Kapitel 5

Marco

Mit einem Handtuch um die Hüfte gebunden gehe ich von den Duschen zu meinem Platz in der Umkleide und rubble mir meine Haare trocken. Irgendwie ist heute ein Scheißtag. Yvonne musste Elaine heute vom Kindergarten abholen, weil ich es mal wieder nicht geschafft habe. Ich weiß, dass meine Familie mir gerne unter die Arme greift, doch hörte sich Yvonne vorhin ziemlich genervt an, als ich sie am Telefon fragte, ob sie Elaine aus der Krippe abholen könnte. Es bricht mir das Herz, dass ich mein Kind in die Krippe geben muss. Und das nur, weil ich mich nicht gegen meine Karriere entschieden habe, die eh nicht wirklich vorangeht. Wie denn auch? Ständig eine Verletzung nach der anderen. Ich denke, dass es daran liegt, dass ich oft unkonzentriert bin und dann nicht mitbekomme, oder sogar ignoriere, wenn ich zum Beispiel meinen Fuß zu sehr belaste. Erst bin ich vor zwei Jahren nicht zur WM mit, weil ich verletzt war und vor allem weil Elaine gestorben ist und dieses Jahr sieht es mit der EM auch nicht viel besser aus. Zwar bin ich fit, aber nicht zu sehr belastbar. Und dann habe ich nichts bei einem so großen Turnier wie der EM im Kader zu suchen. Noch bin ich drin, aber ich denke, dass ich nach dem Trainingslager auch wieder nach Hause fahren kann anstatt nach Frankreich. Aber was soll's. Dann kann ich dafür den Sommer mit meiner Tochter verbringen und viel mit ihr unternehmen. Vielleicht fliege ich ja auch mal mit ihr in den Urlaub. Ob sie das schon hinbekommt? Immerhin ist sie erst zwei. Ist Fliegen da schon so eine gute Idee? Na mal sehen. Vielleicht geht es auch einfach nur an die Ost- oder Nordsee.

