Kapitel 1

Das zurückhaltende Klopfen ordnete Noah sofort einer bestimmten
Person zu. Er hob den Blick von dem Schriftstück,
das vor ihm lag, und rief:
,,Herein!" Und tatsächlich betrat Emily das Arbeitszimmer und schloss
die Tür mit der ihr eigenen Vorsicht. Emily war keine Schattenleserin, aber sie gehörte zum inneren Kreis, und durch die gemeinsamen Ermittlungen der letzten Wochen war sie zu einer
Art Vertrauten für Noah geworden.
Ihre roten Haare glänzten im warmen Licht, das durch das einzige Fenster in Noahs Büro fiel. In dem mit wuchtigen Möbeln eingerichteten Raum wirkte die zarte Gestalt in dem knielangen
dunklen Kleid und der durchscheinenden Kimonojacke
mit floralen Mustern seltsam fehl am Platz. Um ihren Hals trug sie einen dünnen weißen Schal, der sie als Kräuterhexe auswies.
Mit einer Handbewegung, die jeder Meister als schlampig bezeichnet
hätte, entzog Noah der Tinte die Restflüssigkeit und legte das so getrocknete Pergament zur Seite, ehe er Emily begrüßte, die fragend die Augenbrauen hob.
,,Bereit für den täglichen Bericht?" Selbst ihre Stimme war weich.
Noah nickte und runzelte die Stirn.
,,Du siehst blass aus." Ihre weiße Haut wirkte noch heller als sonst, die Sommersprossen traten so dunkel hervor wie Ascheflocken auf Schnee.
,,Ich habe schlecht geschlafen."
Sie ließ sich auf dem Stuhl nieder, der vor seinem Schreibtisch stand, bevor Noah sie dazu aufforderte. Und das, obwohl er ihr Vorgesetzter war. Bei jedem anderen hätte er entsprechend laut reagiert, aber bei Emily quittierte er diese Unhöflichkeit lediglich
mit einem Seufzen und griff dann nach den Drachenhandschuhen, die er zum Schreiben ausgezogen hatte. Das warme Leder schmiegte sich angenehm an seine Finger.
,,Wieso eigentlich Drachenleder?" fragte Emily und legte den Kopf leicht schief.
,,Es ist ein Andenken" sagte er.
,,An meine erste erfolgreiche
Jagd. Mein Glücksbringer."
Noah verschwieg, dass er die Handschuhe aus Angst vor der dunklen Seuche trug. Die dunkle Seuche befiel und tötete all jene Hexen, die mit ihrer Macht andere verletzten. Zumindest
war das die offizielle Version der Geschichte, die der Rat seit
Jahrhunderten verbreitete. Aber Sir Craig, das ehemalige Ratsoberhaupt,
das sich als größenwahnsinnig und abtrünnig entpuppt hatte, hatte Noah die Wahrheit enthüllt: Es reichte ein
schlechtes Gewissen, um die dunkle Seuche in sein Herz zu lassen. Seit Noah das wusste, war er noch paranoider. Es gab viele Hexen, die dieses Schlupfloch ausnutzten. So hatte Sir Craig einst Feuerhexer ein Haus anzünden lassen und ihnen erzählt, dass es leer sei, obwohl sich die Bewohner noch darin befanden.
Solange das schlechte Gewissen besagte Feuerhexer nicht heimsuchte, waren sie sicher. Einen von ihnen hatte es dennoch erwischt, als die Schuld die dunkle Seuche in sein Herz rief.
Als Schattenleser war es Noahs Aufgabe, von der dunklen Seuche befallene Hexen zu befragen. Wenn sich diese einem Schattenleser offenbarten, konnte man erlöst werden, hieß es.
Deshalb war Noah den Schattenlesern beigetreten. Um sich selbst vor seiner größten Angst retten zu können. Aber seit er selbst dieser Elite der Unterwelt angehörte, wusste er, dass auch das nichts weiter als eine Lüge war. Eine Lüge, um straffällige Hexen geständig zu machen. Es gab keine Möglichkeit, die dunkle Seuche aufzuhalten.
Weder die Handschuhe noch die Runenkette um seinen Hals vermochten es, ihn vor der dunklen Seuche zu schützen, das wusste er. Aber Ängste waren nicht rational, weshalb sollten es
also ihre Gegenmaßnahmen sein?
