22 ~ Nachricht aus dem Nichts (1)
"Wenn ich es dir doch sage", wiederholte ich zum gefühlt hundertsten Mal meine Worte. "Verflucht, ja! Er lag direkt neben mir auf dem Boden."
Ein tiefes Seufzen entwich mir, als ich die auferegten Stimmen am anderen Ende der Leitung hörte.
"Natürlich bin ich mir sicher, dass er nicht schon länger da gelegen hat. Oder glaubt ihr, dass ich mir Sachen so in den Weg lege, dass ich am nächsten Morgen darüber stolpere." Ich holte tief Luft, um mich zumindest etwas zu beruhigen. "Bevor ihr fragt - ich bin ausgerutscht und bevor ich auch nur "Piep" sagen konnte lag ich der Länge nach auf dem Boden. Ob ihr's glaubt oder nicht - Das hat ganz schön weh getan!"
Bei der Erinnerung an den unsanften Kontakt mit dem Boden rieb ich mir mit meiner freien Hand das rechte Knie, das immer noch dumpf pochte. Als meine Finger eine Stelle berührten, die sich schon leicht ins blau-grünliche verfärbte, zuckte ein stechender Schmerz durch meinen gesamten Körper, was mich gepeinigt aufzischen ließ. Das würden schöne blaue Flecken geben! Morgen würde meine Haut sicherlich in allen Regenbogenfarben leuchten. Mann, wenn mich jemand so sähe, würde der noch denken, dass ich regelmäßig verprügelt werde, oder so!
Mehr aus Frust als aus Schmerz stöhnte ich auf und vergrub meine Finger in dem dicken Daunenkissen, das neben mir lag.
"Naja so oder so, ich bin mir jedenfalls ziemlich sicher, dass es nicht schon länger dort liegt. Ich mein, ein solch dreckiges Stück Papier würde mir ja wohl auffallen, oder etwa nicht?" Ohne eine Antwort abzuwarten, fur ich mit meinem Monolog fort. "Als ich eingeschlafen bin, lag noch nichts neben meinem Bett. Aber heute morgen schon. Was schließen wir also daraus? Genau - es muss in der Nacht hereingekommen sein."
"Hm ... ja", bestätigte Yasmin meine Überlegung.
Da das Telefon ihre Stimme sonderbar dumpf und verzerrt klingen ließ, konnte ich mir kein Bild davon machen, was sie gerade wirklich empfand.
"Die Sache ist bloß die ...", murmelte sie nach einigen stillen Sekunden, in denen ich mir schon beinahe sicher war, dass sie nachdenklich an die Wand gestarrt hatte. "Mysteriöse Zettel tauchen nicht einfach so auf. Jedenfalls nicht alleine."
"Du meinst, jemand hat ihn mir dorthin gelegt?"
"Gut möglich." Als säße ich neben ihr, sah ich ihr ernsthaftes Nicken vor mir.
"Nicht dein Ernst!"
Um ein Haar hätte ich laut aufgelacht, doch der Gedanke daran, dass sie wahrscheinlich nicht ganz unrecht hatte, ließ mich innehalten. Meine Blick wanderte zu dem geöffneten Fenster, das ich gestern Abend vor dem Schlafengehen nicht geschlossen hatte. Da mein Zimmer sich auf dem zweiten Stockwerk befand, hatte ich das stets für unnötig gehalten. Nie hatte ich auch nur einen einzigen Gedanken an Einbrecher verschwendet. Wozu auch? Ich war stets der Meinung gewesen, dass es zu hoch für normale Menschen sei. Für normale.
Wie konnte ich nur so unvorsichtig sein? Es war doch durchaus möglich, dass die Person nicht menschlich, sondern wie ich ein mächtiger Magesti mit magischen Gaben war!
Plötzlich lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Die Luft, die durch das Fenster eintrat, war nicht länger frisch, sondern eiskalt. Die feinen Härchen auf meinen nackten Armen stellten sich auf. Ich erzitterte. Schweißtropfen traten mir auf die Stirn. Nicht weil mir so warm war, sondern aus Angst.