"Marco, dein Handy klingelt in einer Tour.", sagt Auba leicht genervt von meinem Klingelton. "Oh.", gebe ich irritiert von mir und hole mein Handy aus meiner Trainingstasche. Es ist Yvonne. Wieso ruft sie mich an? Sie weiß doch, dass ich Training habe. "Ja?", gehe ich unsicher ran. Vielleicht ist etwas mit Elaine? Ist sie vielleicht krank? "Marco, endlich!", schluchzt meine Schwester. "Yvy? Was ist los?" Ich setze mich hin und runzle die Stirn. "W-wir waren in der Stadt und wollten mit den Kindern ein Eis essen. Auf dem Weg zurück zum Auto haben ich jemanden getroffen, den ich kannte und habe Elaine eine Sekunde nicht im Auge gehabt und dann war sie plötzlich weg. Ich konnte sie nicht mehr wieder finden, ich weiß nicht, wo sie hin ist. Alles habe ich abgesucht, aber sie war nirgendwo.", weint sie hysterisch. "Wie jetzt? Elaine ist weg?", "Ja." Mein Herz bleibt stehen. Meine Tochter ist weg. "Ich war schon bei der Polizei und sie suchen Elaine schon seit einer Stunde. Aber bis jetzt haben sie sie noch nicht gefunden. Es tut mir leid, Marco. Ich wollte das nicht. Es war nur eine Sekunde. Sie muss weggelaufen sein." Ich lasse mein Handy sinken und starre an die Wand mir gegenüber. Meine Tochter ist verschwunden. Ganz allein da draußen. Was ist, wenn jemand sie entführt hat? Oh Gott, meine Prinzessin. "Marco? Alles klar?", fragt Mats verwirrt und mustert mich. In der Kabine ist es still geworden, man hört lediglich Yvonne am Telefon weiterreden. "Meine Tochter ist verschwunden.", flüstere ich. Mats sieht. Mich entsetzt an. "Wie verschwunden?" Wütend springe ich auf und werfe mein Handy gegen die Wand, woraufhin es in tausend Teile verspringt. "Weg halt! Yvonne hat nicht aufgepasst!", brülle ich ihn an. Vor Verzweiflung, vor Angst, vor Wut. "Hey, beruhige dich.", "Beruhigen? Meine zweijährige Tochter ist ganz allein da draußen und du sagst zu mir, dass ich mich beruhigen soll?" Wutentbrannt ziehe ich mich schnell an und schmeiße mein Zeug in meine Trainingstasche, um ganz schnell die Kabine zu verlassen. Als ob die Polizei sie ausreichend sucht. Wenn sie Elaine nicht innerhalb der nächsten zwei Stunden finden, dann geben die doch eh auf. "Herr Reus!", ruft jemand und kommt über den Parkplatz gehechtet. Er ist einer der Securitymännern. "Ich habe jetzt keine Zeit.", gebe ich ihm zu verstehen. "Aber am Tor ist ein Mädchen, das Ihre Tochter gefunden hat. Zumindest glaube ich, dass es Ihre Tochter ist." Ich halte in meiner Bewegung inne und drehe mich langsam zu ihm um. Habe ich das gerade richtig verstanden? "Was haben Sie gesagt?", frage ich zur Sicherheit noch einmal nach. "Kommen Sie bitte mit. Die junge Frau steht mit der Kleinen vor dem Tor und wartet." Ich lasse augenblicklich meine Trainingstasche fallen und renne zum Tor. Ein knapp bekleidetes Mädchen - ich schätze sie auf neunzehn oder zwanzig - steht dort und hält meine Tochter im Arm. Natürlich ist das Elaine. Das erkenne ich sofort. "Elaine! Was machst du denn für Sachen? Wo warst du?", frage ich meine kleine Prinzessin und nehme sie dem Mädchen ab. "Papi.", wimmert mein Schatz und kuschelt sich an mich. "Wo war sie?" Das Mädchen sieht mich eine Weile lang schweigend an. Sie macht einen ziemlich kränklichen Eindruck. Ihre Haut ist blass, ihre Beine sind ziemlich dünn und unter ihren Augen sind tiefe, dunkle Augenringe. "Ich habe sie in der Stadt gefunden. Sie war ganz allein und hat geweint. Sie konnte mir nicht sagen, wie Sie heißen, doch dann hat sie Sie im Schaufenster gesehen und mir gezeigt, dass Sie ihr Papa sind. Naja, ich habe leider kein Handy, sonst hätte ich die Polizei benachrichtigt. Aber ich wusste eben, dass das Trainingsgelände hier ist und habe gehofft Sie hier anzutreffen." Ich nicke dankbar. "Du darfst doch nicht weglaufen, Schatz. Tante Yvy hat sich ganz doll Sorgen gemacht und ich auch." Elaine vergräbt ihr Gesicht an meinen Hals und wimmert. "Alles gut, Prinzessin. Jetzt bist du ja wieder da.", seufze ich erleichtert. "Sie hatte eine volle Windel. Ich habe ihr im Rossmann eine neue Windel angezogen, aber ich habe etwas Bedenken wegen der Größe. Sie könnte etwas klein sein. Sie sollten ihr also lieber eine neue anziehen. Nicht, dass sie sich sonst etwas aufscheuert oder die Windel sich in die Haut einschneidet." Ich nicke perplex und sehe das Mädchen weiter an. Sie hat etwas an sich, was mich fasziniert. Nur weiß ich nicht was. "Ich werde dann mal gehen.", flüstert sie leise. Noch immer perplex nicke ich erneut und sie dreht sich um, um zu gehen. "Hab lieb, Papi.", sagt Elaine und drückt mich. "Ich habe dich auch lieb, Schatz. Aber du darfst nie wieder weglaufen, in Ordnung?" Sie nickt artig und lehnt sich in meinem Arm zurück. "Was hast du denn da?", frage ich und zeige auf die zarte silberne Kette. Sie sieht runter und grinst. "Hast du die von dem Mädchen?" Sie nickt mit großen Augen. "Ach Schatz. Wir müssen sie ihr wiederge-", will ich sagen, doch das Mädchen ist weit und breit nicht mehr zu sehen. Wo ist sie so schnell hin?

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