Weil ich will, dass du mir glaubst. Du sollst Jamie kennenlernen."

Nate schluckte. Seinem Seitenprofil mit den schlitzförmig zusammengekniffenen Augen war anzusehen, dass er überhaupt nicht die geringste Lust verspürte, ihren verstorbenen Exfreund kennenzulernen. Eve wünschte wirklich, sie hätte es mit etwas mehr Feingefühl gesagt, doch es war zu spät: manchmal blieb nur der Schubs ins kalte Wasser. Doch wenn er erst alles gesehen hatte, würde er es verstehen. Wie sie ihm allerdings beibringen sollte, was ihn erwartete, wusste sie noch nicht.

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