"Oh", war alles was ich mit schwacher Stimme herausbrachte.
Obwohl meine Beine protestieren, stand ich nach einigen Schwierigkeiten auf und tapste zum Fenster, das ich, nicht ohne nach unten zu gucken, schloss. Dann setzte ich mich an meinen Schreibtisch, wo ich den zerknüllten Zettel aus meiner schweißnassen Hand nahm und ausbreitete.
Ich erstarrte, als ich blutrote Farbe auf dem Papier entdeckte. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Mit pochendem Herzen strich ich über den feuchten Zettel, bis er geglättet vor mir lag und sich in seiner ganzen Pracht offenbarte. Das rot waren keine Farbkleckse - sondern sorgfältig geschriebene Buchstaben. Buchstaben, die Wörter ergaben. Wörter, die Sätze bildeten. Ich versuchte sie zu entziffern, doch das Geschriebene verschwamm vor meinen Augen zu einem Klecks Rot, das ich wie gelähmt anstarrte.
"Blut." Meine Stimme war kaum mehr ein Hauchen, als ich das verhasste Wort aussprach.
Das Einzige an das ich noch denken konnte, war diese übelkeitserregede Flüssigkeit, deren tiefrote Farbe mich an Samt denken ließ.
Der metallische Geruch. Der Lebenssaft, der uns allen Leben schenkte. Tropfen die im Licht wie tausend Rubine funkelten. Doch all das wollte ich nur zu gerne vergessen.
Je mehr ich es jedoch versuchte, desto klarer wurden die schrecklichen Bilder in meinem Kopf. In die Leere starrende, trübe Augen. Angstvolle Blicke, zum Schrei aufgerissene Münder, überall war Blut.
Sophie, Name, Name - jetzt waren sie alle tot. Wegen mir. Zumindest indirekt.
Blut. Alleine schon das Wort ließ nichts gutes erahnen. Für mich war es nichts anderes als ein Vorbote des Todes. Alle anderen Bedeutungen hatten ihren Wert verloren.
Der Tod war alles was blieb.
Meine Finger zitterten als ich mein Handy neben den Zettel, der keineswegs gewöhnlich-sondern eine gezielt an mich gerichtete Warnung war-legte. Halb blind vor Schuldgefühlen tastete ich nach dem Schalter der kleinen Lampe, die auf dem Schreibtisch stand. Mir war übel. Sehr übel.
Aus dem Handy drang Yasmins aufgeregte Stimme, doch ich blendete sie einfach aus. Stattdessen konzentrierte ich mich auf das Geschriebene auf dem Papier. Sollte sie doch wie ein Tiger gefangen in seinem Käfig auf und abgehen und Hannah in den Wahnsinn treiben - mir war es gleich.
"Deine Freundinnen sind in Gefahr - denk an Cirithia!", las ich mit brüchiger Stimme, um mir kurz darauf vor Schreck die Hände vor den Mund zu schlagen. "A. E." Das Wort blieb mir fast in meiner trockenen Kehle stecken. Kaum mehr als ein Krächzen drang daraus hervor.
Sie war wieder da. Unser mysteriöser Nachrichtenschreiber war wieder da.
"Oh nein", flüsterte ich vor mich hin. Der Schock saß mir noch tief in den Knochen. "Was willst du bloß von mir? Verschwinde!" Erschöpft sackte ich in mich zusammen. Den Zettel schob ich so weit weg wie möglich. Am Rande meiner Wahnehmung, hörte ich mehrere Stimmen, die wild durcheinander riefen.
"Verschwinden? Wer soll verschwinden?"
"Hallo, Vera, bist du noch da?"
"Ich? Warum sagst du sowas?"
"So antworte doch!"
"Verdammt, was ist los?"
"Wer zur Hölle ist Cirithia?"
"Verena Evans. Antworte doch!"
Yasmin. Hannah. Das Telefon.
