Tantrum Teil 11
Tantrum
11
Schemenhaft zeichneten sich die Schatten der Gebäude, Laternen und Fahrzeuge auf den Straßen ab. Achtlos in Eile vorbeiziehende Menschen, zum Stillstand verdammte Bäume in saftigem Grün – sie erinnerten an Vergänglichkeit, an das Wunder des Lebens, wozu im Gegensatz unweigerlich irgendwann am Ende des Weges der Tod stand. Es sei denn, man war mit Unsterblichkeit verflucht, denn diese war gleichbedeutend mit Einsamkeit. Und Einsamkeit wiederum verhieß nichts anderes als Dunkelheit.
Das Auto war wieder in Bewegung, diesmal jedoch langsamer und deutlich weniger hektisch. Während Nate sich durch den mehr und mehr zunehmenden morgendlichen Verkehr schlängelte, spielte Eve am Suchlauf des Radios herum. Sie brauchte eine Aufgabe, musste irgendetwas tun, das sie davon abhielt, verrückt zu werden. Aber das Wort Unsterblichkeit hatte etwas von einer Endgültigkeit, dem sie nichts entgegensetzen konnte. Schon alleine beim Gedanken daran krampfte sich ihr Magen vor Angst zusammen. Wie unerträglich würde es werden, noch mehr Menschen zu verlieren? Nach und nach alle, die ihr etwas bedeuteten.
„Okay, du hast gewonnen. Du kannst mein Leben haben. Ich will es nicht mehr."
„So läuft der Deal nicht. Das weißt du."
„Wie läuft es dann?"
„Du findest es heraus. Ich habe Zeit."
Das Flüstern war wieder da. Pochend, unheimlich, wie ein Echo im Rhythmus ihres schlagenden Herzens. Stimmen, die wie qualvolle Schreie des Nachts in der Dunkelheit verhallten. Bilder, immer dieselben, die sich ihrem Bewusstsein erdrückend aufdrängten.
Eve hatte Tränen in den Augen. Es tat weh, von Nate getrennt zu sein. Obwohl er so nah war, dass sie nur die Hand hätte auszustrecken brauchen, um von ihm in den Arm genommen zu werden, wagte sie nicht, sich zu rühren. Sie hatte diese Grenze, die sich am Rande zwischen Freundschaft und Liebe befand, schon viel zu oft überschritten. Was sie tat, war unfair ihm gegenüber, das wusste sie. Aber so war es mit Nate nun mal. Er war einfach da, wie der sprichwörtliche Fels in der Brandung. Deshalb konnte sie auch nicht richtig auf Abstand zu ihm gehen. Nicht so, wie sie es gewollt hätte, um ihn nicht zu verletzen.
Frustriert blieb sie bei einem Song aus den Neunzigern hängen, kurbelte das Seitenfenster runter, lehnte sich zurück und schloss die brennenden Augen. Eine warme Brise wehte ihr ins Gesicht, erfasste spielerisch ihr Haar und wirbelte im selben Atemzug ihre Gedanken wie im Sturmwind umher. Haltlos, zu verworren, um ihnen nachjagen zu können. Wenn es sich doch nur nicht so anfühlen würde wie damals! Etwas war da. Es rüttelte an dem Wall, den sie nach Jamies Tod aufgefahren hatte, um nie mehr diesen Schmerz zu spüren. Um nie mehr verletzt zu werden. Wie hatte sie geweint in diesen Stunden, die endlos lang gewesen waren. Sich zurückgezogen in die Isolation dieser unmenschlichen Grausamkeit. Allein mit dem Schmerz und dem Kummer sich vor dem Leben verschlossen – vielleicht ahnte Murna ja wirklich etwas. Das Band zwischen ihnen war in dieser Zeit noch stärker geworden, auch wenn es in den letzten Tagen mitunter ziemlich überdehnt wurde. Die gute, weise Frau, zu der man nichts anderes als aufblicken konnte, für die Eve immer wie ein eigenes Kind gewesen war. Sie hatte sich gezwungen, die Beherrschung nicht zu verlieren, während ihre Eltern zu sehr unter Schock gestanden hatten, um den Ernst der Situation wahrhaben zu wollen.
„Du hast genug getrauert. Es wird Zeit, dass du wieder unter Leute kommst."
Murna wusste, was sie zu tun hatte. Sie besaß Kräfte, die stärker waren als die Dunkelheit. Ihre Liebe zum Leben, ihrer bizarren Unnachgiebigkeit verdankte Eve das Flackern des Lichts am endlos weiten, wolkenverhangenen Horizont.
„Ich könnte mit reinkommen, wenn du willst."
Eve schlug die Augen auf und blinzelte ins Sonnenlicht. Nates Stimme schien von ganz weit herzukommen. „Das wird nicht nötig sein", sagte sie schnell. Er konnte ja doch nichts tun.
