Kapitel 6

Am nächsten Morgen, der nicht weniger heiß war, als der Letzte, brachte mich Heidi über Trampelpfade und Schotterwege zu einem Wasserfall. Es war nicht der Gleiche, wie der unter der Brücke. Dieser war kleiner. Den Vormittag über saß ich alleine hinter dem Wasser fall, während Heidi schon wieder auf dem Hof war und Krankengymnastik mit Isabelle machte.

Stumm saß ich hinter dem Wasserfall, den Rücken am kalten Stein, auf einem regenbogenfarbenen Schaumstoffkissen sitzend. Vor mir stürzte das Wasser in die Tiefe und traf den Fluss mit lautem Donnern. Der feine Nebel machte das Atmen leichter. Ich schloss die Augen und genoss es einen Moment, endlich richtige, tiefe Atemzüge nehmen zu können. Spürte, wie sich die kleinen Wassertropfen auf meinem Gesicht sammelten und mit leisen Klopfgeräuschen auf meinen Beinen landeten.

Es kam mir vor wie früher, wenn ich Anfälle gehabt hatte. Wenn ich meine Mutter nachts panisch aufgeweckt hatte, weil ich keine Luft mehr bekam und sie im Bad alle Wasserhähne und die Dusche auf heißes Wasser gestellt hatte, damit der Wasserdampf meine Lunge wieder öffnete. Damals hatte sie sich noch für mich interessiert. Aber sobald meine Anfälle häufiger geworden waren und ich immer wieder ins Krankenhaus gefahren werden musste, war ich zur Last geworden. Mit jedem Blick hatte sie mir zu verstehen gegeben, dass ich mich doch nicht so anstellen sollte. Dass eine Krankheit doch nicht so sehr auf die Psyche schlagen konnte.

Mit einem bitteren Seufzen schlug ich die Augen auf. Ich sollte aufhören, darüber nachzudenken. Schnell zog ich mein Handy aus der Tasche. Kein Netz. Das war ja nichts Neues. 12:17 Uhr. Schon vier Stunden saß ich hier. Das musste wohl reichen. Meine Haare und mein T-Shirt waren klatschnass.

Die Sonne blendete mich, als ich wieder unter dem Wasserfall heraustrat. Vor dem Wasserfall war der Fluss erstaunlich ruhig. Das Wasser floss nur gemächlich weiter. Das Ufer war ausgetreten und ich entdeckte einige Hufspuren in der Erde des Weges.

Anscheinend war das hier auch ein Reitweg.

Ich bog auf den Weg, bei dem ich annahm, dass es der Richtige war. Aber schon nach ein paar dutzend Metern blieb ich verwirrt stehen. Das hier war nicht der Richtige. Zumindest hatte ich die umgestürzte Tanne, die mit kahlem Stamm über dem Weg lag, noch nie gesehen. Mir entfuhr ein Stöhnen. Na super. Dann würde ich eben zurück zum Wasserfall gehen und hoffen, dass Heidi mich dort irgendwann abholen würde.

Doch auch das stellte sich als nicht gerade einfach heraus. Ich hätte meinen Kopf am liebsten gegen einen der Bäume geschlagen. Genug Auswahl hätte ich gehabt. Ich war gerade ein mal zwei Tage hier und schon schaffte ich es, mich in diesem bekloppten Wald zu verlaufen. Meine Haare trockneten langsam wieder, während mein Orientierungssinn einer erdrosselten Brieftaube versuchte, mich wieder zum Hof zu lotsen.

Über Erdwege, Schotterwege und gar keine Wege kämpfte ich mich in die Richtung, in der ich den Hof vermutete. Ich schwitzte. Immerhin sah jetzt keiner, wie oft ich das Spray benutzen musste.

Eine geschlagene halbe Stunde später sah ich etwas zwischen den Bäumen, was fehl am Platz wirkte. Etwa brusthohe Querlatten, die parallel zum Trampelpfad lagen. Ganze zehn Sekunden starrte ich das dunkle Holzgebilde an, bis ich mir so heftig mit der Hand gegen die Stirn schlug, dass dabei sicher ein paar Gehirnzellen, die ich eigentlich für Mathe gebraucht hätte, draufgingen. Das war der Weidezaun!