,,Ich wusste gar nicht, dass du so sentimental bist." Nichts, was Emily sagte, klang jemals spöttisch, aber Noah kannte sie gut genug, um zu wissen, dass es so gemeint war. Ihr Blick haftete
an dem leeren Fleck hinter ihm, an dem einst das Gemälde seines Vaters gehangen hatte. Vor dem Fall des Würfels.
Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, dabei war es gerade einmal zwei Wochen her, seit Lu in seinen Armen gestorben war. Vierzehn Tage.
,,Dinge sind, wie sie sind", wich Noah Emily aus und lehnte sich in seinem alten Ledersessel zurück.
,,Gibt es Neuigkeiten?"
,,Auch heute nichts von Interesse." Emily ließ eine Haarsträhne durch ihre schlanken Finger gleiten.
,,Der Rat ist noch zu keiner
Einigung gekommen. Sir Craig sitzt im Gefängnis und verweigert
die Kooperation." Ein netter Ausdruck dafür, dass er gefoltert wurde, um Informationen über die Caradain auszuspucken. Jene abtrünnige Gruppe, die lange nur als Mythos gegolten, sich aber bei der Jagd nach Talus als reale Bedrohung entpuppt hatte.
,,Äußerst bedauerlich." Mit einem Seufzen massierte Noah sich die Schläfen. Das warme Leder der Handschuhe glitt geräuschlosüber seine Haut.
,,Und Talus?"
,,Noch immer sicher unter Verschluss." Emily hob einen Mundwinkel.
,,Wie gewünscht war ich zum vierten Mal im Gefängnis, aber auch die heutigen Wachen sagten nur, Talus sei in Sicherheit und das wäre alles, was wir wissen müssten. Und wenn du mich fragst, haben sie vollkommen recht. Ich kann nicht länger jeden Tag umherlaufen und Fragen stellen, auf die wir sowieso keine Antworten erhalten. Dein und mein Interesse
an dem Würfel wird uns noch als Gier ausgelegt werden. Ich weiß, dass du unbedingt wissen möchtest, wo der Würfel ist, aber denkst du wirklich, dass meine Undercover-Befragungen
irgendetwas zutage bringen? Wenn der Rat schweigen will, schweigt er."
Noah brummte.
,,Es macht mich nervös, dass ich nicht weiß, wo sie ihn lagern. Wenn ich wenigstens sein Versteck kennen würde, wäre ich viel aufmerksamer und könnte dort entsprechend Wache halten, oder …" Er hielt kurz inne, denn sein Plan war noch nicht ausgereift. Genau genommen wusste er nicht, was er tun sollte, sobald er vom Versteck des Artefakts erfuhr.
Aber es nicht zu kennen, war für ihn unerträglich. Es fühlte sich an, als lauerte in den Tiefen der Unterwelt ein Ungeheuer, und er wüsste nicht einmal, in welche Richtung er blicken musste, um ihm im Kampf gegenüberzutreten.
,,Nach allem, was Talus angerichtet
hat, sollte er nicht irgendwo lange rumliegen, sondern schnellstmöglich zerstört werden."
,,Wenn der Rat dies so entscheidet, wird es geschehen." Emily lehnte sich leicht nach vorne, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das spitze Kinn auf den Händen gebettet.
,,Wegen Sir Stewart … deinem Vater … Auch hier gibt es nichts Neues. Er bleibt verschwunden."
Noah drehte den Kopf zur Seite, um ihrem Blick auszuweichen, denn er hasste es, dass die Hexen ihn seit dem Fall des Würfels so ansahen. So...mitleidig.
Als Schattenleser war er Teil der mächtigsten Eliteeinheit der Unterwelt. Er war Ehrfurcht gewohnt. Respekt. Angst. Aber er brauchte kein Mitleid. Von niemandem. Was er brauchte, konnte ihm niemand geben: die Erlösung von seinem schlechten Gewissen. Und die Antwort darauf, wohin sein Vater verschwunden
war. Weshalb er sie einfach verlassen hatte.
,,Verstehe" antwortete er, als die Stille zwischen ihnen unerträglich wurde.
Emily hob leicht die Augenbrauen.
,,Willst du heute endlich darüber reden, was du wirklich denkst?"
Noah kniff die Lippen zusammen. Ein Teil von ihm wollte Emily alles erzählen. Wollte ihr sagen, wie der Fall des Würfels seine Familie zerstört hatte. Aber sein Stolz stand ihm im Weg
und verhinderte, dass er seine Gefühle in Worte fasste. Stattdessen sagte er
,,Ich werde mich der Entscheidung des Rates beugen."

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