Wie um diese gedankliche Aussage zu untermauern, kamen Daves Worte hoch: Es war nicht ihre Schuld gewesen. Dennoch, der Sturm, der in ihr aufzog, drohte zu einem Zweikampf über ihr Zwiegespräch mit Tod zu werden. Es machte die ständige innerliche Zerrissenheit, die jedes Mal neu aufkeimenden Schuldgefühle nicht besser. Hin und wieder kamen auch neue hinzu, seit sie Dave über den Weg gelaufen war. Sie hatte nicht gewollt, dass all das passierte. Keiner der Jungs hätte sterben müssen, wenn sie nicht mit Tod um ihr Leben gefeilscht hätte. Doch nun war es zu spät, noch etwas daran zu ändern. Dave hatte selbst gesagt, dass Jamie nicht zu helfen war.
Sie beugte sich vor und schaltete das Radio ab. Die viel zu basslastige Musik war im Moment eindeutig nicht das Richtige, um sich abzulenken. Der Wagen wurde langsamer, Hundegebell ertönte. Sie waren kurz vor ihrem Ziel in der Pinewood Road angelangt. Eve sah im Seitenspiegel den Schäferhund der Woolers mit gesträubtem Rückenfell. Sie schüttelte sich. Am Morgen beim Aufwachen waren es die Augen eines Dämons gewesen, die, beim Betrachten ihres Spiegelbilds, eine ähnlich unangenehme Reaktion in ihr hervorgerufen hatten. Es kam ihr unwirklich vor, dass es sich um Daves Augen gehandelt haben sollte ...
Dave. Erneut kreisten ihre Gedanken um den hinterlistigen Dämon. Er war wie ein unliebsamer Geist aus ihrer Vergangenheit. Verantwortlich für das Tosen und Brausen des Windes, für das Flüstern der Stimmen in ihrem Kopf. Ihre Faszination für ihn bezog sich lediglich darauf, dass er der Einzige war, der ihre Fragen beantworten konnte, sagte sie sich. Nicht mehr, nicht weniger. Die Vorstellung von einer Wahrnehmungstäuschung, einer Täuschung ihrer Sinne weckte den Wunsch in ihr, ihm glauben zu wollen. Aber wie konnte sie das? Vielleicht war es ja doch nur ein komischer Zufall gewesen, dass sie den Sturz von dem Haus unbeschadet überstanden hatte. Und wenn nicht, bestand ja immer noch die Möglichkeit, eines Tages wieder ein ganz normaler Mensch zu sein, sobald die übernatürlichen Gegebenheiten aufgeklärt waren.
„Soll ich nicht doch mitkommen?"
„Was?"
Nate hatte den Wagen angehalten. Er wiederholte seine Frage und Eve schüttelte abwehrend den Kopf. Das mit Murna musste sie ohne seine Hilfe erledigen. „Willst du immer noch nicht, dass ich dich in Ruhe lasse?", fragte sie im Gegenzug.
„Vergiss es. Nichts kann mich davon abhalten, mein Leben zu leben, wie ich es für richtig halte."
Seine Worte schnürten ihr die Kehle zu. Soviel zu ihrer Freundschaft. Irgendwo in ihm steckte ein hoffnungsloser Romantiker.
Anstatt zu antworten krabbelte sie zwischen den Sitzen durch und fischte nach dem Rucksack, der von der Bank gerutscht war. Als sie aus dem Auto stieg, drehte sie sich noch einmal zu ihm um. „Danke, dass du mich heute begleitet hast. Es hat mir viel bedeutet." Sie würde es in Ordnung bringen. Ganz sicher.
Seine Mundwinkel verformten sich zu einem koketten Lächeln. „Mir auch. Wenn du wieder so eine Dummheit vorhast, bin ich natürlich vollauf dabei."
„Lieber nicht. Ich hab erst mal genug von Abenteuern." Sie glaubte ihm ohnehin kein Wort. Er wollte nur nicht zugeben, wie froh er war, dass ihr nichts zugestoßen war.
„Schade", sagte Nate achselzuckend. Sein Adamsapfel vibrierte, als wolle er noch etwas anderes sagen.
Eve war die Erste, die die Stille durchbrach. „Sehe ich dich später bei der Uni?"
„Klar, bis dann."
Er ließ den Motor an und Eve schlug die Tür zu. Sie hätte nur zu gern gewusst, was ihm auf der Zunge gelegen hatte. Ob er ihre Ängste verstand und deshalb nichts gesagt hatte? Es mutete beinahe poetisch an, ihn an ihrer Seite zu wissen. Der strahlende Retter in blitzender Rüstung, der sie nach Jamies Tod wieder zum Lachen gebracht hatte, war bereit, ihr alles zu verzeihen.
Nate setzte den Wagen zurück. Noch bevor er das Grundstück der Woolers erreicht hatte, sprang der Schäferhund von der weiß getünchten Veranda und fing zu Kläffen an; er hatte eben erst damit aufgehört.
Eve verbannte den bellenden Plagegeist mit eiserner Willenskraft aus ihren Gedanken und bereitete sich mental auf Murna vor. Behände schlüpfte sie durch das halb geöffnete Gartentor. Der Rasen links und rechts des gewundenen Weges musste gekürzt werden. Ihre Eltern sahen nicht gern, wenn der Garten, sich selbst überlassen, das tat, was er wollte. Eve mochte es so viel lieber. Und da Mr und Mrs Roberts ohnehin nicht in den Staaten waren, gab es keinen Grund, etwas daran zu ändern.