Selten in meinem Leben hatte ich mich über etwas so sehr gefreut, wie über diesen verdammten Zaun. Schnell kletterte ich über die Latten und lief an der gespannten Litze entlang. Hier hinten standen die Bäume wirklich recht dicht und ich musste feststellen, dass die Weide deutlich größer war, als ich erwartet hatte. Von den Ponys traf ich nur Zwei. Den Tinker, ldefix, und einen der Haflinger. Den mit der Stehmähne, aber seinen Namen wusste ich auch nicht.

Als ich nach über fünf Minuten immer noch der gespannten, blauen Litze folgte, merkte ich plötzlich, dass ich nicht mehr alleine war. Das dumpfe Geräusch von Hufen auf Waldboden folgte mir. Irritiert wandte ich mich um. Hinter mir, auf der anderen Seite der Litze, stand ein Pferd. Kein Pony. Ein Pferd. Sein Fell war pechschwarz und ohne ein einziges Abzeichen. Die Ohren hatte er leicht nach hinten gedreht, als würde er sein Revier verteidigen. Er war ohne Zweifel ein wunderschönes Pferd und selbst auf die Entfernung konnte ich seine Kraft spüren. Aber seine Augen betrachteten mich mit Abneigung.

„Du bist also Tamaluk?", fragte ich leise und hob die Hand in seine Richtung, damit er zu mir kam.

Natürlich antwortete er nicht. Aber meine Hand schien etwas in ihm auszulösen. Sobald ich sie bewegte, weiteten sich seine Augen vor Schreck. Er legte die Ohren ganz zurück und machte auf der Stelle kehrt. Nicht einmal zwei Sekunden später war er zwischen den Bäumen verschwunden. Seltsam.

Endlich erreichte ich den Hof. Zum Glück nicht unfassbar durchgeschwitzt, aber genervt. Leider nur von mir selber. Die Mittagssonne brannte heiß auf den hellen Kies des Hofes, zwischen dem Löwenzahn herauswucherte. Mit lahmer Hand schob ich die Tür auf.

Mir bot sich ein höchst seltsamer Anblick. Ein Glas halbvoll mit Wasser auf ihrem Hinterkopf balancierend und mit dem Bauch auf einem Rollbrett, rollte Isabelle durch die Küche-Esszimmer-Wohnzimmer-Kombi, wie eine Schildkröte, die jemand auf ein Skateboard gesetzt hatte. Heidi beobachtete sie, bis ihr Blick zu mir wanderte.

„Ah, Jana. Ich wollt' dich grad hohl'n. Mittagess'n ist fertig, wir wart'n nur noch auf die ander'n. Hast du allein' z'rück g'fund'n?"

„Offensichtlicherweise.", knurrte ich nur, obwohl ich sie gerne mit irgendeiner Form von Straßenkarte geschlagen hätte.

Isabelle hob vorsichtig das Glas von ihrem Kopf und stand vom Rollbrett auf. Was auch immer das für eine Krankengymnastik war, sie sah verdammt bescheuert aus.

Wenig später polterte der Rest der Familie durch die Tür. Immerhin schien llona ihre Freundinnen heute in der Schule gelassen zu haben.

„Draußen sieht's recht dunkel aus. Das gibt sicher ein heftig's G'witter heut Abend.", bemerkte Tobias trocken, während er die Teller in die Spülmaschine räumte.

Irritiert zog ich mein Handy aus der Tasche. Die Wetterapp verkündete strahlenden Sonnenschein. Fast schon triumphierend hielt ich ihm mein Handy unter die Nase. „Nicht wirklich, oder?"

Er schnaubte. „Pack das Handy weg und richt' deine Glotzkeg'I aus'm Fenster. In zwei Stunden ist da nix mehr mit Sonnenschein."

