23 ~ Wieder vereint (1)
Da ich den restlichen Morgen und Mittag noch mit meinen Eltern verbracht hatte, war es, als Shawn mich am Schulgelände absetzten schon stockdunkel und kalt. Bibbernd und in meine warme Jacke gekuschelt huschte ich über den Waldboden, der unter meinen Schritten knirschte. Anstatt Freude verspürte ich nur ein dumpfes Gefühl in der Magengegend, das mit jedem Schritt schwerer wurde. Zusätzlich wehte ein kalter Wind, der mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte und mich erzittern ließ. Mit klappernden Zähnen schlang ich meine Arme fester um mich.
Ich fühlte mich unwohl. Sehr unwohl. Mein Herz begann heftig in meiner Brust zu pochen und mir fiel es schwerer zu Atmen. Weiße Kondenzwolken bildeten sich vor meinem Mund und irgendwo in der Ferne ließ eine Eule ihr schauriges Geheul ertönen.
Dann spürte ich diese Blicke. Ein Brennen zwischen meinen Schulterblättern, das mich aufkeuchen ließ. Angst kroch mir wie die Kälte die Beine hoch und ließ mich erstarren, während mein Verstand verzweifelt versuchte dem entgegenzusteuern.
Ich war alleine hier.
Niemand würde mich beobachten.
Es war absolut ungefährlich.
Mehr als einmal sagte ich mir diese Sätze im Kopf auf, doch es half nicht. Ich wusste, dass ich mich selbst belog und es nicht einmal glaubte. Mit aller Kraft versuchte ich die Illusion einer heilen Welt aufrechtzuerhalten, doch es gelang mir nicht. Ich musste der Wahrheit ins Auge sehen!
Also zwang ich mich, weiterzugehen, um, so schnell wie möglich ins Innere zu gelangen, wo ich vorerst sicher sein würde. Es graute mir zwar schon davor, mit Yasmin und Hannah ein Zimmer teilen zu müssen, aber auch da musste ich durch. Je früher ich unsere Freundschaft beendete, desto sicherer wäre es für sie.
Je näher ich der warmen Lichtquelle kam, desto leichter fiel es mir, voranzukommen. Schon bald hatte ich das hell erleuchtete Hauptgebäude erreicht und stürmte eilig hinein.
Ein erleichtertes Seufzen entfuhr mir, als die wohlige Wärme meine Wangen liebkoste. Das unruhige Gefühl von vorhin hatte sich in Luft aufgelöst und wurde nun von einem Gefühl der Sicherheit ersetzt. Zumindest solange, bis ein dunkler Schatten hinter einer Ecke hervorsprang und mir einen grellen Schrei entlockte.
Kristallklare, blaue Augen starrten in meine. Ich wollte mich bewegen, doch meine Füße waren wie am glatten Boden festgefroren.
"Hast du mich vermisst, Kleine?", sprach die Person mit tiefer, aber samtener Stimme zu mir.
Und ich - ich erkannte die Stimme.
Louis.
Dieses verfluchte Arschloch. Was erlaubte er sich eigentlich?
Erleichterung stieg in mir hoch. Dann Wut. Ohne dass ich es bewusst steuern konnte, spannte mein Körper langsam sämtliche Muskeln an. Das Blut, das in meinen Adern floss, begann gefährlich zu kochen. Wie flüssiges Feuer wärmte mich von innen, während ich unruhig ein und ausatmete und versuchte, mich selbst wieder unter Kontrolle zu kriegen. Doch meine Wut siegte über meinen Verstand.
Es klatschte unangenehm. Jemand schrie, mehr aus Überraschung, als aus Schmerzen auf.
"Sag mal spinnst du, Vera?", schrie der eben noch so ruhige Junge mich fassungslos an und hielt sich fluchend seine Wange. Mit Befriedigung erkannte ich, dass diese mittlerweile einen flammenden Rot-Ton angenommen hatte, der dem Feuer, das in mir tobte, nicht unähnlich war.
"Erschrick mich nie wieder so - verstanden?", spuckte ich ihm mit eiskalter Miene entgegen. "Sonst -" Ich ließ die Drohung ins Leere laufen, konnte es mir aber nicht verkneifen, meine brennende Hand zu heben, die davon zeugte, dass die Ohrfeige keineswegs von schlechten Eltern gewesen war. Ich konnte nur hoffen, dass die Schmerzen ihn das eben Gesagte noch so bald nicht vergessen lassen würden.