Ich musste aus Versehen die Lautsprechertaste gedrückt haben! Sie hatten also alles mitangehört. Ich wollte sie nicht da mit hineinziehen, aber A.E. hatte eindeutig von ihnen gesprochen. Wer sonst sollten "Meine Freundinnen" sein?
Obwohl sich alles in mir dagegen sträubte, wusste ich, dass es nur das Richtige wäre, ihnen die Wahrheit zu erzählen und nicht irgendein Lügenmärchen aufzutischen. Zu ihrer eigenen Sicherheit. Sie hatten das Recht auf die Wahrheit - auch wenn sie ihnen nicht gefallen würde. Wenn ich diese Nachricht verschweigen würde, wäre das am Ende mehr schädlich als hilfreich. Immerhin ging es hier um ihr Leben. Und wenn unser großer Unbekannter das sagte, dann stimmte es auch. Bis jetzt hatte er noch nie gelogen.
Also schluckte ich die letzten Zweifel herunter und griff, mit immer noch zitternder Hand nach dem leuchtenden Gerät.
"Verena Evans am Aparat. Was kann ich für euch tun?", witzelte ich schwach, da ich mich noch nicht dazu bereit fühlte, ihnen von der Warnung zu berichten.
"Deine Stimme sagt mir, dass irgendwas ganz und gar nicht stimmt", bemerkte Yasmin spitz. "Was ist vorgefallen - na los - raus damit!"
"Bitte, sag uns was passiert ist", fügte Hannah sanfter hinzu. "Sonst können wir dir auch nicht helfen."
Ich zögerte einen Moment und zupfte nervös an meiner Unterlippe herum, bevor ich mir ein Herz fasste und begann ihnen alles ausführlich zu schildern.
Als ich beendet hatte, ließ Yasmin ein leises "Wow", verlauten. "Du willst also sagen, dass dieser Psychopath von A. E. dich bis nach Hause verfolgt hat und dort eingebrochen ist, nur um dir diesen einen Zettel unterzujubeln? Einfach nur krank. Was ist denn so wichtig an diesem Papierfetzen, dass er das alles auf sich genommen hat? Es ist ganz klar eine Warnung an uns, aber wer zum Teufel ist diese Cirithia?"
Ich nickte bestätigend bevor mir einfiel, dass sie das ja gar nicht sehen konnte. Deshalb fügte ich noch ein "Jap", dazu. Da ich ihnen die Bürge des Geheimnisses des Ring-Dolches, aka Cirithia, nicht auch noch aufhalsen wollte, beschloss ich diese Frage nicht ganz so ehrlich zu beantworten.
"Ehrlich gesagt - ich habe keine Ahnung wer das sein sollte. Den Namen hab ich auch noch nie gehört. Und wer ist überhaupt so bescheuert und hat sich diesen Namen ausgedacht? Der konnte doch nicht ganz bei Sinnen gewesen sein, oder?"
Um meine überzeugende Aussage noch zu unterstreichen, lachte ich einmal laut auf, ganz so als würde ich mich wirklich darüber lustig machen. Was natürlich nicht der Fall war! Normalerweise war ich keine allzu gute Lügnerin, aber da wir nur über das Handy miteinander redeten, war es schwierig bis beinahe unmöglich, dies herauszufinden.
"Was ist daran lustig Vera?", meldete sich Hannah besorgt zu Wort. "Diese Person weiß genau, wo du wohnst! Das ist kein Spiel .. das ist ernst!"
"Genau", bestätigte Yasmin ihre Aussage.
"Du musst wieder zurück ins Internat. Dein Zuhause ist nicht länger sicher."
Ihr Atem ging schwer, als sie geendet hatte, doch ich ließ mich nicht beirren.
"Was wenn ich aber hierbleiben will?", fragte ich patzig zurück. "Ich lass mich doch nicht von so einem ins Bockshorn treiben."
Ich stieß ein verachtendes Schnauben aus und kniff die Augen zusammen.