Ich ließ das Handy langsam sinken und wandte mich wieder zu den anderen. llona seufzte.

„Dann gehen wir mal besser die Ponys reinhol'n. Kommst du mit?"

Hoffentlich genervt wirkend zuckte ich die Schultern und folgte ihr nach draußen. Es war so warm wie eh und je. Die Sonne war zwar ein Stück weitergewandert, knallte aber trotzdem brühend heiß auf die Dächer. Trotzdem war der Wolkenturm, der sich über die Berggipfel schob, unübersehbar. Eine große, dunkelgraue Masse, die langsam über den Berg walzte. Bekloppte Wetterapp.

Doch schnell stellte sich heraus, dass das Gewitter noch eine ganze Weile entfernt war. Über den Rand meines Handys und auf dem Weidezaun sitzend beobachtete ich llona und Isabelle dabei, wie sie auf der Ponyweide Räder schlugen. Man könnte meinen, sie wären Grundschüler. Nicht nur knapp ein Jahr jünger als ich. Ich unterdrückte ein bitteres Seufzen. Zu allem Überfluss musste ich dieses Jahr auch noch meinen 16. Geburtstag hier feiern.

Mitten in der Pampa. Nicht, dass ich in Köln gefeiert hätte, aber immerhin wäre ich zuhause gewesen...

Der Kies knirschte, als ein Fahrrad über den Hof rollte. Ich sah auf. Auf dem Fahrrad saß Oskar, der sich jetzt in unsere Richtung lässig über den Lenker lehnte. Unterbewusst richtete ich mich auf, sodass ich gerade auf dem Zaun saß.

„Gfrast! Wo steckt 'n dein Bruder?!", rief er.

Merkwürdigerweise schien sich llona von dieser anscheinenden Beleidigung sofort angesprochen zu fühlen. Sie wies auf die Haustür. „Hockt oben in sei'm Zimm'r. Brauchst Hilfe weg's dem Heu?"

„Nah. Das ist schon lang' drin. Wir woll'n ins Dorf." Während er sprach stieg er vom Rad und ließ es in den Kies sinken. Er nickte mir kurz zu, bevor er sich durch die Tür ins Haus schob. Er sah weder abgeneigt noch freundlich aus. Eher wie dieser neutrale Emoji, den höchstens mal meine Oma benutzte.

Warum waren eigentlich ausgerechnet die Leute, von denen ich es mir gewünscht hätte nett behandelt zu werden, absolut nicht an mir interessiert?

Keine zwei Minuten später kam Osakar wieder mit Tobias aus dem Haus. Wenig später rollten sie mit den Rädern vom Hof.

„Beschwert's euch nicht, wenn's ihr nass werdet's!", rief llona ihnen noch nach. Ich verdrehte die Augen. Wie im Kindergarten. Wie viel lieber wäre ich jetzt mit den beiden Jungs nach unten ins Tal gefahren, anstatt hier oben herumzugammeln?

„Jetzt können wir sie aber langsam holen, oder?", fragte Isabelle. Der Wind hatte aufgefrischt. Die dunklen Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben und der erste Donner grollte. Es roch nach Regen.

llona nickte und sprang vom Zaun. Sie pfiff wieder auf zwei Fingern. Wieder passierte nichts, bis aus den Bäumen zwei Haflinger und ein Muli hervortrabten.

„Warum hab ich nichts ander's erwartet...", murmelte llona und sprang vom Zaun. Sie öffnete das Gatter, um die drei nach draußen zu lassen. Einer der Haflinger war ihre Stute, der andere war der mit der Stehmähne. Von alleine liefen sie über den Hof und durch das offene Tor der Scheune ins Innere.

„Was ist mit dem Rest?", fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Die gehen wir jetzt holen.", antwortete Isabelle an ihrer Stelle, als wäre ihr dieses Prozedere allzu bekannt.

Der erste Blitz zuckte über den dunkelgrauen Himmel. Es regnete noch nicht, aber der Wind wurde kälter.