Er nickte verständnisvoll bevor er wieder sein selbstgefälliges Grinsen aufsetzte.
"Hast du mich nun vermisst, oder nicht?", meinte er und steckte seine Hände lässig in seine Hosentaschen als wäre nie etwas gewesen. Nur der blassrote Abdruck meiner fünf Finger zierte noch seine Wange, was mir ein gewisses Maß an Genugtuung verschaffte.
"Geht so", antwortete ich ihm mit einem Schulterzucken und ging neben ihm her.
"Nicht mehr?" Fast glaubte ich, etwas wie Enttäuschung in seiner Stimme zu hören.
"Nicht mehr und nicht weniger."
"Schade." Er zwinkerte mir zu, was ein warmes Gefühl in meinem Magen hervorrief.
Dann verfielen wir beide wieder in ein Schweigen. Ich, weil ich nicht reden wollte und er, weil er scheinbar spürte, dass ich keine Lust hatte zu Reden. Er wusste, wenn ich Lust dazu hatte, würde ich mit der Sprache rausrücken. Nur Druck durfte er mir nicht machen.
So gingen wir eine Weile nebeneinander her, bis ich sanft an seiner Schulter rüttelte.
"Wohin gehen wir?", fragte ich ihn leise.
"Spazieren", war seine sehr unbefriedigende Antwort, für die ich ihm gerne noch eine geknallt hätte.
"Hast du sie noch alle?", fuhr ich ihn an und blieb abrupt stehen. "Was ist, wenn uns jemand erwischt?" Wütend funkelte ich ihn an.
"Krieg dich wieder ein", meinte er und strich sich seelenruhig eine braune Locke aus der Stirn, als wäre das das Wichtigste auf der Welt. "Ich bring dich nur hoch. Uns wir niemand sehen - außer du schreist weiterhin wie eine Furie herum." Er grinste besserwisserisch.
Hach, wie gerne ich ihm gerade den Hals umdrehen würde, es juckte mich förmlich in den Fingern! Und doch hielt ich mich zurück und bedachte ihn lediglich mit einem bitterbösen Blick, der nichts anderes als "Halt deine Klappe", bedeutete.
Er hob beschwichtigend seine Hände. "Schon gut, schon gut. Du willst nicht aus der Schule fliegen, ich hab's verstanden."
"Na also. Geht doch!" Zufrieden wandte ich mich ab und wollte gehen, doch sein Arm schnellte vor und zog mich in den Schatten einer Tür.
"Warte." Ich wollte protestieren, doch eine raue Hand schob sich über meinen Mund, sodass ich keinen Laut mehr von mir geben konnte. Stattdessen mmpfte ich ihn wütend an und versuchte mich aus seinem eisernen Griff zu befreien. Natürlich gelang mir dies nicht. Er war zu stark.
"Sei ruhig, da ist jemand", flüsterte er mir ins Ohr.
Sein warmer Atem streifte meine Wange, woraufhin ich schauderte. Eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus.
Aus dem Augenwinkel erkannte ich, wie eine Tür, unweit von uns, geöffnet wurde. Helles Licht trat in den dunklen Flur und erhellte ihn.
"Wer ist da?", fragte die Person, die ich als Mädchen identifizieren konnte, harsch in die Dunkelheit hinein. Sie blickte zuerst nach links, dann nach rechts.
"Halloho?" Ihre Stimme klang weder unsicher, noch ängstlich, sondern eher genervt und verärgert.
Ich spürte, wie Louis sich neben mir versteifte und die Hand auf meinem Mund immer fester zudrückte, was er aber scheinbar nicht einmal zu bemerken schien. Warnend trat ich ihm leicht gegen das Schienbein, was ihn überrascht nach Luft schnappen ließ. Schlauerweise beließ er es bei einem bösen Blick, den ich mit einem zuckersüßen Lächeln abtat, und lockerte den Griff, ließ aber noch nicht von mir ab. Die Person im Licht der geöffneten Tür hatte wieder seine Aufmerksamkeit erlangt.