Auf halbem Weg zum Haus lief ihr Cassio vor die Füße, ihr fünfjähriger Kater, den sie seit Tagen nicht gesehen hatte. „He du Streuner, wo kommst du denn her?" fragte Eve liebevoll. „Geh mal besser nicht zu den Woolers rüber, hörst du? Nimm dich in Acht vor Otis, der ist heute ganz besonders fies ... so ein böser, böser Hund." Sie bückte sich und kraulte Cassio hinter den Ohren. Nicht lange darauf begann er aus vollstem Hals zu Schnurren. Plötzlich machte er einen Buckel, streckte sich hoch in die Luft und stolzierte erhobenen Schwanzes in Richtung Gehsteig davon. Er marschierte genau da entlang, wo Otis ihn nicht erreichen konnte.
Die Haustür war nicht abgeschlossen. Eve trat ein und streifte sich die Schuhe ab. Im Flur roch es verdächtig nach Kuchen. Mist. Das war sicher ihre Schuld. Immer, wenn Murna am Verzweifeln war, holte sie die kuriosesten Rezepte aus irgendwelchen Büchern hervor und versuchte sich an neuen Variationen der Gerichte. Obwohl sie fast nie davon probierte, war sie die großartigste Köchin, die man sich vorstellen konnte.
Murnas Augen blitzten auf, als Eve die Küche betrat, über die sich eine merkwürdige Aura gebreitet hatte. Im Backofen stand ein herrlich duftendes Stück Backkunst, während Murna (in geblümter Bluse und dunkelblauer Caprihose) mit kraftvollen Bewegungen einen weiteren Klumpen Teig bearbeitete. Sie war wie immer beeindruckend anzusehen, wenn sie schlechter Laune war.
Ein Knoten formte sich in Eves Hals und der Rucksack rutschte wie von allein von ihren Schultern zu Boden. „Hast du meine Nachricht gesehen?" Sie schielte zum Küchentisch, auf dem es aussah wie nach einem Kampf in einer Backstube. Der Zettel, den sie hinterlassen hatte, war wahrscheinlich nach dem ersten Blick darauf dem Müllzerkleinerer zum Opfer gefallen. Oder mit Mehl bestäubt im Teig gelandet.
„War das Nates Wagen, mit dem du gekommen bist?"
Es lag nichts von der Liebenswürdigkeit in der Stimme der älteren Frau, die Eve so sehr an ihr schätzte. Das hatte sie sich selbst zuzuschreiben. „Ja", seufzte sie schweren Herzens. „Hast du was dagegen? Ich dachte immer, du magst ihn."
Der Versuch, Murna ein Lächeln zu entlocken, blieb erfolglos. „Das war, bevor er dich mitten in der Nacht entführt hat."
Eve unterdrückte ein Augenrollen. „Nate hat mich nicht entführt."
„Tatsächlich? Was wollte er dann? Mir war fast, als wärt ihr nicht länger zusammen."
Eve runzelte ob des fliegenden Themenwechsels die Stirn. „Sind wir auch nicht mehr. Ich kann es mir nicht leisten, den nächsten Freund unter die Erde zu bringen."
„Sei still, Kind", knurrte Murna. „Du weißt nicht, das du da sagst." Vom einen Moment zum anderen sah sie traurig aus. Seufzend streute sie ein Häufchen Mehl auf die Arbeitsfläche und klatschte den Teig darauf. Dann wischte sie mit dem Handrücken über ihre Stirn, so dass feiner Staub von ihren Fingerspitzen rieselte.
Eve spürte, wie eine Welle der Schuld sie erfasste. Als hätte die Ärmste ihretwegen nicht schon genug durchgemacht.
Um Wiedergutmachung bemüht legte sie ihren Arm um Murna, machte ein Kompliment zu dem hervorragend duftenden Kuchen im Backofen und versuchte sie aufzuheitern, indem sie ihr versicherte, dass alles in Ordnung war. „Mir geht es gut. Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen", schloss sie. Dann wandte sie sich dem Rucksack zu und nahm die Überreste ihrer Verpflegung und die Thermoskanne heraus, um sie sauberzumachen.
„Das könnte dir so passen! Stell die Sachen neben's Spülbecken. Besser, du schnappst dir gleich deine Tasche und rennst zur Straßenbahn. Ich werde Unpünktlichkeit nicht dulden, junges Fräulein." Wie um die Bedeutung des Studiums hervorzuheben, verwies Murnas strenger Blick auf die geöffneten Backbücher, die einen Großteil des Küchentischs für sich beanspruchten. Eve tat, was sie verlangte, und sauste auf ihr Zimmer. Streng genommen hatte sie gar nicht vorgehabt, zu schwänzen. Es wäre nicht weiter aufgefallen, wenn sie etwas später gekommen wäre, aber Murna sah das anders. Außerdem wollte sie Nate nicht unnötig warten lassen. Nur für den Fall, dass er sich Sorgen machte.
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