„Eigentlich komm'n sie allein nach vorne, aber d' Ramira ist hinten geblieb'n. Ohne die Leitstute geht ldefix ned nach vorn', ohne ldefix geht der Gouda nicht und Eda geht ohne ihr'n Bruder nicht.", erklärte llona, während wir zwischen den Bäumen hindurch nach hinten zum Ende der Weide liefen.

„Und was ist mit ihm?", fragte ich und wies in Richtung der Litze, auf dessen anderer Seite der Rappe stand. Nur war er jetzt gerade nirgendwo zu sehen.

Isabelle ließ ein Schnauben hören, was ich nicht recht einordnen konnte. Vorsorglich verdrehte ich trotzdem meine Augen in ihre Richtung.

Wir erreichten die Ponys. llona hakte ihren Strick in das Halfter des kleinen Wallachs und des Tinkers. Ich übernahm die mir zugewiesene Käsestute und Isabelle die Leitstute.

llona begann erst wieder zu reden, als wir auf dem Rückweg waren. Ihr übliches Lächeln war verschwunden, während sie einen sorgenvollen Blick in Richtung des abgetrennten Teils warf. „Tamaluk lässt sich nicht führ'n. Schon gar nicht in 'ne Box. Wenn ihn der Blitz derschlägt können wir auch nichts machen."

Ich schwieg. Feiner Nieselregen prasselte auf das Laub der Bäume. Dieser Tamaluk klang nach einer Wish-Version von Ostwind. Kurz huschten Bilder vor meinem inneren Auge vorbei, von mir wie ich auf einem Rappen über einen Waldweg galoppierte. Schnell versuchte ich den Gedanken zu verdrängen.

„Ich weiß, was du denkst." llona sah mich nicht an, während sie sprach. „Mach dir keine Hoffnungen. Der lässt niemand'n an sich ran."

Damit schien das Thema für sie beendet. Ich kraulte Eda über den Widerrist. Sie schubste mich mit der Schnauze an, als würde sie mir zu verstehen geben wollen, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt zum Kuscheln wäre. Ich stoppte mich. Eigentlich wollte ich auch gar nicht mit ihr kuscheln. Ich wollte mit niemandem kuscheln, schon gar nicht mit einem Pony!

Die Ponys mampften glücklich ihr Heu, während wir zusahen, wie der Regen in dicken Tropfen an die Fenster prasselten. Auch die Hühner und Ziegen waren sicher in ihrem Stall eingesperrt. Leider hatte ich es nicht geschafft, mich gegen Heidi zu wehren, die uns etwas Warmes zu trinken gemacht hatte. Jetzt saß ich also neben llona und Isabelle vor dem großen Fenster, das in Richtung des Tals zeigte und beobachtete die Blitze dabei, wie sie über den dunklen Himmel zuckten, eine Tasse heißen Kakao in der Hand. Immer wieder grollte Donner durch den Abendhimmel, der die große Fensterscheibe erzittern ließ.

Wenn ich recht darüber nachdenke, hatte ich mir vor diesem Tag nie wirklich Blitze angeschaut. Es war das erste Mal, dass ich wirklich sah, wie viel Gewalt in so einem Blitz steckte, wenn er aus den Wolken ins Tal fuhr. Wie hellweiße Risse, die sich durch den wolkenverhangenen Himmel zogen und die Luft spalteten. Die Gewitterwolken rollten über das Tal, wie eine Welle über eine Sandburg.

Stumm starrten wir nach draußen. Zumindest so lange, bis Tobias und Oskar, natürlich absolut durchnässt, wieder zurückkamen. Wir mussten ordentlich zusammenrutschen, damit alle auf dem Boden Platz fanden. Eigentlich wäre ich am liebsten aufgestanden und wäre gegangen, aber die Anwesenheit der beiden Jungs bewegte mich zu bleiben.

Während der nächste Donner die Scheibe zum Zittern brachte, schlich sich das erste Mal der Gedanke in meinen Kopf, dass diese zwölf Wochen vielleicht gar nicht so schlimm werden würden, obwohl ich krampfhaft versuchte, ihn zu verdrängen.

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