"Aber die Sache ist wirklich ernst. Er könnte -", begann Yasmin fast schon verzweifelt, bevor ich sie unterbrach.
"Er könnte was? Zu meinem Fenster hineinklettern und mich im Schlaf ermorden?"
"Zum Beispiel." Ihre Stimme klang gefährlich ruhig, als wäre sie kurz vor dem Ausrasten und hätte sich noch gerade so unter Kontrolle. Ein Seufzen folgte, dann Stille. Ich konnte förmlich hören, wie Zahnräder in ihren Köpfen ratterten.
"Das ist doch Irrsinn!"
Ein süffisantes Grinsen schlich sich auf mein Gesicht. Meine Augen blitzten kurz auf.
Ich war mir sicher, gewonnen zu haben - sie überzeugt zu haben, dass ich hier bei meinen Eltern bleiben und nicht wieder zurück zu meinen Sorgen in die Schule wollte. Es war so viel einfacher hier zu sein und nicht von anderen Schülern gemieden, ausgeschlossen und in seltenen Fällen sogar beschimpft zu werden.
Meine Arme vor der Brust verschränkt wollte ich mich grade etwas entspannen, als meine Freundin sich doch wieder räusperte.
"Wir können dich nicht dazu zwingen", begann sie zögerlich. In ihrer Stimme war keine Spur Wut zu erkennen. Falls sie je kurz vor dem Ausrasten gestanden hatte, hatte sie es erfolgreich verdrängt oder wusste es einfach nur gut zu verbergen. "Aber denk mal nach. Wenn dir tatsächlich der Mörder von Sarah und den anderen gefolgt ist, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass er sich nicht an dir - oder noch schlimmer - an deinen Eltern vergreifen wird? Immerhin zeigt er gehäuftes Interesse an deinem Privatleben ... sonst hätte er dir ja nicht nachgestellt, oder?"
Ich wusste genau, dass sie gezielt dies gesagt hatte, doch es änderte nicht die Tatsache, dass das Gesagte seinen Zweck erfüllt hatte. Die Worte hatten mich getroffen und waren tief in mein Herz eingedrungen, in den Teil, in dem ich meine Familie aufbewahrte. Es schmerzte.
Meine Arme hingen nur noch schlaff an meiner Seite. Die gesamte Wut war wie durch ein Wunder verpufft.
"Ja", brachte ich kleinlaut hervor. "Ihr glaubt also, wenn ich wieder zurück kommen würde, würde diese kranke Person mir wieder folgen und meine Familie wäre somit außer Gefahr?"
"Mmh."
"Wären dann nicht vielmehr die Schüler in Gefahr?", hakte ich nach einigen Sekunden nach.
"Doch", gab sie ehrlich zu. Ich konnte richtig die Zweifel in ihrer Stimme hören. "Aber ist Familie nicht wichtiger als Freunde?" Sie brach ab.
Schockiert hielt ich den Atem an. Sie stellte mich vor die Wahl. Sie stellte mich tatsächlich vor die Wahl. Ob es mir lieber wäre das Todesurteil meiner Eltern oder meiner Freunde zu unterschreiben.
Wut kam in mir hoch, fraß sich wie kleine, züngelnde Flammen durch meinen Körper, bis dieser komplett in Flammen stand. Wut füllte mich aus, nahm meine Gedanken in Besitz und steuerte mein Bewusstsein.
"Wie könnt ihr es wagen, mir ein Ultimatum zu stellen. Ich werde - für niemandes Tod verantwortlich sein!"
Mit diesen Worten drückte ich die rote Taste in der rechten unteren Ecke des Bildschirms und schnitt den beiden aufgebrachten Mädchen das Wort ab. Vor Wut schnaubend knallte ich mein Handy auf den Tisch.
Während das flaue Gefühl in meinem Magen immer mehr abebbte, versuchte ich eine Antwort auf die Frage "Familie oder Freunde?" zu finden, ohne zu wissen, dass ich sie tief in mir drin schon lange getroffen hatte.
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