"Zeigt euch, ihr Feiglinge", rief sie, jetzt etwas angriffslustiger, und stampfte mehrmals mit dem Fuß auf. "Oder habt ihr etwa Angst?" Sie gab ein schrilles Kichern von sich. "Braucht ihr doch nicht, ich bin doch ganz lieb! Kommt zu Mami!"
Ohne länger abzuwarten, machte sie auf dem Absatz kehrt und knallte ihre Tür hinter sich zu. Der Laut hallte durch den gesamten Flur. Uns blieb nur zu hoffen, dass niemand es gehört hatte - denn sonst hätten wir gleich ein ziemlich fettes Problem.
"Kann ich dich loslassen, ohne dass du mich an Ort und Stelle umbringst?", meinte Louis verlegen, als er sicher war, dass alles still blieb und löste seine Hand von meinem Mund ohne auf meine Antwort zu warten.
"Ich kann für nichts versprechen." Schelmisch lächelnd boxte ich ihm ein paar Mal in den Oberarm, was ihm wahrscheinlich weniger weh tat als mir. Wehmütig strich ich über meine schmerzenden Knöchel.
"Pf. War das schon alles?", konnte er es nicht lassen, mich zu necken.
"Noch lange nicht", antwortete ich schlagfertig und wollte ihm gerade eine Kopfnuss verpassen, als die Tür erneut aufgestoßen wurde, und das Mädchen diesmal raus in den Flur stürmte.
"Na sieh mal einer an", meinte sie zuckersüß und klimperte auffällig mit ihren dichten Wimpern während sie eine ihrer goldblonden Korkenzieherlocken um den Finger wickelte. "Louis. Was machst du denn hier?" Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und wandte sich dann mir zu.
"Igitt - ungepflegtes Haar, dreckige Klamotten - und mit sowas gehst du aus? Pfui!" Angeekelt rümpfte sie die Nase und bedachte mich mit einem so mitleidigen Blick, dass ich ihr am Liebsten in ihr perfekt symmetrisches Gesicht geschlagen hätte.
Was dachte sie sich bloß dabei, so über mich zu reden, während ich daneben stand? Sie hielt sich wohl für was viel besseres!
Von Ekel erfüllt wollte ich zu einer bissigen Antwort ansetzen, doch Louis kam mir zuvor.
"Es hat dich einen Dreck zu interessieren, mit wem ich meine Zeit verbringe, Samantha", brachte Louis ihr hasserfüllt entgegen. Das Beben, das ich in seiner Stimme raushören konnte, übertrug sich auf seinem Körper und ließ ihn vor Wut zittern.
"Und nur damit du's weißt, ich kann selbst entscheiden, was gut für mich ist und was nicht!"
Seine Hände verkrampfen sich und formten sich zu Fäusten. "Nur soviel: Du bist es definitiv nicht!"
Das Mädchen uns gegenüber zog eine Schnute, bevor sie zum nächsten Schlag, ausholte. "Sag mal Liebster", fuhr sie ungerührt weiter. "Ist das nicht diese kleine Mörderin? Verena, oder wie hieß sie nochmal?" Ihre prallen Lippen verzogen sich zu einem süffisanten Lächeln, als sie erkannte, dass der Satz die gewünschte Wirkung erzeugte.
"Sie. Ist. Keine. Mörderin. Verstanden?"
Louis' Stimme klang als bestünde sie aus Eis, doch ich spürte, dass in ihm Feuer tobte. Sein Gesicht glühte vor Wut. Ich wusste, dass er kurz davor stand, die Beherrschung zu verlieren und Samantha in tausend Fetzen zu zerreißen, also beschloss ich einem spontanen Impuls zu folgen.
Mit klopfendem Herzen nahm ich seine Hand in meine und drückte sie kurz.
"Lass sie", flüsterte ich ihm zu. "Sie ist es nicht wert."
Als ich sicher war, dass er sich wieder beruhigt hatte, ließ ich ihn wieder los, meine aufgewühlten Gefühle ignorierend.
"Komm wir gehen", murmelte ich leise und schob ihn weg von dem Mädchen, das mich versuchte, mit ihren Blicken zu erdolchen.
Es widerstrebte mir zwar, die Rechnung offen stehen zu lassen, aber für Louis war es jetzt das Beste. Eigentlich Schade, denn ich hätte ihr das selbstgefällige Grinsen nur zu gerne aus dem Gesicht gewischt.
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